Wie in zahlreichen seiner Lieder besingt Bruce Springsteen in „Jack of All Trades“ einen Ausschnitt aus dem Leben eines Arbeiters, der an das Leben seines eigenen Vaters angelehnt ist. Trotz Rückschlägen und seines unstetigen Beschäftigungsverhältnisses will der Erzähler sich selbst versichern, dass er nicht die Hoffnung verliert. Scheinbar allein, aber mit beruhigenden Worten für sein „darling“, kämpft dieser sich durch eine Zeit des Mangels und nimmt alle ihm angebotenen Verdienstmöglichkeiten an. Er macht Gartenarbeiten, Hausausbesserungen, repariert Motoren und übernimmt Feldarbeit für andere. Für ihn scheint die Vorstellung des American Dream gescheitert zu sein, dass von viel Arbeit und Durchhaltevermögen irgendwann der Wohlstand kommt. Er arbeitet nur, um den Moment zu überleben. Dafür arbeitet er ausgerechnet an Dingen, die den Traum und die Unabhängigkeit anderer Menschen symbolisieren: das eigene Ackerland, das Haus mit Garten und Autos.
Durch den Verlust seiner Arbeitsstelle wurde er gezwungenermaßen zum „Jack of All Trades“. Der sprichwörtliche „Jack of All Trades“ ist aber gleichzeitig auch ein „Master of None“, also jemand, der zwar allerlei Arbeiten verrichten kann, aber in keiner wirklich zu Hause ist. Damit wird er flexibel, aber auch haltlos. Diese Haltlosigkeit und wohl auch ein angegriffener Stolz führen zum Abschluss des Liedes zu einem Ausbruch von Wut auf denjenigen, der aus seiner Sicht diese Situation zu verantworten hat und im Gegensatz zum „working man“ steht – der anonyme „banker man“.
In den Briefen, die Anfang des 20. Jahrhunderts an die Armenverwaltung der Gemeinde Esch geschickt wurden und die heute im Archiv der Stadt aufbewahrt werden, kann man ähnliche Schicksale wiederfinden.
In einer provisorischen Form wurden die Armenverwaltungen der Gemeinden (später auch Wohltätigkeitsbüros oder Armenbüros genannt) bereits 1843[1] durch ein Gesetz ins Leben gerufen, das es den Gemeinden vorschrieb, den ansässigen Hilfsbedürftigen eine Unterstützung zu gewähren und sie, falls möglich, gemeinnützig zu beschäftigen. Erst drei Jahre später wurden die Verwaltungsvorgänge und Pflichten detaillierter im Gesetzestext festgeschrieben.[2]
Die Armenverwaltungen bildeten, abgesehen von religiösen oder privaten Stiftungen und Unterstützungsvereinen, jahrzehntelang das letzte soziale Auffangnetz. Die gesetzliche Einführung einer obligatorischen, wenn auch stark begrenzten Kranken- (1901) und Unfallversicherung (1902) für Arbeiter und Angestellte bestimmter Gewerbezweige sowie einer Alters- und Invalidenrentenversicherung (1911) konnte bei Weitem nicht alle Armutsrisiken bannen.[3] An die Armenverwaltung richteten sich diejenigen Familien, Paare und Einzelpersonen, die aus den verschiedensten Gründen ihre Arbeitsfähigkeit verloren hatten und sich in ärgster Not befanden.
