EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird am Mittwoch vor den EU-Parlamentariern seine vierte und letzte Rede zur Lage der Union halten. Im kommenden Jahr finden Europawahlen statt und es folgt eine neue EU-Kommission mit einem neuen Präsidenten. Wir blicken auf die Reden Jean-Claude Junckers zur Lage der Union der vergangenen Jahre zurück.
Im Spätsommer 2015 dominierte ein Thema in der EU: die sogenannte Flüchtlingskrise. Hunderttausende Menschen aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten hatten sich aus den Flüchtlingslagern aus der Türkei auf den Weg in Richtung Europa gemacht. Im Mittelmeer zwischen Italien und Nordafrika waren bis dahin seit dem Frühjahr mehr als 120.000 Menschen aus Seenot gerettet worden. Griechenland und Italien, die von den anderen EU-Staaten weitgehend allein gelassen wurden, waren mit den ankommenden Menschenmassen heillos überfordert.
Bereits im Mai hatte die EU-Kommission einen verbindlichen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge vorgeschlagen, dem die EU-Staaten im September unter luxemburgischem EU-Ratsvorsitz zustimmen sollten. Jean-Claude Juncker kritisierte denn auch am 10. September 2015 im Straßburger Plenum die Haltung der Europäer, denen es an «innerer Solidarität» fehle.
Ein Dauerthema …
Nur die Verteilung der Flüchtlinge allein könne das Problem lösen, betonte der Kommissionschef und forderte die EU-Staaten zum Handeln auf: «Nicht Rhetorik, sondern Aktion ist gefordert.» Die Flüchtlings- und Migrationspolitik bestimmte den größten Teil der ersten Rede Jean-Claude Junckers zur Lage der Union.
Manches, was er damals angekündigt hat, ist mittlerweile bereits umgesetzt, wie die Schaffung einer europäischen Grenz- und Küstenwache. Anderes wie die Schaffung legaler Wege für die Immigration nach Europa oder die Ausarbeitung einer gemeinsamen EU-Liste sicherer Drittstaaten, um Asylanträge aus diesen Ländern schneller behandeln zu können, lässt aber weiterhin auf sich warten.
Und obwohl seitdem mittlerweile viel weniger Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen ankommen, wird umso heftiger zwischen den 28 darüber gestritten, welches Land sich den Flüchtlingen annehmen soll. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik bleibt ein Dauerthema.
Die EU sei «in keinem guten Zustand», stellte Jean-Claude Juncker damals fest: «Es fehlt an Europa in dieser Union. Und es fehlt an Union in dieser Union.» Nach den Erfahrungen um das Brexit-Referendum hat sich zumindest hinsichtlich des letzten Satzes einiges geändert.
Der Ausgang der Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU vom 23. Juni 2016 bestimmte die Hauptbotschaften, die von Junckers zweiten Rede ausgehen sollten. Eine Union, die die europäische Lebensart bewahrt, die Europa verteidigt und stärkt, wurde da beschrieben.
Die Rede wurde im Vorfeld eines Treffens der EU-Staats- und Regierungschefs im slowakischen Bratislava gehalten, an dem erstmals kein britischer Regierungschef teilnahm. Datenschutz, Antidumpingmaßnahmen, um die europäische Stahlindustrie zu schützen, oder Steuerfairness, waren neben der Sicherheit und der Schaffung einer Verteidigungsunion nur einige Themen einer Rede, die mehr der Vorstellung eines Arbeitsprogrammes glich als der Bestandsaufnahme einer Union, die noch unter dem Schock der Brexit-Abstimmung stand. Ein Jahr später dann herrschte Aufbruchstimmung. In den Niederlanden gelang es dem Rechtspopulisten Geert Wilders bei den Wahlen nicht, seine Partei der Freiheit in eine Position zu bringen, in der sie an der Regierung beteiligt worden wäre. Und in Frankreich hatte Emmanuel Macron mit einem betont proeuropäischen Wahlkampf die Präsidentschaftswahlen gewonnen und dem befürchteten Aufstreben der rechtsextremen Marine Le Pen ein jähes Ende gesetzt.
… und Zukunftspläne
Noch bevor der neue Politstar an der Sorbonne seine viel beachtete Europa-Rede hielt, machte es ihm Jean-Claude Juncker vor. So manches, was der Franzose an der Pariser Universität an Reformvorschlägen vorbrachte, hatte der EU-Kommissionspräsident bereits Tage vorher vor den EU-Parlamentariern in Straßburg gefordert.
Bereits Monate zuvor hatte die EU-Kommission im Frühjahr zu verschiedenen Themen Reflexionspapiere (Wirtschafts- und Währungsunion, soziale Dimension, Verteidigung, Finanzen) sowie ein Weißbuch über die Zukunft der EU vorgelegt. Nach dem Treffen in Bratislava, wo sich die 27 auf ihre Einheit eingeschworen hatten, sollte die EU nun «von den günstigen Winden profitieren». Denn: «Europa hat wieder Wind in den Segeln», meinte Jean-Claude Juncker, wovon er profitieren wollte, um die Stoßrichtung für die Zukunft der EU festzulegen und mit einer positiven Agenda bis zum Ende seines Mandats zu gelangen.
Er wolle «dem europäischen Haus weitere Etagen beifügen», so der Kommissionspräsident. So plädierte er, wie später Macron, für die Einsetzung eines europäischen Wirtschafts- und Finanzministers, der ebenfalls Vorsitzender der Euro-Gruppe sein sollte. Ein eigenständiges Budget für die Eurozone lehnte Juncker allerdings ab und schlug stattdessen eine eigene Budgetlinie für die Eurostaaten im EU-Haushalt vor.
Jean-Claude Juncker sprach sich dafür aus, sowohl bei Fragen der Steuerpolitik als auch der Außenpolitik von Einstimmigkeits- zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Zudem sollten die Präsidentschaften der EU-Kommission sowie des Europäischen Rates fusioniert werden, meinte Jean-Claude Juncker vor einem Jahr. Allerdings ist der damals spürbare Elan bereits teilweise verpufft und die Reformideen wurden bislang noch nicht richtig angegangen. Heute wird der Luxemburger wohl eine erste vorläufige Bilanz seiner Amtszeit ziehen und letzte Aktionen seiner Präsidentschaft ankündigen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass er die EU jetzt in einem besseren Zustand sehen wird, als es das erste Jahr seiner Amtszeit der Fall war.
Ja, Herr Juncker, Sie sehen richtig: es ist fünf vor zwölf!