Wenn man Leon van der Torres Büro an der Universität Luxemburg betritt, blickt einem ein kleiner Roboter von der Kommode entgegen. «Er schaut uns nicht zu, er ist ausgeschaltet», meint seine Kollegin Sviatlana Höhn lächelnd. Die beiden sind KI-Forscher und arbeiten damit in einem der aktuell gehyptesten Felder. Wir haben uns mit ihnen über Fortschritt, Ethik und die Angst vor dem Killer-Roboter unterhalten.
Tageblatt: Die meisten Menschen denken bei künstlicher Intelligenz an gruselige Maschinen aus Filmen und Serien. Dokumentarfilme und Bücher warnen vor der Technologie oder preisen sie als Rettung der Menschheit an. Wie weit ist der Fortschritt tatsächlich?
Leon van der Torre: Ich bin Computerwissenschaftler und als solcher finde ich den Fortschritt der vergangenen Jahre absolut unglaublich. Mittlerweile sind IT-Firmen wie Google, Amazon oder Apple die größten Konzerne der Welt. Von den Szenarien in den Filmen sind wir aber sehr weit weg. Wie man den Fortschritt bewertet, hängt also stark vom eigenen Blickwinkel ab.
Einem Laien fällt es schwer, den Fortschritt einzuschätzen. Kürzlich brachte die Firma IBM ihre künstliche Intelligenz Watson Health auf den Markt. Sie sollte Ärzten bei der Diagnose helfen. Doch Doktor Watson machte Fehler in der Diagnostik und eine Reihe Pilotprojekte wurden eingestellt. Erwarten wir zu viel?
Sviatlana Höhn: Ich glaube, dass durch den Hype die Erwartungen tatsächlich zu hoch sind. Kürzlich wurde der Roboter Sophia im Fernsehen als erster nicht-menschlicher Bürger vorgestellt. Dabei handelt es sich einfach um eine Silikonpuppe mit Chatbot-Kopf. Das ist purer Populismus. Wenn Menschen das sehen, erwarten sie, dass demnächst irgendetwas Unglaubliches passiert. In Wirklichkeit sind wir bei der KI erst so weit, dass die besten Systeme das Verständnis eines sechs Monate alten Kindes haben.
Leon van der Torre: Wenn meine Kinder mich hier im Robo-Lab besuchen, sind sie enttäuscht. Ihre Erwartungen sind viel größer als der Stand der Forschung. Wir haben Roboter, die Fußball spielen. Die sind aber nicht annähernd so gut wie richtige Fußballspieler. Watson war unglaublich – für uns Wissenschaftler jedenfalls. Den Medizinern war das System aber noch nicht weit genug.
Hier können Sie sich IBM’s Werbung für ihren KI-Dienst Watson Health ansehen. Das Video wurde vor drei Jahren veröffentlicht.
https://www.youtube.com/watch?v=ZPXCF5e1_HI
Das heißt, die meisten Systeme sind trotz des Fortschritts noch nicht wirklich bereit, um auch genutzt zu werden?
Leon van der Torre: Einige schon. Zum Beispiel die automatisierten Autos. Sviatlana Höhn: Wir sind in einigen Bereichen so weit, dass Maschinen Aufgaben übernehmen können, denen Menschen nicht gewachsen sind. Ich will auf jeden Fall irgendwann ein automatisch fahrendes Auto haben. Ich sitze dann drin und kann arbeiten, während die Technologie das Fahren übernimmt. Das funktioniert allerdings nur, wenn keine Menschen mehr selbst auf den Straßen fahren. Sonst gibt es ein unvorhersehbares Element und das macht immer Ärger. Die Medizin ist ein weiteres gutes Beispiel: Kein Mensch wäre fähig, mit seinen Augen in einen Körper hineinzusehen. Mit einer Maschine ist das aber möglich.
Also sind wir an einem Punkt, an dem die Maschinen und die Menschen zusammenarbeiten?
