In seinem Essay „Warum hassen wir die Lyrik“ erforscht Ben Lerner die paradoxe Natur der Dichtkunst. Sich auf den Dichter Allen Grossman berufend schreibt er, es bestehe in der Dichtung „ein ,unlösbarer Konflikt‘ zwischen dem Verlangen des Dichters, eine alternative Welt zu singen“ und, wie Grossman es formuliert, ,dem Widerstand gegen ein alternatives Schaffen, der den Materialien innewohnt, aus denen sich jede Welt zwangsläufig zusammensetzt‘.“ Damit werde jedes Gedicht zur Manifestation eines Scheiterns und die Dichterin zu einer tragischen Gestalt. Lerner zufolge kann ein lyrischer Text also nicht gelingen, weil der Autor das, was er sagen möchte, nie auf vollkommene Weise aufs Papier bringen kann. Schuld daran sind die Grenzen, die die menschliche Sprache setzt.
Lerners Gedanken zur Lyrik haftet etwas Verwegenes und Radikales an; vor ihrem Hintergrund liest sich der neu erschienene Gedichtband „Schlupflöcher“ von Tamara Štajner mit umso größerem Interesse, denn die Autorin ist Violistin und, wie ihrer Vita zu entnehmen ist, „interdisziplinär tätig“, so „verbindet [sie] in ihrer Arbeit klassische Musik, Literatur, performative Klangkunst und visuelle Kunst“. Was sich vor der Lektüre ihres lyrischen Debüts nur hypothetisch formulieren lässt, kann danach als unzweifelhafte Gewissheit geäußert werden: Štajners Wandern zwischen den verschiedenen Künsten durchdringt auf einzigartige Weise ihre Gedichte. Ihre musikalische Versiertheit nutzt die in Slowenien geborene Autorin, um das lyrische Sprechen der Musik, die deren eigentliche Heimat ist, anzunähern und so eben jene Grenzen zu verrücken, die laut Grossman und Lerner dem Dichter bedeuten: Hier kommst du nicht weiter.
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