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Forum / Israels Weg Richtung Abgrund
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Mein aktueller Besuch in Israel fällt mit einer Phase beispielloser politischer Turbulenzen zusammen. Ein Gesetzespaket der radikalen rechten Regierung zur Entmachtung der Justiz wurde inzwischen in Teilen verabschiedet, was bei vielen die Befürchtung weckt, die robuste freiheitliche Demokratie dieses großartigen Landes würde untergraben.

Da Israel keine formelle schriftliche Verfassung hat, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sein Oberster Gerichtshof und seine Justiz unabhängig bleiben. Das ist schließlich, was eine freiheitliche Demokratie ausmacht: nicht allein freie und faire Wahlen, sondern auch Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und angemessene Mechanismen zur Kontrolle der Macht von Exekutive und Legislative.

Die „Reformen“ der Regierung werden dazu führen, dass sich Israel allmählich zu jener Art illiberaler Demokratie entwickelt, die man in der Türkei und Ungarn antrifft. Der langfristige Schaden für die Volkswirtschaft könnte so schwerwiegend sein, dass sich diese viel beschworene „Start-up-Nation“ bei einer Fortsetzung dieses judikativen Staatsstreichs der Regierungskoalition zu einer „Nation im Absturz“ mit sich stark verschlechternden wirtschaftlichen Aussichten entwickeln könnte.

Der Widerstand gegen die „Reformen“ umfasst nicht nur die linke Hälfte der Bevölkerung, sondern auch viele Mitglieder der regierenden konservativen Likud-Partei sowie die dynamischsten Segmente der israelische Wirtschaft: die Technologieunternehmen, auf die 50% der Exporte, 25% der Staatseinnahmen, 400.000 gut bezahlte Arbeitsplätze und (bei Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf andere Sektoren) über 20% vom BIP entfallen.

Israels Sicherheit gefährdet

Die meisten Führungskräfte und Arbeitnehmer israelischer Technologieunternehmen sind weltliche Liberale, und viele dieser Unternehmen planen nun, ihre Tätigkeit im Laufe der Zeit ins Ausland zu verlagern. Dies ist problemlos möglich, weil sie kaum physisches Kapital nutzen und sich stärker auf Wissen, immaterielle Vermögenswerte und hochmobile, technisch beschlagene Arbeitskräfte stützen.

Zugleich fahren ausländische Wagniskapitalgeber bereits ihre Neuinvestitionen in Israel zurück, und selbst viele Normalbürger erwägen, ihre Ersparnisse außer Landes zu bringen. Die „Reformen“ dürften zudem viele Juden in den USA, Europa und weltweit davon abhalten, nach Israel umzuziehen oder sich dort zur Ruhe zu setzen – und viele im Ausland arbeitende oder studierende Israelis könnten sich entschließen, nicht nach Israel zurückzukehren. Am alarmierendsten freilich ist, dass die Regierungsagenda sogar Israels Sicherheit gefährdet. Laut CNN drohen tausende israelische Reservisten – das Rückgrat des israelischen Militärs –, aus Protest den Dienst zu verweigern.

Die Zusammensetzung dieser Proteste ist bedeutsam, weil die extremem ultraorthodoxen Männer, die die Regierungskoalition unterstützen, nicht in den Streitkräften dienen, keine naturwissenschaftlichen Fächer studieren, keine wichtigen Mitglieder der Erwerbsbevölkerung sind und kaum Steuern zahlen. Im Gegenteil: Sie erhalten hohe Transferleistungen, die mit der Größe ihrer Familien ansteigen.

Hätte Israel ein angemessenes, faires Transfersystem, das durch eine progressive Besteuerung finanziert würde, würde das die Nutznießer dazu anhalten, in den Staatsdienst zu gehen (wenn schon nicht zum Militär), marktgängige Studiengänge zu studieren, erwerbstätig zu werden und damit auch Steuern zu bezahlen. Es gibt eine Menge Likud-Mitglieder, die derartige sinnvolle Reformen unterstützen würden. Gegenwärtig jedoch sind die meisten Ultraorthodoxen in einem Kreislauf aus Armut und Abhängigkeit vom Staat gefangen.