Sviatlana Höhn: Es gibt einige Aufgaben, bei denen wir die künstliche Intelligenz so einsetzen können, dass sie unsere eigenen Fähigkeiten bei weitem übertreffen. Das muss aber eine sehr spezifische Aufgabe sein. Zum Beispiel die Gesichtserkennung. Ein Mensch würde Monate brauchen, um sich alle Fotos anzusehen, während eine Maschine die Aufgabe in ein paar Minuten erledigt. Hier sind künstliche neuronale Netze besser und schneller als wir. Geht es aber zum Beispiel darum, eine Konversation zu führen, können Sie die diese Netze vergessen. Sie bringen nichts.
Kürzlich habe ich eine KI-App ausprobiert, die durch Training mit mir sprechen lernen sollte. Das Resultat war sehr enttäuschend. Die Antworten klangen nicht sehr echt …
Sviatlana Höhn: Genau das ist der Punkt. Wenn jemand Ihnen verspricht, dass Sie mit einer App ein Gespräch führen können, gehen Sie davon aus, dass dieses abläuft, als würden Sie mit einem Menschen reden. Das ist im Moment unmöglich. Google führte kürzlich ein Experiment durch, bei dem eine KI eine Reservierung in einem Restaurant machen sollte. Hier handelte es sich wieder um eine sehr klar definierte Aufgabe und nur dadurch war das Experiment überhaupt möglich. Aber einen Tisch in einem Restaurant reservieren, das können wir schon lange. Das ist für uns nichts Außergewöhnliches.
Tatsächlich werden die meisten Technologien, wie die Tischreservierungssoftware von Google, von großen Unternehmen entwickelt. Es sind jedenfalls die, von denen man am meisten hört. Ist das problematisch für die Forschungswelt?
Leon van der Torre: Die Unternehmen haben riesige Forschungzentren aufgebaut, in denen mittlerweile auch einige meiner Studenten arbeiten. Wir treffen die Forscher der Unternehmen auf Konferenzen oder sonstigen Treffen. Deshalb ist ihr Fortschritt eigentlich nicht problematisch. Es ist trotzdem neu, dass wir so relevant für die Industrie sind. Wir waren gewohnt, ein eher unwichtiger Teil der Computerwissenschaften zu sein – und plötzlich stehen wir im Zentrum des Interesses.
Nicht nur die Industrie interessiert sich für Ihre Forschung, sondern die gesamte Gesellschaft. Mittlerweile ist die künstliche Intelligenz ja ein fester Bestandteil der gesellschaftlichen Diskussionen. Kriegen Sie davon etwas mit?
Leon van der Torre: Seit ein paar Jahren kommen Menschen auf uns zu, weil sie verstehen wollen, was wir hier tun. Das können Politiker sein, die wissen wollen, ob reguliert werden muss. Oder Juristen, die Schuldfragen klären müssen. Es war lange kein Thema, doch mittlerweile beschäftigen sich alle KI-Konferenzen mit der Frage der Verantwortung der Wissenschaftler.
Das heißt, die Forscher sehen Bedarf bei der Ethik?
Leon van der Torre: Einige, aber nicht alle. Es gibt viele Forscher, die einfach nur neue Systeme bauen wollen. Im Allgemeinen wird aber akzeptiert, dass wir uns Gedanken über die Folgen unserer Forschung machen sollten. In der Medizin gibt es einen Eid, der den Ärzten Grenzen auferlegt. So etwas Ähnliches könnte man sich auch für die KI-Forschung vorstellen. Dazu müsste allerdings eine weltweite Übereinkunft gefunden werden. Das wird nicht einfach. China steckt gerade sehr viel Geld in die KI-Forschung und die Kultur ist dort eine ganz andere. Grenzen werden nicht gerne gesehen.
Sind Computerwissenschaftler überhaupt bereit, sich selbst Grenzen zu setzen?
Sviatlana Höhn: Ich würde nie etwas bauen, das herumfliegt und automatisch Menschen umbringt. Aber andere werden bezahlt, um genau an diesen Technologien zu arbeiten.
Leon van der Torre: Wir dürfen nicht vergessen, dass Unternehmen in der KI-Forschung aktiv sind. Als Wissenschaftler will ich die Ethik nicht der Privatwirtschaft überlassen. Als Professor bedeutet das, die Studenten in der Computerwissenschaft stärker mit diesen Fragen zu konfrontieren.
Sviatlana Höhn: Das gilt nicht nur für die Universität. Ich würde schon in der Grundschule damit anfangen.
