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Algebra trotz BombenKinder in der Ukraine bekommen Online-Unterricht aus Australien

Algebra trotz Bomben / Kinder in der Ukraine bekommen Online-Unterricht aus Australien
Angesichts zerstörter Schulen ist in der Ukraine vielerorts an normalen Unterricht nicht mehr zu denken. Eine australische Initiative soll Abhilfe schaffen. Foto: AFP/Sergej Bobok

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Sie sitzen in Luftschutzbunkern und Schlafzimmern: Über 30.000 Kinder in der Ukraine sind bisher virtuell in Australien zur Schule gegangen. Eine Universität in Melbourne bietet mit ihrem Online-Unterricht ein Stückchen Normalität für die Kinder und Jugendlichen im Kriegsgebiet.

An normalen Schulunterricht ist in der Ukraine vielerorts nicht mehr zu denken. Um den Kindern und Jugendlichen trotzdem ein Gefühl der Normalität zu geben und Bildungslücken klein zu halten, bietet die Monash University in Melbourne eine virtuelle Schule an. Bis Ende April hatten sich 32.600 Kriegskinder eingewählt.

Allein 2022 wurden über tausend kostenlose Online-Kurse für Schulkinder aus der Ukraine, aber auch aus anderen Teilen der Welt wie Myanmar und Afghanistan angeboten. Letztere hätten sich „als unschätzbar wertvoll für diese jungen Menschen erwiesen, denen so viel weggenommen wurde“, heißt es vonseiten der Universität.

Pädagogen arbeiten ehrenamtlich

Die Monash Virtual School gab es bereits, bevor Russland sein Nachbarland angegriffen hat. Über die Plattform erhalten auch Tausende australische Abiturientinnen und Abiturienten Zusatzangebote, unter anderem in Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Psychologie. Das ukrainische Angebot kam zustande, nachdem der Kanadier David Falconer, Gründer der Initiative „Classrooms Without Walls“, der mit der ukrainischen Hilfsorganisation Smart Osvita zusammenarbeitet, die australische Universität um Hilfe bat. Smart Osvita hatte das Online-Programm „Teachers for Ukraine“ direkt nach der Invasion im Februar 2022 ins Leben gerufen.

Viele Lehrer sagen, dass sie dadurch wieder daran erinnert worden seien, warum sie eigentlich Lehrer wurden

David Falconer, Gründer der Initiative „Classrooms Without Walls“

Die Lehrerinnen und Lehrer, die das Programm unterstützen, geben aufgrund des aktuell siebenstündigen Zeitunterschieds ihre Freizeit am Abend auf, um die Kinder in den Konfliktzonen zu unterrichten. Ehrenamtlich, ohne dafür Geld zu verlangen. „Einige Lehrer unterrichten sogar, obwohl sie eigentlich schon in Rente sind“, sagte Michael Phillips, der das Programm für die Monash University leitet. Phillips berichtet, wie viele Lehrer durch das Potenzial der jungen Menschen in der Ukraine geradezu inspiriert seien. „Viele Lehrer sagen, dass sie dadurch wieder daran erinnert worden seien, warum sie eigentlich Lehrer wurden.“ Für David Falconer ist das Programm ein Beweis dafür, „dass nach wie vor Menschlichkeit auf diesem Planeten existiert“.

Die Kinder sind stets die Leidtragenden in einer Kriegssituation. Bereits einen Monat nach der russischen Invasion – am 24. März 2022 – meldete Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, dass der Krieg zur Vertreibung von 4,3 Millionen Kindern geführt habe – mehr als der Hälfte der geschätzten 7,5 Millionen Kinder im Land. „Darunter sind mehr als 1,8 Millionen Kinder, die als Flüchtlinge in Nachbarländer geflohen sind, und 2,5 Millionen, die jetzt innerhalb der Ukraine als Binnenvertriebene leben“, hieß es vonseiten der Kinderhilfsorganisation. „Der Krieg hat zu einer der schnellsten groß angelegten Vertreibungen von Kindern seit dem Zweiten Weltkrieg geführt“, sagte die Unicef-Direktorin Catherine Russell. Dies könne nachhaltige Folgen für kommende Generationen haben.

