Seit den Achtzigerjahren ist der Begriff der Action virulent geworden, tatsächlich machte sich sein Aufkommen besonders beim Erscheinen des Films „Die Hard“ (1988) bemerkbar(1). Die Action wurde gleichsam zur narrativen Triebfeder von Filmen, die mit eigenen Franchises bis heute reichen, man denke da an „James Bond“, „Jason Bourne“, „Mission Impossible“, „Taken“. Wo aber noch die jüngeren Bond- oder Bourne-Filme die Identitätskrise des Agenten behandeln, die Taken-Serie auf die Missbräuche eines international operierenden Prostitutionsringes hinweist, die „Mission Impossible“-Reihe nach der Legitimation von Geheimdienstorganisationen fragt, da scheint bei „John Wick“ eine inhaltliche Leerstelle gesetzt und die Reihe deshalb keinerlei realweltlichen Mehrwert anzubieten – eine simplistische Revenge-Story ohne Hintersinn. Ein derartiges Postulat und der daraus erwachsende Vorwurf können indes nur in die Leere laufen, weil der Kunstcharakter der Reihe regelrecht missachtet, übersehen wird. Um sich aber dem Phänomen und dem ungemeinen Erfolg von John Wick zu nähern, muss zunächst sein Ursprung beleuchtet werden.
Ein kleiner filmhistorischer Exkurs
Ob die Action selbst ein Genre sein kann, also die Frage danach, ob die formgebenden Gestaltungsmittel des Films aus sich selbst heraus ein Genre bilden können, wird in der Filmwissenschaft fortwährend debattiert(2). Wenn man von Knut Hickethiers entworfenem, evolutionärem „Phasen-Modell“ ausgeht, dann durchwandert ein Genre Blütephase und Verfall, Genremuster gedeihen, veralten, nutzen ab, verkommen zur Parodie und sterben, Neues wird geboren(3). In Michael Bays „The Rock“ (1996) gibt Sean Connery einen in die Jahre gekommenen Agenten des britischen Geheimdienstes. In Rob Cohens „xXx – Triple X“ (2002) wird gleich zu Beginn ein fein gekleideter Agent im Smoking von russischen Schergen während eines Rammsteinkonzerts erschossen. Die Botschaft, die die Popkultur uns mitteilen möchte, könnte unmissverständlicher nicht sein: Bond is old and out(4).
Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger oder Vin Diesel wurden in der Folge populär, denen das martialische Körperbild, das selbst zur Waffe wurde, genügte; ein Umstand, der den Filmkritiker Georg Seeßlen festhalten lässt: „Die neuen Actionhelden hatten ihren Eros so sehr auf die narzisstische Präsentation des Männerkörpers als Kampfmaschine konzentriert, dass ‚JB‘ in seinem smarten Hotelbar-Dress hoffnungslos veraltet erscheinen musste.“(5) Von dieser Existenzkrise hat sich James Bond nie wirklich erholt. Die Craig-Reihe endete schlussendlich tatsächlich in „No Time to Die“ (2021) mit dem Ableben des berühmtesten Agenten im Dienste ihrer Majestät. Aus dessen seit „Casino Royale“ (2006) absehbarer Asche und neben den veralteten, abgenutzten Körpern eines Schwarzeneggers oder Stallones erhob sich gleichsam dieser John Wick und machte 2014 schnell klar, dass der smarte Hotelbar-Dress sehr wohl ein Signalement für äußerst körperbetonte, spektakuläre Action sein kann.
Nicht nur die Anzüge hat der neue Actionheld von Bond geerbt, sondern auch seine überaus versierten Sprachkenntnisse: Wick spricht – auch wenn er kein Mann der vielen Worte ist – außer Englisch fließend Italienisch, Japanisch, Russisch. Sein Getränk ist der Bourbon. In Chapter 2 wird geradezu lustvoll qua kulinarischer Codes über Waffen und Morden gefachsimpelt, so wie Bond es mit seinem Quartiermeister Q zu tun pflegte. Der Anzug wird ohnehin spätestens ab dem zweiten Film zu einem Bedeutungsträger innerhalb des filmischen Universums. In Chapter 4 kann die finale Schlacht gar nicht erst geschlagen werden, bevor nicht der maßgeschneiderte und kugelsichere Anzug sitzt – „balistic chic“ lautet der Hinweis auf die Verarbeitung. Die Reihe folgt unmissverständlich einem ungemein selbstreferenziellen Steigerungsprinzip, eine Fallhöhe braucht John Wick da nicht zu fürchten, denn sein Fundament ist der popkulturell basierte, nunmehr doppelte Boden der Ironie. John Wick will uns keinen Augenblick weismachen, dass es irgendeinen Bezugspunkt außerhalb des filmischen Universums gibt. Das ist für postmodernes Erzählen nicht ungewöhnlich, zumal sich ein Kernaspekt hier allzu kenntlich macht: Postmoderne Ironie kennt keinen Unterschied zwischen Hoch- und Popkultur, nur das Zitat.