Ist Grundschule nicht zu früh, um Kinder mit Computerwissenschaften zu konfrontieren?
Sviatlana Höhn: Ganz im Gegenteil. Ich habe kürzlich einen Roboter mit nach Hause genommen. Mein Sohn, der vier Jahre alt ist, hatte solche Angst vor der Maschine, dass er sich hinter dem Sofa versteckt hat. Meine einjährige Tochter dagegen war sehr neugierig und hätte den Roboter am liebsten auseinandergebaut. Ich finde natürlich nicht, dass man in der Schule über automatisierte Waffen reden sollte. Man kann den Kindern aber einfache Konzepte erklären, zum Beispiel dass im Kopf eines Roboters kein Gehirn, sondern ein Prozessor steckt. Die Kinder sind mit iPads konfrontiert, wieso sollten wir nicht einen Schritt weiter gehen und ihnen auch die Basis der KI erklären?
Leon van der Torre: Ich finde, dass es am wichtigsten ist, diese Themen in der Sekundarschule anzugehen. Dort fangen die Kinder an, viel nachzudenken und zu debattieren.
Sviatlana Höhn: Die besten Programmierer, die ich kenne, haben mit sechs, sieben oder acht Jahren angefangen, zu coden.
Leon van der Torre: Ich war zehn. Ich war wohl spät dran. (lacht)
Sviatlana Höhn: Es ist wie mit jeder anderen Sprache. Wer fließend werden will, muss früh anfangen.
Sie sagten vorhin, dass China viel Geld in die KI-Forschung steckt und dort eine andere Kultur als bei uns herrscht. Was bedeutet das?
Leon van der Torre: Ich bin ein Wissenschaftler und treffe regelmäßig Menschen aus den Vereinigten Staaten und China. In diesem Sinne arbeiten wir alle zusammen. Für Unternehmen sieht das allerdings anders aus. Die USA haben hier die Nase ganz klar vorn. Alle große IT-Firmen sind im Silicon Valley. In China ist es etwas anders. Hier wurden die Grenzen geschlossen, um chinesischen Unternehmen eine Chance zu geben, und massiv Geld in die Forschung gesteckt. Wir werden sehen, ob die EU da aufholen kann. Auf KI-Konferenzen tummeln sich mittlerweile viele Chinesen. Die KI-Szene ist dort sehr groß und entwickelt sich dementsprechend in China sehr schnell. In Europa sieht das anders aus.
Sviatlana Höhn: Die kulturelle Akzeptanz neuer Technologien ist in Asien viel höher als bei uns. Es gibt eine Menge Experimente, die in der EU gescheitert sind und in Asien ein Erfolg waren. Nehmen Sie zum Beispiel den Microsoft Chatbot, bei dem eine Maschine aus den Gesprächen mit Menschen lernen sollte. In China läuft das Projekt immer noch. Die Menschen sind fasziniert und reden mit der Maschine, wissend, dass es eben nur eine Maschine ist. In Europa lief das Experiment ganz anders ab. Die Menschen wollten die Grenzen testen und ausprobieren, ob sie aus dem Chatbot einen Faschisten und Rassisten machen könnten – mit Erfolg. Ein anderes Beispiel: In Asien gibt es Pilotprojekte mit einer Technologie, die die Augen von Schülern filmt und kontrolliert, ob sie in den Klassensälen gerade aufmerksam sind oder träumen. In Europa wäre das undenkbar, sogar wenn es sich um ein Experiment handelt.
Hier können Sie sich eine kurze Reportage des staatlichen chinesischen Fernsehsenders CGTN ansehen, das etwa vor einer Woche veröffentlicht wurde. Durch das Video soll China als KI-Nation porträtiert werden.
Die Unterstützung der Forschung gehört ja eigentlich in den politischen Bereich. In ein paar Wochen sind Wahlen in Luxemburg. Das Thema der künstlichen Intelligenz spielt keine große Rolle. Sollte KI präsenter in der öffentlichen Debatte sein?
Sviatlana Höhn: Es ist schon ein politisches Thema. Möglicherweise ist es aber eine gezielte Entscheidung, es während des Wahlkampfes nicht anzuschneiden. Wenn man als Politiker zu den Wählern geht und über Bildung, Straßen oder Renten spricht, dann können sie sich damit identifizieren. Wenn man aber über KI spricht, dann stellen sie sich den Terminator oder die Matrix vor, haben Angst und lehnen die Technologie ab. Meiner Meinung nach ist es deshalb besser, das Thema überhaupt nicht aufkommen zu lassen.
