Luxemburg ist längst nicht barrierefrei: Nach 25 Jahren bleibt noch genug zu tun

Luxemburg ist längst nicht barrierefrei:  Nach 25 Jahren bleibt noch genug zu tun

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Seit der UN-Behindertenrechtskonvention von 2007 steht Inklusion als Synonym für die selbstbestimmte Teilnahme aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Im Klartext: Menschen mit Behinderungen müssen sich nicht mehr integrieren und an die Umwelt anpassen. Stattdessen ist diese von vornherein unter dem Prinzip «Design for all» so ausgestattet, dass alle Menschen gleichberechtigt leben können – egal, wie unterschiedlich sie sind. So weit die Theorie, doch wie sieht es in der Praxis aus?

Von André Feller

Die Organisation «Info-Handicap», Ansprechpartner bei spezifischen Bedürfnissen und gleichzeitig Dachverband einer Vielzahl an Behindertenorganisationen, schloss vor wenigen Tagen ihre Feierlichkeiten zum 25-jährigen Bestehen ab. Das Tageblatt unterhielt sich mit Info-Handicap-Direktor Olivier Grüneisen über die aktuelle Situation.

Tageblatt: In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Situation von Menschen mit Behinderungen erheblich verbessert. Nicht zuletzt aufgrund Ihrer Vereinigung. In welchen Bereichen sind Sie tätig?

Olivier Grüneisen: Wir sind eine nationale Informations- und Begegnungsstelle im Bereich Behinderung. Seit 1993 können sowohl Privatpersonen als auch Institutionen oder Vereine sich bei uns über das Thema Behinderung informieren. Zudem steht unser juristischer Informationsdienst zu allen Fragen über die Gesetzeslage im Bereich Behinderung zur Verfügung. Bei Diskriminierung werden wir juristisch aktiv. Auf dem Gebiet der Barrierefreiheit bieten wir Fortbildungen und Sensibilisierungsveranstaltungen an. Durch eine direkte nationale und internationale Kollaboration mit unterschiedlichen Institutionen fördern wir die Barrierefreiheit in Luxemburg. Dazu gehören etwa Themen wie barrierefreier Tourismus mit unter anderem der Vergabe des Labels EureWelcome.

Sie erwähnten die Rolle als Dachverband von derzeit 59 Behindertenorganisationen in der Funktion des sogenannten Behindertenrats. Welches sind die Missionen und Aufgaben des 1993 gegründeten nationalen Behindertenrates?

Wir fördern den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch durch die Mitgliedschaft des Großherzogtum Luxemburgs im Europäischen Behindertenforum (EDF). Die Interessenvertretung der Personen mit Behinderung findet vor allem auf politischer Ebene statt. Neben der Sensibilisierung identifizieren wir die Defizite in der Inklusion und arbeiten zusammen mit den jeweiligen Entscheidungsträgern eine Lösung aus. Zudem fördern wir die Gründung einer Begegnungsstätte für behinderte Personen zwecks Austausch und gegenseitiger Unterstützung.

Welche Hürden konnten von politischer Seite in den 25 Jahren nicht beseitigt werden?

Es bleibt noch sehr viel zu tun. Die größten Probleme betreffen Vormundschaft, schulische Ausbildung, öffentlicher Transport, Zugänglichkeit zu privatem und öffentlichem Raum, Arbeitsrecht, Wohnmarkt und Kommunikation.

Die Vormundschaft sollte ja eigentlich dem Schutz einer Person mit verminderten Fähigkeiten dienen. Ist dem nicht so?

Eigentlich schon, doch das Gesetz über die Vormundschaft datiert aus dem Jahre 1982. Es ist veraltet und verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Die größte Schwierigkeit liegt einerseits in der Auslegung des Gesetzes – dieses sieht nur schwarz oder weiß vor – und andererseits trägt das Gesetz dem Recht auf Selbstbestimmung keine Rechnung.

Können Sie diesbezüglich ein Beispiel und eine Lösung nennen?

Aufgrund verminderter Fähigkeiten können verschiedene Menschen beispielsweise ihre Finanzen nicht verwalten. Dennoch haben Betroffene eine klare politische Meinung und ein Gefühls- und Liebesleben. Stehen Sie jedoch unter richterlicher Vormundschaft, so dürfen sie sich weder zur Wahlurne begeben, noch haben Sie das selbstbestimmte Recht auf Eheschließung oder die Erstellung eines Testaments. Das sind nur einige von unzähligen Beispielen. Wir drängen, falls eine Vormundschaft unabdingbar ist, auf eine individuelle Lösung, die den Bedürfnissen des Zu-Schützenden gerecht wird.

