„Die Mitte“ ist kein bestimmter Ort, sondern unter anderem der Name einer schweizerischen Partei. Entstanden ist sie Ende 2020, also inmitten der Covid-Krise an 13 verschiedenen Orten der Schweiz durch eine Fusion der Christdemokratischen Volkspartei und der Bürgerlich-Demokratischen Partei. Christdemokratisch und bürgerlich, das erklärt schon einiges über den Namen. Wie schon der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) einmal sagte: „Wo ich stehe, ist die Mitte.“ Seine Partei gab auch nicht zufällig 1989 den Slogan „Starke Mitte – gute Zukunft“ heraus. Seit damals ist das Ziel vieler Parteien das Zentrum, auch für sozialdemokratische und sozialistische: Gerhard Schröder wollte die deutsche SPD dort verankern, was er die „Neue Mitte“ und Tony Blair als „radical centre“ bezeichnete. Der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler und der britische Labour-Premierminister schlugen schließlich mit dem im Juni1999 vorgelegten Schröder-Blair-Papier, ein Modernisierungskonzept der europäischen Sozialdemokratie, einen „dritten Weg“ ein. In der englischen Fassung lautet das Dokument „The Third Way“.
Auch wenn heutzutage von einer Radikalisierung der politischen Spektren in Europa gesprochen und zu Recht vor rechtspopulistischen bis rechtsextremen politischen Bewegungen, die auf dem Vormarsch sind, gewarnt wird, hat sich in Luxemburg an der Ausrichtung der Parteien an der Mitte des Parteienspektrums kaum etwas geändert, wie die jüngsten Kongresse gezeigt haben: „Wir sind in der Mitte der Politik dieses Landes und haben vor, dort zu bleiben“, sagte CSV-Co-Präsident Claude Wiseler auf dem Konvent seiner Partei am vergangenen Samstag und gab damit auch in etwa die Losung heraus: An den Christsozialen komme niemand vorbei.
Xavier Bettels DP steht ihm in der Mitte-Ausrichtung in nichts nach. Auf dem Kongress der Liberalen am selben Tag gab er so viele Wahlversprechen, „die in erster Linie die Mitte glücklich machen sollen“, wie das Luxemburger Wort schrieb. „Die DP, scheint es, will nirgendwo anecken: nicht bei den Beamten, nicht mal bei den Natur- und Umweltfreunden.“
In der sogenannten linken Mitte ist traditionell die LSAP angesiedelt. Spitzenkandidatin Paulette Lenert versuchte auf dem Parteikongress, sich von der Konkurrenz aus DP und CSV zu distanzieren, indem sie etwa betonte, dass in der Welt ihrer Partei die Wirtschaft der Gesellschaft diene und nicht etwa andersherum.
Wie schon 1972 bei ihrem Grundsatzprogramm von Wormeldingen, als sich die LSAP den Liberalen annäherte, um zwei Jahre später mit ihnen ein Regierungsbündnis schmieden zu können, gerieten die Sozialisten auch 2013 unter dem damals neuen starken Mann Etienne Schneider als Vizepremier in der ersten blau-rot-grünen Koalition kaum in Verdacht, zu links zu sein. Ähnlich verhielt es sich bei den Grünen. Schon fünf Jahre zuvor verwunderte es kaum, wenn woxx-Journalist Raymond Klein zum 25-jährigen Bestehen von „déi gréng“ 2008 in einem Forum-Artikel unter dem Titel „Stramm mittig, Wurzeln links“ folgende Frage aufwarf: „Ist aus der grün-alternativen Partei, die 1983 am linken Rand des politischen Spektrums gegründet wurde, 25 Jahre später eine öko-liberale Gruppierung geworden, die versucht, die Mitte des demokratischen Spielbretts zu besetzen?“ Schon damals stellte der frühere Abgeordnete Robert Garcia fest, „dass die fünf Grundprinzipien, denen die Grünen sich bei ihrer Gründung verpflichtet hatten, kaum noch erfüllt seien“, rief das Lëtzebuerger Land im Januar in dem Artikel „Die Ökoliberalen“ in Erinnerung. Erinnert sei auch an das Interview, das Robert Habeck, der grüne deutsche Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, vor zwei Jahren dem Bayerischen Rundfunk gab: „Die Grünen müssen sich zur Mitte bekennen.“ Nur heißt bei den Grünen die politische Mitte meistens „Realpolitik“.
Die Mitte als weißer Fleck
Richtig eng wird es in der Mitte, seit die Piraten auf der Erfolgswelle schwimmen und von sich behaupten, „mittig-links“ zu sein, wie ihr Abgeordneter Marc Goergen kürzlich dem Tageblatt gegenüber sagte. Gänzlich aus dem Links-rechts-Schema scheint sich die „postideologische“ Partei Fokus herauszunehmen, auch wenn sie in direkter Nachbarschaft zu den genannten Parteien auf Wählerpirsch geht.