So das Beispiel eines vom Unglück verfolgten Tagelöhners, Michel Dubois* aus der rue du Commerce in Esch. Nachdem er bereits sieben Monate lang an einer Lungenentzündung gelitten hatte und im Dezember 1910 endlich geheilt war, fand er eine Anstellung bei einem Spediteur. Nach nur vier Tagen Arbeit verletzte er sich aber schwer an der Hand bei einer zusätzlichen Dienstleistung für einen Viehhändler. Der Arzt stufte ihn für weitere drei Monate als arbeitsunfähig ein, doch die Familie erhielt kein Krankengeld, weil er die Tätigkeit nicht im Auftrag der Spedition verrichtet hatte. Er wandte sich mit einem dreiseitigen Brief an die Armenverwaltung und schloss mit: „So bin ich dann für die Dauer meiner Arbeitsunfähigkeit gänzlich mittellos u. ohne jegliche Einkünfte. Da ich aber eine Frau und fünf Kinder zu ernähren habe, so möchte ich bei den Wohlgeborenen mit der Bitte einkommen, um gütige Gewährung einer kleinen monatlichen Unterstützung für die Dauer meiner Arbeitsunfähigkeit, damit meine Familie in dieser Zeit nicht gänzlich Not u. Elend preisgegeben sei u. nicht allzusehr zu darben brauche.“[4] Der Familie wurde für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit eine Unterstützung von 20 Franken im Monat gewährt (zum Vergleich: Ein Grubenarbeiter konnte damals am Tag 3 bis 4 Franken verdienen[5]). Diese Hilfen durften in den Augen der Gemeinden nur das absolut Notwendigste abdecken. Situationsabhängig konnte die Hilfeleistung verschiedene Formen annehmen. Die Hilfe in Form einer frei zu verfügenden Geldsumme war selten. Häufiger wurde von der Armenverwaltung direkt mit den Vermietern der Hilfsbedürftigen abgesprochen, dass sie die Mietkosten für einige Monate übernehmen würde, was die Hilfesuchenden zwar von der Wohnungslosigkeit rettete, aber auch dafür sorgte, dass sie für ihren Lebensunterhalt immer noch ein eigenes kleines Einkommen erarbeiten mussten. In anderen Fällen wurden die Kosten von sozialen Einrichtungen übernommen, z.B. bei Hospizaufenthalten wegen Krankheiten oder für die Unterbringung von Kindern in Waisenhäuser, wenn ein alleinerziehender Elternteil finanziell überfordert war.
Der Protagonist in Bruce Springsteens Lied erwartet keine Hilfe von außen. Vielleicht ist es auch sein Stolz, der ihn daran hindert, überhaupt zu fragen. Die Mehrzahl der in den Dossiers noch erhaltenen Briefe an die Armenverwaltung wurde von Ehefrauen arbeitsunfähiger Männer und von Witwen verfasst. Ob dies darauf zurückzuführen ist, dass die Frauen oft die Hauswirtschaft verwalteten und einen besseren Überblick über die finanzielle Lage des Haushaltes hatten, oder ob die Männer aus Stolz keine Hilfe fragen wollten, ist heute nicht mehr zu klären.
Es zeigen sich aber auch viele Fälle, in denen die Ehefrauen oder die Witwen versucht haben, die Beschaffung des Haupteinkommens selbst zu übernehmen. So der Fall des Ehepaares Kieffer-Weber*, wohnhaft in der „Schneier“, aus den Jahren 1910 und 1911. Die 66-jährige Haushälterin Marie Weber* und ihr Ehemann, der 73-jährige Grubenarbeiter Nicolas Kieffer*, beschrieben ihre Lage im September 1910 wie folgt: Beide Eheleute könnten nicht mehr „ihr eigenes Brot verdienen“. Bisher war der Lohn des Ehemannes und ihres Sohnes ausreichend gewesen, um den Haushalt zu ernähren, doch Herr Kieffer hatte wegen seiner schlechter gewordenen Sehkraft und aufgrund von Altersschwäche bereits im August 1910 seine Arbeit aufgeben müssen, und der Sohn hatte nun seine eigene Familie gegründet. Frau Weber musste mit ihrer Tätigkeit als Haushälterin und zusätzlich als Tagelöhnerin in der Feldarbeit versuchen, ein Einkommen zu erzielen, doch letztere Tätigkeit war mittlerweile nicht mehr ertragreich gewesen. Das Armenbüro half ihnen drei Monate lang mit 20 Franken monatlich. Der kränkliche Ehemann wurde im Oktober in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Krankenkasse seines ehemaligen Arbeitgebers, des Stahlunternehmens Le Gallais, Metz & Cie., übernahm die Pflegekosten lediglich während der gesetzlich erforderten dreizehn Wochen, und das Einkommen der Ehefrau reichte schlussendlich nicht aus, um die weiteren Kosten zu tragen. In diesem Fall übernahm das Armenbüro zwei Monate lang die Pflegekosten.[6]
Nicht jedem Bittsteller wurde Hilfe zugesagt. Abgelehnt wurden Anfragen von Personen, die von der Polizei als „arbeitsscheu“ angesehen wurden, an Alkoholabhängigkeit erkrankt waren oder deren übrige Familienmitglieder ein ausreichendes Einkommen hatten. Es wurde (und wird auch heute) vom Code Civil erwartet, dass die Ehepartner, die Eltern oder die Nachkommen den in Not geratenen Familienmitgliedern helfen.
