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Stakeholder statt ShareholderLarry Finks kapitalistisches Hütchenspiel

Stakeholder statt Shareholder / Larry Finks kapitalistisches Hütchenspiel
 Foto: AFP/Spencer Platt

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Der jüngste Jahresbrief des Vorstandsvorsitzenden und CEO von BlackRock, Larry Fink, hat die Wirtschaftswelt im Sturm erobert. BlackRock ist der größte Vermögensverwalter der Welt, und Fink nutzte die Gelegenheit, sich an die CEOs der Unternehmen zu wenden, deren Vermögen seine Firma im Namen der Anleger verwaltet, um für eine ökologisch nachhaltigere, sozialere und zukunftsorientierte Form des Kapitalismus einzutreten, die auf dem Stakeholder- und nicht auf dem Shareholder-Value basiert.

Finks Ermahnung scheint eine willkommene Abkehr vom orthodoxen Dogma zu sein. Aber wenn seine Vision „woke“ sein soll, dann ist sie nicht annähernd woke genug. All das haben wir schon einmal gehört, auch in Finks eigenen Briefen für 2018 und 2019 und in der vielbeachteten Erklärung des Business Roundtable für 2019, bei der Fink federführend war. Geändert hat sich jedoch viel zu wenig, vor allem weil die von Fink und anderen Unternehmensführern beschriebene Vision hinter den radikalen Reformen zurückbleibt, die notwendig sind, um den Kapitalismus im Interesse der Menschen und des Planeten zu verändern.

Finks Version des Stakeholder-Kapitalismus basiert auf einem konzeptionellen Taschenspielertrick. Denn seine Unterstützung für die Stakeholder ist an die Bedingung geknüpft, dass die Gewinne der Aktionäre gesichert sind. Das bedeutet, dass der Shareholder-Value maßgebend bleibt. Der Stakeholder-Wert wird lediglich zu einem Mittel zum Zweck – zum langfristigen Nutzen der Aktionäre. Auf diese Weise wird das wahre Ziel des Stakeholder-Kapitalismus verraten: die Wertschöpfung zum Nutzen der Allgemeinheit.

Nehmen wir den Klimawandel. Fink lobt, dass nachhaltige Investitionen mittlerweile eine Höhe von 4 Billionen Dollar erreicht haben. Das Ziel sollte jedoch nicht nur darin bestehen, weitere Billionen in die nachhaltige Entwicklung zu investieren. Vielmehr sollten diese Billionen demokratisch und von den Interessengruppen koordiniert werden, um ehrgeizige Ziele wie die globale Dekarbonisierung zu unterstützen. Eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft würde den Nutzen für alle Beteiligten maximieren.

Damit Missionen zum Handeln motivieren, eine Dynamik erzeugen und der Wirtschaft einen Sinn geben, muss die Kluft zwischen Interessengruppen und Aktionären geschlossen werden. In der Praxis bedeutet dies, dass die Interessengruppen gestärkt werden müssen. Arbeitnehmer, Bürger, Gewerkschaften, kommunale Gruppen, staatliche Institutionen und Nichtregierungsorganisationen müssen ein starkes finanzielles und politisches Interesse an den Abläufen der kapitalistischen Wirtschaft haben.

Ein kollektiver Prozess

Ein solcher Paradigmenwechsel beginnt mit der Anerkennung, dass es sich um einen inhärent kollektiven Prozess handelt, der die Wertschöpfung überhaupt erst möglich macht. Produzenten und Verbraucher, Arbeitnehmer und Manager, Erfinder und Verwalter sowie Regulierungsbehörden und Investoren sind gemeinsam daran beteiligt. Werte entspringen nicht einfach den Köpfen heroischer Unternehmer, verwegener Risikokapitalgeber und Unternehmensführer. Sie sind das Ergebnis organisatorischer und institutioneller Strukturen, die es all diesen Akteuren ermöglichen, zusammenzuarbeiten.

Ob in der Technologie, der Pharmazie oder im Energiesektor – die großen Innovationen, die für die Aktionäre der Unternehmen einen Mehrwert geschaffen haben, wurden in den meisten Fällen erst durch öffentliche Investitionen möglich gemacht. Die meisten Innovationen, die die heutige pharmazeutische Revolution vorantreiben, wurden durch hochriskante Anschubinvestitionen von Organisationen wie den US National Institutes of Health finanziert, die in den Vereinigten Staaten jährlich mehr als 40 Milliarden Dollar investieren.

Auch die Revolution in der Informationstechnologie hätte ohne Investitionen von öffentlicher Hand nicht stattgefunden. Wie ich in „The Entrepreneurial State“ dargelegt habe, ist alles, was unsere Telefone „intelligent“ macht – vom Internet und GPS bis hin zu Touchscreens und der Technologie, die Siri zugrunde liegt – das Ergebnis strategischer öffentlicher Investitionen.