Die Konkurrenz der meisten Parteien um einen Platz in der Mitte sei nicht unproblematisch, schrieb einst der im vergangenen Jahr verstorbene deutsche Politikwissenschaftler Kurt Lenk und warnte vor der drohenden Inhaltslosigkeit. Denn inhaltlich sei die Mitte im politischen Koordinatensystem nichts anderes als eine „terra incognita“, ein weißer Fleck. Erforscht wurde darüber lange Zeit nicht viel, außer etwa im deutschen Sprachraum in dem Buch „Die Mitte: Vermessungen in Politik und Kultur“ von Bernd Guggenberger und Klaus Hansen, wonach der Begriff ein „Reflex des Establishments“, eine „Chiffre für eine allzu geschmeidige Anpassung“ sei und für die „Saturiertheit des Status quo“ stehe – kurz: ein Synonym der Ratlosigkeit ist.
Von einem „Phantom der Mitte“ schrieb der Politologe Jan-Werner Müller vor zwei Jahren in der Neuen Zürcher Zeitung über die zentristischen Parteien und fragte, ob diese, einst „Kitt, der die Gesellschaft im Kampf gegen die antidemokratischen Versuchungen zusammenhielt“, noch eine Bedeutung haben. Nach den Worten von Kurt Lenk kommt die Philosophie der Mitte dem „Abschied von der Utopie“ gleich. Schon bei Aristoteles gehören Mitte und Maß zu den Leitideen – das Gegenmodell wäre der utopische Staat von Platon. Utopien hingegen führen, so der Historiker Joachim Fest, „aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Diktatur“.
„Luxemburg ist ein Land der Mitte“
Die Mitte als Orientierungspunkt passt zu einem politischen Konsensmodell wie dem luxemburgischen: „Luxemburg ist ein Land der Mitte und bleibt es auch“, schrieb das Tageblatt vor fünf Jahren. „Seit der Nachkriegszeit gilt das Großherzogtum als stabiler Staat mit Hang zum Strukturkonservativismus.“ Die hiesige Gesellschaft entspreche nach wie vor dem Typus der Konsensdemokratie. Mit Ausnahme des Referendums gab es fast keine großen Kontroversen. Sogar bei der Trennung von Staat und Kirche gab es wenig Misstöne von der CSV, das Bistum hat die Reform sogar mitgetragen. Logische Folgen seien ein in der Regel wenig kontroverser Wahlkampf und ein entsprechendes Wahlverhalten der Bürger.
Dabei gibt es nach Ansicht des französischen Politologen Maurice Duverger gar „keine Richtung der Mitte“. Diese sei nur die künstliche Zusammenfassung des rechten Flügels der Linken und des linken Flügels der Rechten. „Es ist der Traum der Mitte“, so Duverger, „die Synthese entgegengesetzter Richtungen darzustellen, aber die Synthese ist nur eine theoretische Möglichkeit.“ Seine belgische Kollegin Chantal Mouffe meint derweil, Demokratie baue ihrer Natur nach stets auf Polarisierung und kollektive Identifikation: „Daher sollten wir uns vor der heutigen Tendenz hüten, eine Politik des Konsenses zu glorifizieren, die sich rühmt, die angeblich altmodische Politik der Gegnerschaft von rechts und links ersetzt zu haben.“
Eine politische Mitte in politischen Streitfragen festzumachen, ist nicht selten problematisch. Sowohl-als-auch statt Entweder-oder? Nicht in Grundsatzfragen wie etwa in der Atomfrage oder Notstandssituationen: Das würde, wie der Barockdichter Friedrich von Logau schrieb, bedeuten: „In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod.“
Beim Zusammenmischen aller Couleuren erhält man meistens etwas bräunliches
Oft scheint dieser Drang zur Mitte eine mangelnde politische Bildung zu Grund zu haben. Besonders hier in Luxemburg besteht hier ein großer Mangel. In anderen Fällen jedoch handelt es sich um eine bewusste Manipulation der Wähler. Mit dem Anspruch zur Mitte sei man der einzige Vertreter des Durchschnittsbürger. Dies ist zwar Unfug, scheint aber zu funktionieren.
Das große Risiko ist dass wir wichtige Gesellschaftsthemen nicht aufgreifen. Hierbei ist das ignorieren der Klimakrise, oder genauer nur Lippenbekenntnis zu deren Bekämpfung, die größte Bedrohung, für unsere Gesellschaft und darüber hinaus der Gesamtheit der Menschheit.
Ein gewisser Grad an Radikalität muss zu jedem Zeitpunkt bestehen wenn man eine Stagnation der Gesellschaft verhindern möchte. Dies muss aber im Einklang mit demokratische Prinzipien geschehen. Durch diese extremere Postionen wird die Gesellschaft wieder polarisierter und die jetzt zur Mitte strebende Parteien werden zu einem stärkeren Bekenntnis zu progressiven oder konservativen Werten gezwungen. Erst auf diese Weise können wir die große Probleme unserer Zeit in Arbeit nehmen.