Israel ist zudem wirtschaftlich gespalten zwischen Technologie- und anderen großen und mittelständischen Unternehmen einerseits und den Kommunalverwaltungen und kleineren Unternehmen andererseits. Während die erste Gruppe im Allgemeinen von Korruption frei ist, sind in der zweiten bei Baugenehmigungen, Gewerbeerlaubnissen und anderen kommunal regulierten Tätigkeiten Bestechung und Vetternwirtschaft weit verbreitet. Noch schlimmer ist, dass andere Reformvorschläge tüchtige Beamte durch inkompetente, korrupte Lakaien ersetzen würden, was die Wirtschaft zusätzlich der Dynamik und Innovationskraft berauben würde.

Eine wirtschaftliche Stagnation droht

Die Pläne der Regierung laufen daher auf eine Zeitbombe hinaus, weil die Rating-Agenturen es schon bald als gerechtfertigt ansehen könnten, Israels Kreditwürdigkeit herunterzustufen. Bei einer Abwanderung von Technologiefirmen und anderen Unternehmen ins Ausland wird die Steuerbasis der Regierung schrumpfen, was die steigenden Transferleistungen an die Ultraorthodoxen untragbar machen würde.

Im Verbund mit der Erosion des Rechtsstaats wird die sich verschlechternde staatliche Haushalts- und Verschuldungslage mit der Zeit die Versuchung stärken, die Unabhängigkeit der Notenbank in Frage zu stellen, um die steigenden Defizite monetisieren zu können. Falls Israel diesem Kurs folgt, ist das Ergebnis vorhersehbar. Man braucht sich nur anzusehen, was sich derzeit in der autokratisch regierten Türkei abspielt, wo die Inflation dieses Jahr 58% erreichen dürfte.

All diese Faktoren werden das Wachstum bremsen und letztlich womöglich zu wirtschaftlicher Stagnation und sogar zur Rezession führen. Und am meisten darunter leiden werden ebenjene extremistischen armen Gemeinschaften, die die radikalen Rechtsreformen der Regierung so lautstark unterstützen. Wenn der Aktienmarkt fällt, werden die Zinskosten für den öffentlichen und den privaten Sektor steigen, und der Wertverlust der Währung wird die schon jetzt im Anstieg begriffene Inflation zusätzlich befeuern.

Es mag wohl sein, dass Israel gewisse Justizreformen braucht. Doch angesichts des Fehlens einer formellen Verfassung bedürfen derartige Veränderungen der Unterstützung eines breiten Bündnisses unterschiedlicher Kräfte und nicht einer knappen Parlamentsmehrheit, die von extremistischen, antidemokratischen und theokratischen Parteien kontrolliert wird. Es ist zu hoffen, dass die Likud und sein Vorsitzender, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, erkennen, dass sie nicht nur Israels Demokratie untergraben, sondern auch seine Wirtschaft, seinen Arbeitsmarkt und den Wohlstand und die Sicherheit der Nation.

Der Schaden hat gerade erst begonnen; daher ist noch Zeit, den Kurs zu wechseln. Doch falls die Regierungskoalition im Laufe der nächsten dreieinhalb Jahre dieser Legislaturperiode weiterhin extreme Gesetze verabschiedet, wird die „Start-up-Nation“ zum völligen Erliegen kommen.


Nouriel Roubini
Nouriel Roubini Foto: Project Syndicate

* Nouriel Roubini ist Professor emeritus für Volkswirtschaft an der Stern School of Business der New York University, Chefökonom des Atlas Capital Team und der Verfasser von „Megathreats: 10 Bedrohungen unserer Zukunft – und wie wir sie überleben“ (Ariston, 2022).

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2023. www.project-syndicate.org