Im Banne Franz Kafkas
So kann auch freilich nicht übersehen werden, wie sehr die „John Wick“-Reihe doch im Banne Franz Kafkas steht, dem hochkulturellen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Denn darum geht es: John Wick ist ein Superkiller im Ruhestand. Seine Frau Helen ist verstorben, einen Hund hat sie ihm zurückgelassen. Als dieser von russischen Gangstern getötet wird, ist eine Gewaltspirale freigesetzt, die Wick wieder zu seinem alten Arbeitsfeld bringt. Aber er will gar nicht mehr „arbeiten“, er will nur noch aussteigen, seine Ruhe haben. Er ist, kurz gesagt, nur noch ein Schatten seiner selbst, jemand, dem nichts mehr im Leben geblieben ist – ein Geist auf der Suche nach einem Grab, heißt es an einer Stelle. Damit er aber aussteigen kann – endgültig aussteigen kann – muss er zuerst wieder einsteigen: Das exemplifiziert der vierte Teil nun über die sogenannte „Hohe Kammer“. Ihr Oberhaupt ist der Marquis de Gramont (Bill Skarsgård), ein modernes Abbild des französischen Aristokraten, ein Sonnenkönig, dem es einzig und allein um den Erhalt der absoluten Macht geht. Er will die Ordnung des Systems wahren, deshalb soll John Wick sterben. Der Hohen Kammer liegt ein kafkaesk-archaisches Regelwerk aus Schuldmünzen, Wappen, Opfergaben, Blutzoll, Zweikampf zugrunde – abstruser kann man diese Unterweltorganisation nicht in Szene setzen. Diese geheim operierende Killergilde ist in Stahelskis Vision eine starre Glaubensordnung, daraus erwächst eine Doktrin mit rückwärtsgewandten Riten, die bis in die Sprache hineinwirkt: Von Exkommunikation und Desakralisierung ist die Rede. Dann stehen da die aberwitzigen, widersprüchlichen Kommunikationswege: Brieftauben, dann Mails, dann wieder zurück zu Pergamentrollen, Smartphones, dann wieder das Kabeltelefon.
In diesem Ablauf totalitärer, längst nicht mehr zu überschauenden bürokratischen Mechanismen fordert eine Gewalttat die nächste. Damit Wick an den Marquis herangelangen kann, muss er zuerst das Oberhaupt der deutschen Verästelung der Hohen Kammer, den Berliner Crime-Boss Killa Harkan, ausschalten. Ja, John Wick verweist nachdrücklich auf die Existenz von Staaten im Staat, hinter jeder Tür verbirgt sich eine weitere; bei Kafka heißt es in „Vor dem Gesetz“ (1915): „Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere.“ Harkan sitzt in der Alten Nationalgalerie, ein neoklassizistisches Gebäude auf der Museumsinsel. In seiner äußeren Erscheinung ist dieser Harkan indes wahrlich das reinste comichafte Produkt der Popkultur, von Scott Adkins mit überaus viel Lust am Grotesken verkörpert. Das Kafkaeske der Situation machte schon das Ende von Chapter 2 ganz deutlich: Wir sind im New Yorker Central Park, auf Wick ist Kopfgeld ausgesetzt, er wird zum Spekulationsobjekt, jäh richten sich alle Passantenblicke nur noch auf ihn, stechende Augen gehen da nur knapp an der Kamera vorbei – ein gern genutztes filmisches Stilmittel der Irritation – plötzlich ist da alles und jeder Teil des Netzwerkes, eine Bewusstwerdung für die allumfassende Absurdität, die dem System innewohnt. Und Wick bleibt nur die Flucht nach vorn.