Diese konnten aber den Ausfall nicht in jedem Fall ausgleichen, wie der letztgenannte Fall des Ehepaares Kieffer-Weber zeigt. Vereinzelt verweigerten Familienmitglieder, die es sich laut den Recherchen der Armenverwaltung eigentlich hätten leisten können, die Nothilfe. In diesen Fällen übernahm die Armenverwaltung die Kosten und versuchte, die Familienmitglieder gerichtlich zur Rückzahlung zu zwingen.
Ausländer, die sich weniger als sechs Jahre dauerhaft im Land befanden, riskierten zudem, falls sie auch nur die Dienste eines Hospizes in Anspruch nahmen und die Rechnung an das Armenbüro weitergeleitet wurde, samt ihren Ehepartnern und Kindern in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden.
* fiktiver Name
[1] Gesetz vom 4. Juli 1843 über das Hülfs-Domicil.
[2] KönigI.-Großhgl. Beschluß vom 11. Dezember 1846, N° 2442.
[3] Mehr über die Entstehungsgeschichte der Sozialversicherungen in Luxemburg, in: Braun, Michael, Die Sozialversicherungen in Luxemburg 1897-1940 Gesetzgebung und soziale Wirklichkeit, in: ZVersWiss 69 (1980), S. 643-669; Ders., Entwicklungsphasen der luxemburgischen Sozialversicherung bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Hémecht, Zeitschrift für Luxemburger Geschichte, Jg. 34, Nr. 1, 1982, S. 63-91; Scuto, Denis, La naissance de la protection sociale au Luxembourg. Le contexte économique et social, les acteurs et les enjeux politiques, in: Bulletin luxembourgeois des questions sociales, vol. 10 (2001), S. 39-59.
[4] Archives de la Ville d’Esch, Dossiers der Armenverwaltung (domicile de secours), Dossier Nummer 463.
[5] Ebd., Dossier Nummer 804.
[6] Ebd., Dossier Nummer 813.
Zum Autor
Daniel Richter ist Doktorand am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) der Uni Luxemburg. Er forscht zur Sozialgeschichte der Stadt Esch und arbeitet am Esch2022-Projekt „Remixing Industrial Pasts in the Digital Age“. Die virtuelle Ausstellung zum Projekt können Sie besuchen auf https://minett-stories.lu.
This Hard Minett Land
Bald ist es so weit: Seit März haben das Tageblatt, das Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH) und capybarabooks die LeserInnen jeden Freitag zu einer besonderen Entdeckungsreise durch Luxemburgs Süden eingeladen: Rund vierzig SchriftstellerInnen und HistorikerInnen ließen sich von Bruce Springsteens Songs inspirieren und schrieben Texte über das luxemburgisch-lothringische Eisenerzbecken, „de Minett“, sowie über diejenigen, die dort leben und gelebt haben.
Begleitet wurden und werden die Texte in deutscher, englischer, französischer und luxemburgischer Sprache von Illustrationen des Luxemburger Künstlers Dan Altmann. Im November erscheinen sie versammelt in Buchform bei capybarabooks. Bestellen Sie jetzt! „This Hard Minett Land“ wird Ihnen dann sofort bei Erscheinen versandkostenfrei zugeschickt.
Susanne Jaspers & Denis Scuto (Hg./dir.)
This Hard Minett Land
Mit Illustrationen von Dan Altmann
ca. 256 Seiten
20 x 12 cm, Klappenbroschur
25,00 Euro
Erscheint im November 2022
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