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„Keine normalen, demokratischen Wahlen“

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Nach der Amtsenthebung der katalanischen Regierung Ende Oktober stehen am Donnerstag Neuwahlen an. Alle Vorhersagen deuten auf ein ebenbürtiges Duell der Unabhängigkeitsbefürworter (Independentistas) gegen die spanischen Nationalisten (Unionistas) hin.

Von unserem Korrespondenten Chrëscht Beneké, Barcelona

Nach der Amtsenthebung der katalanischen Regierung Ende Oktober stehen am  Donnerstag Neuwahlen an. Alle Vorhersagen deuten auf ein ebenbürtiges Duell der Unabhängigkeitsbefürworter (Independentistas) gegen die spanischen Nationalisten (Unionistas) hin. Katalonien ist dabei zweigeteilt. Auf den Interviewpartner der Separatisten, Joan Canadell, folgt in einem Folgeartikel die Gegenseite.

Der 50-jährige Joan Canadell i Bruguera ist Industrieingenieur, selbstständiger Unternehmer mit Geschäftsbeziehungen auch ins europäische Ausland und Vater dreier Kinder. Der Aktivist gehört zum ebenso pazifistischen wie harten Kern der langjährigen Unabhängigkeitsbefürworter und lebt im «Vallès Oriental» in der Provinz Barcelona. Bereits 2008 war er einer der Mitgründer des «Cercle Català de Negocis», eines Unternehmerverbandes mit dem Ziel der katalanischen Unabhängigkeit.

Tageblatt: Nach wochenlangen Grabenkämpfen kam es am 1. Oktober schließlich zum – illegalen – Referendum und ebenso zu Polizeigewalt. Wie lautet Ihr Urteil?

Joan Canadell: Offensichtlich ging die katalanische Bevölkerung zum Wählen auf die Straße, obwohl die Verfassung nach Lesart des Partido Popular (PP) und der anderen Unionistas befand, dass es nicht legal sei. Die Umfragen sagen aber, dass 80 Prozent aller Katalanen über ihre Zukunft abstimmen wollen, und trotz aller Verbote wurde massiv gewählt. Viele Bürger verteidigten dabei mit ihren Körpern die Wahllokale und Urnen. Ich halte den Wert dieses Referendums deshalb für doppelt wichtig: Zu wählen ist ein demokratisches Grundrecht, das viele Bürger zudem mit ihrem Einsatz erst ermöglicht haben. Die Reaktion des Staates mit der Polizeigewalt war völlig unangebracht, eine Schande. Schade, dass die Europäische Union darauf nicht entschiedener reagierte.

Laut ihren eigenen Gesetzen wollte die Generalidad (die katalanische Regionalregierung) bei entsprechendem Votum innerhalb von drei Tagen die Unabhängigkeit ausrufen und tat das schließlich nur halbherzig am 27. Oktober. Was halten Sie vom damaligen Vorgehen?

Der 1. Oktober zeigte die Herangehensweise der Zentralregierung. Wenn der Staat Menschen für friedliche Wahlen schlägt, dann stellen Sie sich vor, was nach einer harten einseitigen Unabhängigkeitserklärung „declaración unilateral de independencia“ (DUI) alles hätte passieren können. Ich hielt Tote für sehr wahrscheinlich. Die Generalidad hat mit Intelligenz und Verantwortung gehandelt, der spanische Staat mit Gewalt. Viele Leute, Tausende, auch ich, waren gewillt, unsere Regierung mit unserem Körper zu verteidigen. Der Generalidad war die Gefahr bewusst und sie hat sich für eine Unabhängigkeit in zwei Phasen entschieden. Erst den eigenen Willen klar zeigen. Dann haben wir versucht zu verhandeln und anfangs die DUI sogar suspendiert. Und es wird eine zweite Phase geben, wo wir sie umsetzen werden.

Wenn Sie sagen, dass die Generalidad mit Intelligenz handelt und der Zentralstaat mit Gewalt, hat Sie in der Folge dann nicht die moderate, administrative Umsetzung des Paragrafen 155 überrascht?

Dieser Paragraf sagt nichts darüber, wie er anzuwenden ist, und so kann die Regierung ihn nach Belieben anwenden. Wobei alle anderen Parteien den Versuch der Vorgängerpartei der PP Allianza Popular 1978 als zu weitgehend verwarfen, das Recht Neuwahlen auszurufen in der Verfassung zu verankern. Ich vermute, dass die Europäische Union ihren Einfluss spielen ließ, damit diese Wahlen zum erstmöglichen Zeitpunkt angesetzt wurden und der 155 nur moderat eingesetzt wird. Letztlich ist der EU doch sehr daran gelegen, dass Spanien demokratisch bleibt.