Und trotzdem interessiert es viele Menschen. Sie haben vorhin das Wort Hype benutzt, als Sie von Ihrer Forschung und dem Interesse daran sprachen. Wird der KI-Hype bleiben – oder demnächst verschwinden?
Leon van der Torre: KI ist nichts anderes als der nächste Schritt in der Entwicklung der Computerwissenschaften. Deshalb wird der Hype wahrscheinlich bleiben. Die Ideen sind auch eigentlich nicht neu. Die Theorien und die nötige Mathematik gab es schon lange. Nur gab es noch keine Computer, die schnell genug waren, um sie anwenden zu können.
Sviatlana Höhn: Ich nehme das Beispiel der künstlichen neuronalen Netze. Die Idee ist 50 Jahre alt. Aber wir haben erst ein Netzwerk und einen Computer gebraucht, die schnell genug waren. Jetzt ist es uns gelungen, alle nötige Komponenten zusammenzubringen, um die Technologie anwenden zu können. Dadurch gibt es heute Gesichtserkennungssoftware und Programme, die eine Katze auf einem Bild wiedererkennen. Ob das die ganze Arbeit Wert war, ist natürlich eine ganz andere Frage. (lacht)
Leon van der Torre: Als ich 2006 hier an der Universität ankam, wollten die Kollegen aus den anderen Bereichen wissen, was wir hier eigentlich treiben. Sie verstanden nicht, was eine Universität mit einer KI-Abteilung anstellen soll. Ich erklärte ihnen, dass meine Forschung erst in 20 Jahren relevant werden würde. Ich habe mich nur in einem Punkt geirrt: Sie wurde schon nach zehn Jahren relevant. Ich wusste, dass es so kommen würde. Die Computer werden immer schneller. Die künstliche Intelligenz war der nächste logische Schritt in der Entwicklung der Computerwissenschaften.
Das kleine KI-Glossar
Künstliche neuronale Netze
Künstliche neuronale Netze (KNN) sind eine Art Nachahmung des menschlichen Gehirns. Sie bestehen aus verschiedenen Knoten, die mit der Außenwelt und unter sich kommunizieren. Die Informationen werden von den Knoten verarbeitet und weitergeleitet. KNN werden vor allem zur Problemlösung angewandt. Die Netze erhalten eine Aufgabe und suchen anhand der Informationen den besten Weg, um diese zu lösen. Sehr fortgeschrittene Netze sind lernfähig.
Machine learning
Unter dem englischen Begriff „Machine learning“ werden die Bestrebungen von Computerwissenschaftlern zusammengefasst, lernfähige Systeme zu entwickeln.
Chatbot
Ein Chatbot ist ein Programm, das entwickelt wurde, um Gespräche mit Menschen zu führen. Ein Beispiel eines Chatbots: die Assistentin Siri, die auf jedem iPhone vorinstalliert ist.
Watson
Das von IBM entwickelte Programm Watson sorgt für viel Wirbel. Es speichert riesige Mengen an Informationen und kann Entscheidungen treffen. 2016 entstand der erste Trailer zu einem Film, den Watson selbst zusammenstellte, nachdem er andere Filmtrailer analysiert hatte. IBM wirbt vor allem mit seiner KI im Gesundheitsbereich. Watson Health oder Dr. Watson, wie das Programm von der Presse genannt wird, soll den Ärzten helfen, Krankheiten zu diagnostizieren.
Sie wollen das Thema KI weiter vertiefen? Hier empfehlen wir zwei Veranstaltungen, die Sie interessieren könnten.
Artificial Intelligence: Truth or Dare
Eine Konferenz zum Thema KI an der Universität Luxemburg am 19. September um 18 Uhr. Der Eintritt ist frei, allerdings muss man sich registrieren.
AI and Art
Vom 17. bis zum 26. September will die Universität herausfinden, was künstliche Intelligenz mit Kunst zu tun hat. Die Konferenzen werden von einer Ausstellung begleitet.
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