Auch im zweiten Kriegsjahr gibt es in der Ukraine noch immer keinen sicheren Ort für Kinder. Inzwischen haben Luftangriffe und Explosionen wichtige Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser beschädigt. Laut der Organisation „Save the Children“ sind inzwischen mehr als 500 Kinder in der Ukraine ums Leben gekommen. Seit Februar 2022 sei in der Ukraine jeden Tag mindestens ein Kind getötet worden, hieß es in einer Pressemitteilung Anfang April. Hunderte Kinder wurden verletzt. Zudem mehrten sich die Berichte, dass Russland ukrainische Kinder verschleppt. Eine Recherche der Nachrichtenagentur AP ergab, dass ukrainische Kinder ohne Zustimmung nach Russland oder in von Russland besetzte Gebiete deportiert wurden.

Atempause auch für die Mütter

Angesichts dieser schrecklichen Umstände sind Programme wie die virtuelle Schule ein Lichtblick für die Kinder und Jugendlichen in der Ukraine. Denn sie sind nicht nur Ablenkung und helfen den jungen Menschen, bildungsmäßig nicht allzu sehr abzufallen, sie bedeuten auch ein wenig Normalität und Alltag inmitten des Krieges. Die Schüler wählen sich von zu Hause im Schlafzimmer ein und teils sogar aus dem Luftschutzbunker, während draußen die Bomben fallen. „Dieses Programm hat mir geholfen, einen vertrauten Ort an mir fremden Orten zu finden“, sagte ein ukrainischer Schüler. Es biete quasi Licht, wenn es dunkel sei. Es spende ihm Trost, „Menschen auf der ganzen Welt zu finden, die mich unterstützen und mir Dinge beibringen, die ich ohne dieses Programm nie erfahren würde“. Oftmals seien es simple Dinge, aber wenn der Krieg so nah sei, dass man „seinen faulen Atem hören“ könne, dann sei so etwas sehr wichtig.

Während der Unterricht für Teenager strukturierter ist, sind die Klassen für die Kleineren eher eine „intellektuelle Atempause“, wie Phillips es beschrieb. Es sei wichtig aus sozialer wie auch emotionaler Perspektive. „Wir zeigen ihnen, dass es da jemanden auf der Welt gibt, der bereit ist, Zeit für sie aufzugeben und mit ihnen zu sprechen.“ Bei den Jüngeren sitzen laut Phillips oftmals die Mütter mit im Hintergrund und hören zu. „Auch für sie ist es eine Möglichkeit, von einer schwierigen Situation Abstand zu nehmen“, sagte der Australier. Als besonders beliebt erwies sich eine Stunde, in der ein pensionierter Astronaut eingeladen war, der darüber sprach, wie es war, die Erde aus dem All zu sehen und wie das Leben im Weltraum ohne Schwerkraft funktioniert. Auch eine Zoom-Session mit dem bekannten kanadischen Filmregisseur und Produzenten Sergio Navarretta, der verriet, wie es ist, mit Hollywood-Stars zu arbeiten, kam bei den Kindern und Jugendlichen gut an.

Russische Störenfriede

Phillips berichtete, dass der Unterricht trotz der Sprachbarriere gut funktioniere. „Die sprachliche Herausforderung ist bei Weitem nicht so groß, wie wir uns das dachten.“ Die meisten Schülerinnen und Schüler würden besser Englisch sprechen, als sie gedacht hätten. „Und außerdem haben wir ukrainische Unterstützung“, meinte er. Ein deutlich größeres Problem stellen dagegen russische Aktivisten dar, die sich regelmäßig in die Klassen mit einwählen und versuchen, den Unterricht zu stören. Cybersicherheit ist deswegen ein großes Thema: Standorte, Namen oder andere Details der Teilnehmenden werden geheimgehalten, um deren Sicherheit zu gewährleisten. „Die Schüler müssen weder ihre Kamera noch ihr Mikrofon einschalten, wenn sie es nicht wollen“, sagte der australische Professor.

Neben dem australisch-kanadischen Angebot greift auch die „All-Ukrainian Online School“ den Schulpflichtigen im Land unter die Arme. Die Plattform mischt Online-Angebote mit Unterricht über den Fernseher, da in manchen Regionen der Internetzugang unterbrochen wurde. Auch einige europäische Länder wie Estland, Finnland, Polen und Rumänien bieten über ihre digitalen Lernplattformen ukrainische Inhalte an, die sich an die Kinder in der Ukraine, aber auch an ukrainische Flüchtlingskinder im Ausland richten.