Die Vormundschaft fiel in den vergangenen Jahren durch Skandale negativ auf. Ist denn nun ein neues Gesetz in Aussicht?

Nein leider noch immer nicht. Sowohl von Gambia 1.0 als auch von der aktuellen Regierung gibt es nur Versprechen. Ein Licht am Ende des Tunnels ist noch nicht in Sicht. Wir hoffen im Rahmen des Fünf-Jahres-Plans zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention auf ein neues Gesetz.

Früher gingen Kinder mit Behinderungen in spezifische Schulen. Im Zeitalter der Inklusion soll jedes Kind eine öffentliche Schule besuchen können. Funktioniert dies in der Praxis?

Ja und nein. Besonders in den Grundschulen – diese unterliegen den Kommunen – ist es schwierig. Nicht jede Gemeinde passt sich der Inklusion an und so kommt es häufig vor, dass Kinder mit spezifischen Bedürfnissen abgelehnt werden. Teilweise fehlt es auch am notwendigen Personal, sprich zusätzlichen Betreuern. Doch auch die berufliche Ausbildung im Sekundarunterricht gestaltet sich als schwierig. Junge Menschen mit verminderten Fähigkeiten haben das Recht auf eine Ausbildung im eigenen Rhythmus. Aufgrund dieser Sonderregelung steht ihnen jedoch nicht der gleiche Schulabschluss wie ihren Klassenkameraden zu. Somit ist den Betroffenen der Weg zum Arbeitsmarkt und einer angemessen bezahlten Berufskarriere erschwert.

Menschen mit Behinderungen stehen oftmals auf Wartelisten der sogenannten «ateliers protégés». Besonders im Privatsektor haben viele Menschen mit Einschränkungen kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz. Woran liegt das?

Die Gesetzeslage schreibt eindeutig eine Beschäftigungspflichtquote vor, sowohl im Privatsektor als auch im Öffentlichen Dienst. Im Privatsektor halten sich die wenigsten Unternehmen an diese Quote. Die im Gesetz vorgesehenen Strafen beim Nicht-Erfüllen der Pflichtquote werden jedoch nie verhängt. Andererseits scheuen sich viele Arbeitgeber vor möglichen Umbauarbeiten. Wahrscheinlich fehlen den Arbeitgebern Informationen über die staatlichen Zuschüsse beim Einstellen von Menschen
mit Behinderungen. Ich möchte aber die vorbildliche Rolle einiger Privatunternehmen im Land hervorheben.

In den vergangenen Wochen dominierte das Thema öffentlicher Verkehr erneut die Medien. Auf diesem Gebiet hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, Beispiel Niederflurbusse, Bahnhöfe und Züge. Wieso die ganze Aufregung?

Die CFL hat viel in den barrierefreien Zugang zu Bahnhöfen und Zügen investiert. Die Stadt Luxemburg fährt alle Linien mit Niederflurbussen an. Aber im ländlichen Raum ist der barrierefreie Zugang zum Bus selten möglich. Hier besteht noch viel Nachholbedarf. Der «Adapto», ein Rufbus für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wurde Opfer seines eigenen Erfolgs. Die Kunden haben nur mehr ein Anrecht auf 15 Fahrten im Monat. Kostenlos ist lediglich der Weg zum Arbeitsplatz. Dies stellt erneut eine deutliche Diskriminierung der Betroffenen dar. Im Schülertransport sind die Busfahrer in erster Linie als Berufsfahrer ausgebildet und nicht als Betreuer. Sie können demnach, aus Unwissen, in vielen Fällen nicht richtig reagieren. Als typisches Beispiel kann man hier einen Epilepsieanfall nennen.

Aufgrund des Rechts auf Selbstbestimmung soll jeder Mensch sich – unabhängig von seinen Bedürfnissen – überall frei bewegen können. Das ist aber oftmals Theorie, oder?

Ja, das stimmt. Wir verleihen das Label EureWelcome an Horeca-Betriebe, die barrierefrei zugänglich sind. Derzeit sind es 160 im Land, also recht wenige. Dazu gehört auch die «Schueberfouer» und der «Oktavmäertchen». Im Freizeitsektor gibt es demnach Fortschritte. Viele Arztpraxen oder Dienstleister aus dem Gesundheitsbereich sind nicht oder nur schwer zugänglich. Sie haben sich, genau wie viele andere Freiberufler, in Mehrfamilienhäusern niedergelassen. Dann wird einem auch bewusst, dass die allermeisten Appartements, besonders die älteren, aber auch neue Wohnungen nicht barrierefrei zugänglich sind. Vereinzelt sind Wohnungen in Residenzen barrierefrei eingerichtet. Doch die Freiheit hört oftmals in den sogenannten «parties communes» auf.