Niemand bezweifelt, dass auch Innovationen des privaten Sektors wichtig waren, insbesondere in der Folgephase der Kommerzialisierung. Die Frage ist, warum der private Sektor die ganze Anerkennung und Belohnung erhalten hat. Warum spiegeln die Arzneimittelpreise nicht den ursprünglichen öffentlichen Beitrag wider (selbst wenn sich die Regierung „March-in-Rechte“ vorbehält, die die Pharmaunternehmen zur Lizenzierung ihrer Produkte verpflichten)? Warum sind die Rechte am geistigen Eigentum so stark, dass sie den Wissensaustausch behindern?

Ein Teil der Antwort liegt darin, dass der Pakt zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor – der alles von rechtlichem Eigentum bis hin zum Datenschutz regelt – übermäßig zugunsten der Wirtschaft gewichtet ist. Außerdem stecken dieselben Unternehmen, die von öffentlich finanzierten Innovationen profitiert haben, jetzt Millionen von Dollar in die Lobbyarbeit für regressive Vorschriften und Steuerpolitik, um ihre Gewinne zu steigern. Um diesem unangemessenen Einfluss entgegenzuwirken, bedarf es ehrgeiziger neuer Vorschriften zur Verbesserung der Rechenschaftspflicht und Transparenz von Unternehmen, angefangen bei der Reform der 10-K-Offenlegungsvorschriften, die es großen Technologieunternehmen ermöglicht haben, ihre Aktivitäten zu verbergen.

Neuer Gesellschaftsvertrag erforderlich

Aber der Staat ist nicht der einzige Akteur im Prozess der gemeinsamen Wertschöpfung. Auch die Arbeitnehmer leisten einen wichtigen Beitrag, und man muss kein Marxist sein, um zu erkennen, dass Arbeit (und die Natur) mindestens ebenso viel Wert schaffen wie die Eigentümer von Produktionsmitteln. Letztlich erfordert ein echter Stakeholder-Kapitalismus einen neuen Gesellschaftsvertrag – gestützt auf einen neuen globalen wirtschaftlichen Konsens –, der den öffentlichen Wert über den privaten Profit stellt und das „Ökosystem“ der Wertschöpfung fördert. In diesem Sinne schreibt der Musikproduzent Brian Eno das musikalische Schaffen nicht dem Genie, sondern dem „scenius“ zu: den kommunalen Szenen, die kreative Schöpfer verbinden, unterstützen und inspirieren.

Das Gleiche gilt für die gesamte Wirtschaft. Ein gesundes Ökosystem setzt Wettbewerb zwischen den Unternehmen voraus, aber es hängt auch von der Zusammenarbeit ab. Ein florierendes Ökosystem erfordert, dass der öffentliche, der private und der dritte Sektor in gegenseitiger Partnerschaft zusammenarbeiten, um Innovationen und das Wachstum neuer Unternehmen zu fördern.

Die Covid-19-Pandemie lieferte zwei Beispiele für tiefgreifende Bedrohungen der Gesundheit des Ökosystems. Das erste Beispiel war die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen. Die sechs führenden Impfstoffhersteller haben schätzungsweise 12 Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern erhalten. Das macht die Impfstoffe zu einem öffentlichen Gut, aber sie wurden nicht wie ein solches behandelt. Im Rahmen des Stakeholder-Kapitalismus würde die pharmazeutische Produktion ein gerechteres Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Risiken und Gewinnen herstellen und darauf ausgerichtet sein, den weltweiten Zugang zu ermöglichen.

Das zweite Beispiel war die Verteilung der Mittel aus den Pandemie-Wiederaufbaufonds. Die Rettungsgelder, die viele Regierungen den Unternehmen zur Verfügung gestellt haben, müssen an strengere Bedingungen geknüpft werden, und in Zukunft müssen die Empfänger öffentlicher Subventionen dazu verpflichtet werden, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren.

Trotz der großen Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, konzentriert sich Finks Vision des Stakeholder-Kapitalismus viel zu sehr auf die unternehmensinterne Governance. Indem er es versäumt, die breitere Landschaft der außerbetrieblichen, institutionellen Beziehungen zwischen verschiedenen Bereichen und Sektoren der Gesellschaft zu berücksichtigen, hält Fink an der traditionell strengen Unterscheidung zwischen Stakeholdern und Aktionären fest.

Betrachten Sie die Ergebnisse: BlackRock ist der fünftgrößte Anteilseigner von Fox News, und das zu einer Zeit, in der die Moderatoren des Senders unverhohlen versuchen, die amerikanische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu untergraben und dabei anscheinend vergessen, dass der US-Kapitalismus auf beidem beruht. Welche Aktionäre haben ein Interesse daran?

Mariana Mazzucato ist Professorin für Economics of Innovation and Public Value am University College in London und Gründungsdirektorin des UCL Institute for Innovation & Public Purpose.

Übersetzung: Andreas Hubig.

Copyright: Project Syndicate, 2022, www.project-syndicate.org