Kafkas verschlüsselte Untersuchungen von Bürokratie, von Totalitarismus, vom Kampf des Individuums gegen Entfremdung und Entmenschlichung sind zeitlos, zeigen seine Werke doch auf, mit welchen Möglichkeiten schematische und realitätsfremde Dogmen den Einzelnen zerbrechen, und dies auf eine fast unmerkliche Art. Die „John Wick“-Reihe ist deshalb die passende Bühne für Keanu Reeves, eine leere Hülle, der Inbegriff eines nicht weiter definierten Zeichens – und ein psychologisches Profil oder gar eine Tiefe besitzen ein Gregor Samsa oder Josef K. nun wirklich nicht. Reeves spielt das ungemein reduktionistisch; wortkarg und gequält teilt er sich mit, jede Silbe mit Nachdruck betont und gepresst, sogar das Sprechen scheint diesem Körper alles abzuverlangen. Und in dieser Darbietung schleicht sich Reeves’ selbstbewusste Ironie an seinem breit kritisierten Schauspieler-Image wieder hinein: Wenn er den blinden Gegenspieler Caine (Donnie Yen) nicht aus dem Weg räume, müsse die Tochter des japanischen Hotelmanagers selbst zur Tat schreiten, meint diese, worauf Wick mit harter Miene entgegnet: „I under – stand“ – man möchte meinen, er mache aus zwei Wörtern glatt drei. Veraltete Strukturen, die zu bewältigen sind, ist denn auch das zentrale Thema in Chapter 4 und so zeigt der Film, wie solche Kafka-inspirierte Einflüsse möglicherweise zu überwinden sind. Die Regeln sollen zum eigenen Vorteil genutzt werden, um so die Freiheit zu erlangen: Im Louvre unterhält man sich dann bezeichnenderweise vor Eugène Delacroix’ Gemälde „La liberté guidant le peuple“.
Das sind Bezüge, die man freilich nicht überbewerten, aber doch im Hinterkopf behalten sollte – denn ja, sie sind der rote Faden der Geschichte, Leitgedanken, die in der Action eingelagert sind, den Tanznummern des klassischen Hollywood-Musicals nahezu seelenverwandt – nämlich in der Art wie Setpieces bespielt werden, architektonische Räume genutzt werden. Da gilt es etwa den Arc de Triomphe zu umfahren, das Zirkuläre der Bewegung, die Sinnlosigkeit alles Mordens augenfällig ins Bewusstsein gehoben. Wenn mit der Figur des Charon, dem Concierge des Continental-Hotels, der Bezug zur griechischen Mythologie nur lose gegeben war, dann ist sie mit Chapter 4 und dessen Anverwandlung des Sisyphus-Mythos – für Kafka ohnehin eine wichtige Bezugsquelle – nun ganz direkt ins Bild gesetzt: Zweihundertzweiundzwanzig Stufen muss der geschlagene und geschundene John Wick nehmen, bis er zur Pariser Kathedrale Sacré Cœur gelangen kann, bevor er der „Hohen Kammer“ ein für alle Mal entgegentreten kann.
Die mitunter äußerst gekünstelten Dialoge über Freiheit, Regelwerk, Ehrenkodex, Zwang und Determination dienen selbstverständlich mehr dem Aufhänger für spektakuläre bis zum Exzess durchstilisierte und choreografierte Action-Szenen. Darin liegt ja die ganze Virtuosität der Reihe: Sie macht diese Aufhänger zum bindenden Thema der Filme. Die Kampfszenen und Feuergefechte sind so belanglos und inhaltsleer, wie die überbürokratisierten, archaischen Regeln der „Hohen Kammer“, die sie umgeben, sinnfrei und nutzlos sind, die Gewalt aber erst hervorbringen. Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion stehen hier nicht mehr in enger logischer Verknüpfung, sondern heben sich selbst auf. Das „Reiz-Reaktionsschema des Aktionsbildes“(6) ist hier in einer ganz post-postmodernen ironischen Krise angelangt, es folgt keinerlei narrativem Sinn mehr, es ist Selbstzweck für die Zurschaustellung alles Absurden in einer Welt des Absurden, in der sich jegliche Fragen nach Realitätsbezug in reiner Bewegung auflösen. Was dann „bleibt“ sind furiose Actionszenen von ungemein sinn- und logikentleerter Schönheit, die es so noch nicht gegeben hat.
Welten aus Licht, Klangteppiche von Vivaldi
Das Kafkaeske als rahmendes Thema im Rücken, den festen Boden aus intertextueller Ironie unter den Füßen und John Wick kann sich federleicht bewegen, lädt sein Publikum ein, das Auge schweifen zu lassen in einem ästhetischen Kunstprogramm, das im zeitgenössischen Actionkino seinesgleichen sucht. Nicht nur sollen die physikalischen Gesetzte hier nicht mehr greifen, ja die realweltlichen Behörden sind ausradiert. Tauchte zum Beispiel nach einer blutigen Auseinandersetzung im ersten Film an Wicks Haustür noch ein besorgter Polizist auf, so sind in den Folgefilmen jegliche staatliche Ordnungshüter verschwunden. Insbesondere der zweite Teil entriss die Reihe entschieden und unwiederbringlich dem „Realitätsanspruch“ des ersten Films und hob sie in das ganz eigene filmische Universum, mit Räumen, die zuvorderst über die Form errichtet sind, Welten gebaut aus Licht.
