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Bienvenue au monde polychromeKiss, Little Simz und Co.: Das 45. „Paléo Festival Nyon“ bricht Genregrenzen

Bienvenue au monde polychrome / Kiss, Little Simz und Co.: Das 45. „Paléo Festival Nyon“ bricht Genregrenzen
 Foto: Annick Lesch

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Nach zweijähriger Abstinenz feiern insgesamt 250.000 Menschen an sechs Tagen die Rückkehr ihres Lieblingsfestivals am Genfer See, der größten Open-Air-Veranstaltung der Schweiz: „Vive le Paléo!“

Alles ist wie früher; nun ja fast: Das Gelände wurde ein wenig umdisponiert und -gestaltet. Mindestens fünfmal seien die Pläne völlig umgeändert worden, wie uns Festivalchef Daniel Rossellat während der Pressekonferenz erklärt, dann stand das Konzept, mit dem nun alle sehr zufrieden sind. Zwei Bühnen sind verschwunden, zwei neue hinzugekommen, was dazu führt, dass das „Terrain de l’Asse“, wie das an ein Stück Wald angrenzende Festivalgelände hier genannt wird, noch zusätzlich an Reiz gewonnen hat.

Größte Errungenschaft: „Belleville“, eine Bühne, die ausschließlich elektronischer Musik vorbehalten ist und die nach dem Stadtteil Detroits benannt wurde, in dem in den 80er Jahren House erfunden wurde. Hier raven Techno-Fans rund um die Uhr bis spät in die Nacht. Betritt ein Künstler die „Grande Scène“ nebenan, werden die Beats kurzerhand in die angrenzende Zeltbar verlegt, damit es zu keinen akustischen Interferenzen kommt. Einziger Nachteil, wie uns ein Mitarbeiter erklärt: Die Bässe wummern dann so sehr in der Bar, dass das Bier innerhalb des Zeltes ständig schäumt.

Apropos Bier: 200.000 Liter werden während des Festivals verzapft und es wird speziell fürs Paléo gebraut: etwas leichter als herkömmliches „Cardinal“, damit die Festivalgänger, besonders bei der diesjährigen Affenhitze, länger durchhalten. „Notre but n’est pas de saouler les gens, mais qu’ils soient bien toute la soirée“, verrät der Verantwortliche fürs Catering. Jede Bar verfügt über 2-Fuder-Fässer, die im Morgengrauen von Tankern gefüllt werden.

Nyon Rock City

Mit der elektronischen Musik auf einen weiteren Pfeiler zu setzen, erweist sich als sehr cleverer Schachzug der Organisatoren, denn er unterstützt den Generationenwechsel, der sich seit Jahren an diesem Kult-Festival abzeichnet und der dazu führt, dass das enthusiastische Publikum einen Querschnitt sämtlicher Alterskategorien darstellt. An den beiden ersten Abenden sind die Headliner 70 und augenscheinlich so fit wie vor 50 Jahren: Als Paul Stanley und Gene Simmons – der gar 72 Lenze zählt – in ihren Plateaustiefeln, bleischweren Kostümen und selbstredend als „Starchild“ und „Demon“ bemalt, die Bühne betreten, beginnt die erste ganz große Show der diesjährigen Edition.

Unter den Klängen von Led Zeppelins „Rock and Roll“ postieren sich Kiss neben die gigantischen Statuen ihrer selbst und legen inmitten von Feuer-Eruptionen mit „Detroit Rock City“ los. Welch herrlich anachronistischer Spaß! Am folgenden Abend tut es ihnen ein anderer 70-Jähriger gleich: Sting schaut auf seiner „My Songs“-Tour vorbei und liefert, wie immer, ein absolut perfektes Set ab. So perfekt, dass man ein bisschen Schadenfreude empfindet, als er das Gepfeife zu Beginn seiner neuen Single „If it’s love“ in den Sand setzt. Auch etwas redseliger könnte er sein. „Sa Basse raconte plus d’histoires que lui“, meint jemand augenzwinkernd und spielt auf den Fender Precision an, ein Instrument, das Mister Sumner seit ewigen Zeiten spielt und dessen Lack so schön abblättert.

Fatou, Queen Omega und Simbi

Neben aller Euphorie gibt es auch ernste Töne. Quer durch die Musikgenres und Herkunftsländer der Künstler ist immer wieder die Rede von Love, Peace, Unity, Oneness, Higher Vibrations, Universal Intelligence und alle rufen zum Zusammenhalt in diesen schwierigen Zeiten auf. Besonders beeindruckend tut dies Fatoumata Diawara aus Mali. Ihr Gesangsstil leitet sich aus den Traditionen der Wassoulou-Region ab und ihre Band beherrscht den Afrobeat ebenso wie die subtile, jazzige Begleitung der elegischen, introspektiven Lieder, die die 40-Jährige in ihrer Muttersprache Bambara vorträgt. „Fenfo“, so der Titel ihres letzten Albums, bedeutet: „Ich habe viel zu sagen“, und Fatou erhebt ihre Stimme bei Themen wie Frauenrechte, Genitalverstümmelung, Rassismus oder Migration.

Nicht weniger Charisma versprühen Queen Omega aus Trinidad im Reggae-Rhythmus und die Engländerin mit nigerianischen Wurzeln Little Simz, die wie der Teufel rappt, während ihre Band bei den Songs ihres letzten Albums „Sometimes I might be introvert“ – ein Titel, der sich von ihrem Spitznamen Simbi ableitet – eine gehörige Portion Soul einfließen lässt. Aber auch einige frankofone Künstler verstehen es zu rappen und haben die richtige Message wie Gaël Faye, Grand Corps Malade, OrelSan oder Dub Inc, die Hiphop fulminant mit Reggae und Raï kreuzen.

Vom Voodoo-Metal zum Chanson

Als weitere Geheimtipps entpuppen sich Meta and the Cornerstones – fein ziselierter Reggae von seltener Eleganz aus Senegal –, Cimafunk – ein kubanischer Musiker, der Funk mit kubanischer und afrokaribischer Musik mischt – und Arka’N Asrafokor – togolesischer Metal, den die Musiker selbst als „Voodoo-Metal“ bezeichnen. Letztere legten, neben den Punk-Legenden Dropkick Murphys aus Boston, den wohl fetzigsten und schweißtreibendsten Auftritt des Festivals hin.

Der größte Lapsus dieser Ausgabe unterlief uns, als wir den Auftritt von -M- galant ignorierten, weil wir ihn für einen völlig überbewerteten eitlen Fatzke halten und prompt bestraft wurden. Wir haben verpasst, wie Gail Ann Dorsey, David Bowies ehemalige Bassistin, mit -M- an der Gitarre „Life on Mars“ als Hommage an den Thin White Duke vortrug. Tja, selbst schuld.

Für weitere besinnliche und emotionale Augenblicke sorgte Francis Cabrel. Wenn seine Fans die Balladen „Petite Marie“ oder „Je t’aimais, je t’aime, je t’aimerai“ mitsingen, kommt es zu wahren Gänsehaut-Momenten („Quelle chorale!“). Ihm gebührt auch der Schlusssatz dieses Beitrags, der den Spirit des Paléo besonders gut zusammenfasst: „J’aime mieux ce monde polychrome, où nous sommes des hommes pareils.“