Spanien steckt aber gerade in einer Staatskrise. Wie wird es nach dem 21-D weitergehen, falls die Independentistas die absolute Mehrheit erhalten? Die PP hat ja angekündigt, den 155 einfach weiterzuführen, falls ihr nicht von den Unabhängigkeitsbestrebungen abrückt.

Unsere bisherige Mehrheit war knapp, aber wenn diese Wahl sie bestätigt, dann bestätigt das Volk damit den Weg zur katalanischen Unabhängigkeit und der katalanischen Republik. Das Wie und Wann hängt von den Umständen ab. Man muss dem Versuch eines Dialogs Zeit geben, verhandeln und nach Möglichkeit die Europäische Union für eine Vermittlerrolle gewinnen. Jeder gewinnt, wenn zwischen den Parteien vermittelt wird. Spanien verliert so oder so, denn mit dem wirtschaftlich starken Spanien verlieren sie viel. Doch sie können Katalonien auf die gute oder die schlechte Weise verlieren. Katalonien könnte spanische Staatsschulden übernehmen oder nicht. Den 155 nach Wahlen einfach weiterzuführen, wäre aus demokratischer Sicht jedoch absurd.

Falls aber die Unionistas diese Mehrheit gewinnen, wäre der Weg zur Unabhängigkeit an seinem Ende.

Nein, der Weg wird nur länger. Wenn wir verlieren, müssen wir neue Mehrheiten suchen. Ob das Jahre oder Jahrzehnte dauert, weiß ich nicht. Aber man sollte bedenken, dass dies keine normalen, demokratischen Wahlen sind. Die Köpfe von zwei der Listen sind im Knast oder im Brüsseler Exil, dessen Nummer zwei ebenso im Gefängnis. Der Wahlkampf war nicht gleichberechtigt.

Am wahrscheinlichsten erscheint jedoch ein Patt zwischen den Blöcken mit CeC-Podem als Zünglein an der Waage. Kann daraus überhaupt ein Ausweg aus dieser katalanischen Krise entstehen?

Für mich haben wir erst einmal keine Krise, sondern einen Übergang in Katalonien. Jede Veränderung im Leben, auch wirtschaftlich, verlangt erst einmal eine Investition. An Zeit, Geld, Schmerzen oder Anstrengung. Auf eine unauflösliche Pattsituation müsste es baldmöglichst Neuwahlen unter regulären Bedingungen geben. Europa sollte sich bewusst sein, dass Spanien derzeit eigentlich unter vier wichtigen Krisen leidet: Erstens die sehr hohe Staatsverschuldung. Zweitens die Pensionszahlungen, wo die Extrazahlungen in diesem Monat nur noch mit einem Sonderkredit ausgezahlt werden konnten. Drittens die Demokratie, wo wir bei der Zentralregierung antidemokratische Tendenzen beobachten. Viertens ist die Korruption in Spanien und vor allem innerhalb der PP systemisch. Spanien steht am Abgrund und auch für Europa könnte es in Zukunft besser sein, wenn das wirtschaftlich starke Katalonien in Form einer Republik als Motor der iberischen Halbinsel wirken kann und Spanien nach fairen Verträgen unterstützt.

Die Zentralregierung sagt hingegen, der katalanische Separatismus habe ein wirtschaftliches Problem sowie Indoktrination in den Schulen und Medien.

Bei der Wirtschaft wird viel gelogen: Die Betriebe verlegen nur ihren Sitz, was unter 100 Euro kostet und kaum reale Auswirkungen hat, solange sie in Spanien bleiben. Es geht darum, Katalonien zu bestrafen. Von den rund 3.000 kolportieren Betrieben haben bisher nur etwas über 300 das bis zum Ende geführt. Rajoy ist aber hypokritisch, wenn er die Betriebe unter dem 155 bittet, nach Katalonien zurückzukehren. Schließlich haben sie das Ganze mit einem Gesetz kurz nach dem 1. Oktober erst so ermöglicht. Die katalanischen Zahlen sind aber gut, und unter meinen Kollegen höre ich keine Klagen. Die Indoktrination ist ähnlich verlogen: Bis ich 13, 14 Jahre alt war, durfte ich in der Schule kein Katalanisch reden und lebte unter einer Diktatur. Wer wurde da indoktriniert? Doch die alten Generationen über 50! Meine Kinder haben auch nie erzählt, dass ihnen dieses oder jenes erklärt wurde. Wann sollte das ganze Lehrpersonal ausgetauscht worden sein, mit wem und wie viele Wähler wären seither aus den Schulen gekommen? Ähnliches gilt für die Medien. Wenn TV3 17, 18 Prozent Marktanteil hat, so sind der Rest doch die nationalen Medien, die eine sehr einseitige Sichtweise haben. Bei der geschriebenen Presse haben wir unabhängigkeitsfreundlichere und -ablehnende Tageszeitungen, aber auch feindlich eingestellte nationale Medien, die man hier lesen kann. Im Rest von Spanien gibt es nur die eine Sichtweise.