Im zweiten Teil befinden wir uns denn auch in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna in Rom und aufschlussreich heißt es da in einem Kommentar: „In dieser Ausstellung verschmilzt das Zusammenspiel von Lichtern und Selbstspiegelungen zu einer Erfahrung, die es uns ermöglicht, unsere Wahrnehmung des Raums und seiner Zerbrechlichkeit auf eine neue Art zu erleben […] ihre Sinne für die Macht der Töne und Geräusche zu schärfen.“ John Wick präsentiert uns Lichtinszenierungen, die in grau-kalten Einrichtungen den filmischen Raum erst schaffen, in ihrer filmischen Präsentation einem James Turrell in Nichts nachstehen und freilich einen hohen Grad an Abstraktion erzielen – dazu im vierten Teil umso mehr grelles Neonlicht: grün, rot, blau, das sich in Wasserfontänen inmitten von Betonklötzen bricht.
Man möchte meinen, Chapter 4 habe seinen Höhepunkt bereits mit der Berlin-Szenerie erreicht, wäre da nicht die Paris-Episode, die den letzten Erzählabschnitt ausmacht, ein – bis in die Musikauswahl hinein – intertextueller Verweis auf Walter Hills „The Warriors“ (1979). Da gibt es eine veraltete Nachrichtenzentrale inmitten des Eiffelturms, WUXIA nennt sie sich, eine Hommage an die fernöstlichen Martial-Arts-Filme. Ja, man möchte meinen, es gibt mehr pop- und hochkulturelle Referenzen in diesen Filmen, wie die Soundkulisse mit ihren auf Synthesizer getragenen Abwandlungen von Antonio Vivaldis „Jahreszeiten“ Noten hat. Der Verweis auf Vivaldi ist denn auch überaus bedeutsam, ist damit doch der Klangteppich geschaffen, auf dem dieser John Wick tanzen kann. Anmutig wie der Tänzer eines Handlungsballetts bewegt sich dieser Körper in langen, äußerst tiefenscharfen, plastischen Einstellungen, in denen ein Ästhetisierungsgrad der Gewalt angestrebt wird, den zeitgenössische Action-Franchises so nicht bieten. Die beiden Stuntchoreografen der Matrix-Reihe, Chad Stahelski und David Leitch, zeichnen für diese Actionstilistik verantwortlich und führen die Martial-Arts-Impulse fort. Allein deswegen müsste längst ersichtlich sein, dass die Gewalt keinen zur Gewalt animierenden Charakter besitzt, denn sie wirkt ob ihrer aufwändigen Choreografie derart hochstilisiert, dass sie ausschließlich und zwingend auf ihren Kunstcharakter – die hellen Syntheziserklänge und tiefen Bassschläge eines Le Castle Vanias haben an diesem rhythmisierenden Effekt erheblichen Anteil – deutet. „John Wick“ ist der Verweis der Kunst auf sich selbst, die kathartische Reinigung alles Gewalttätigen damit gesetzt. Chad Stahelski inszeniert sie in „John Wick“ als kafkaeskes, schwereloses Ballett von äußerster Schönheit. Alles ist da nur noch Bewegung im Bewegtbild. Welten aus Licht. Klangteppiche von Vivaldi. Das Actionkino in Reinform. Das sind keine leeren Phrasen, das ist Avantgarde-Kunst.
(1) Vgl. Thomas Elsaesser: Hollywood heute. Berlin: Bertz u. Fischer 2002, S. 53-96.
(2) Vgl. etwa: David Morin-Ulman: „Qu’est ce que l’action dans un film à grand spectacle?“ In: Frédéric Gimello-Mesplomb (Hg.): Le cinéma des années Reagan: un modèle hollywoodien? Paris: Nouveau monde 2007, S. 65-70.
(3) Vgl. Knut Hickethier: Genretheorie und Genreanalyse. In: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorie. Mainz: Bender 2007, S. 62-96.
(4) Vgl. dazu Simon Spiegel: The Franchise Never Dies. Die vielen Leben des James Bond. In: Thomas Christen (Hg.): Vom Neorealismus zu den Neuen Wellen. Marburg: Schüren 2016, S. 154-175.
(5) Georg Seeßlen: Filmwissen Thriller. Marburg: Schüren 2013, S. 178.
(6) Gilles Deleuze: Das Aktions-Bild. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996.
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