Wie klappt es mit der Zugänglichkeit bei Festivals und Veranstaltungen?

Das ist unterschiedlich. Viele Organisatoren geben sich Mühe, leider klappt es nicht immer. Ein Beispiel ist der ING-Marathon in der Hauptstadt. Sicherheitsbedingungen und geografische Lagen der Stadt geben keine optimale Strecke her, beispielsweise für Rollstuhlfahrer. Daher gibt es zeitgleich den «Roll & Run» auf einem gesonderten Streckenabschnitt. Global hängt die Barrierefreiheit immer vom Veranstalter ab. Auf Anfrage stehen wir mit unseren Partnern in Sachen barrierefreier Zugang den Vereinen oder Kommunen bei der Organisation von Festlichkeiten zur Seite.

Sie deuteten das Thema Kommunikation an. Wo hapert es dort?

Ein typisches Beispiel sind Flugblätter oder Broschüren, sie sind nicht in Brailleschrift verfügbar. Ein anderes Problem ist die Barrierefreiheit im Internet. Es gibt heute Softwarelösungen, die eine Webseite vorlesen können. Ist diese programmiertechnisch schlecht aufgebaut, erkennt die Software keine Überschriften, Titel oder Untertitel. Demnach liest das Programm auch Überschriften oder Bildunterschriften in der gleichen Intonation vor wie einen Textabschnitt. Ein weiteres Anliegen ist die einfache Sprache mit kurzen Sätzen. Diese verständliche Sprachform findet kaum Einzug in der Gesellschaft,
weder digital noch in Papierform.

Menschen mit einer Beeinträchtigung des Sehvermögens konnten vor einigen Jahren noch immer kein Geld am Automaten abheben. Hat sich das mittlerweile geändert?

Leider nein, es gab schon viele Unterredungen mit der ABBL («Association des Banques et Banquiers Luxembourg», Anm. d. Red.) und den Banken, eine Lösung ist nicht in Sicht. Die Geräte sind wohl mit einer Kopfhörerbuchse ausgestattet, jedoch fehlt die Software. Zudem sind die neuen Touchscreens alles andere als lesbar für Menschen mit Erblindung.

Kommen wir zum Abschluss zu den zwei letzten Themen: sozialer Urlaub und persönlicher Hilfsassistent. Wie steht Info-Handicap dazu?

Der soziale Urlaub ist auf eine gewisse Anzahl an Tagen beschränkt. Kinder mit Behinderungen müssen beispielsweise häufiger zum Arzt, zum Physiotherapeuten oder Logopäden. Der begrenzte Urlaub stellt die Eltern vor eine organisatorische Herausforderung. Entweder muss eine Drittperson mit der Fahrt zum jeweiligen Behandler beauftragt werden oder die Eltern greifen auf unbezahlten Urlaub zurück. Wir fordern eine Anpassung des sozialen Urlaubs an die jeweiligen Bedürfnisse der betroffenen Eltern und ihrer Kinder.

In diesem Fall wäre ein individueller Betreuer eine Lösung, oder nicht?

Ja, aber nicht nur bei Kindern. Wir fordern – erfolglos – seit Jahren eine Gesetzesgrundlage und somit auch die Kostenübernahme eines individuellen Betreuers. Diese Person mit einer spezifischen Ausbildung soll Menschen mit Behinderungen, unabhängig von ihrem Alter, rund um die Uhr betreuen und im Alltag unterstützen. Jedoch scheitert es bei den politischen Entscheidungsträgern am Willen oder besser gesagt an den Finanzen. Auch nach 25 Jahren Info-Handicap bleibt demnach noch sehr viel zu tun.

Aender
24. April 2019 - 9.45

Alle, ohne Ausnahme zahlen den "GRATIS ÖT " und alle gehbehinderten Behinderten Menschen bleiben Aussen Vor.

J.C.KEMP
23. April 2019 - 14.18

Unsere Manie mit den Treppen als Zugang bei den meisten öffentlichen Gebäuden erschwert so manchen Zutritt. Vielleicht liegt eine Symbolik dahinter: man will dem 'Administré' zeigen, dass man über ihm steht.