* Zum Autor
* Djavad Salehi-Isfahani ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Virginia Tech, Research Fellow am Economic Research Forum in Kairo und Mitglied der Initiative „Naher Osten“ des Harvard Kennedy School Belfer Center.
Fußball ist der bei weitem beliebteste Sport im Iran. Dass die Iraner sich jetzt gegen ihre Nationalmannschaft wenden, die sich vorher als beste asiatische Mannschaft qualifiziert hatte, zeigt, wie tief die Wunden sind, die die Proteste in die Psyche des Landes gebrannt haben. Je stärker die Bewegung wächst und je weiter sich die Proteste aus Teheran in die Provinz ausdehnen, umso umfassender werden auch die Forderungen der Protestierenden. Ihre Forderung nach einem Ende der Belästigungen durch die Sittenpolizei eskalierte schnell zum Ruf „Tod dem Diktator“, der sich gegen den 83 Jahre alten Obersten Führer Ayatollah Ali Chamenei richtet.
Reformen von innen
Das Überleben des Regimes scheint durch diese Krise nicht ernsthaft in Gefahr zu sein. Den Protestierenden fehlen die Mittel zum Sturz der Regierung und die Machtelite lässt sich wahrscheinlich nicht spalten. Zum Glück für das Regime zwingen seine Feinde im Ausland die verschiedenen Faktionen zur Einigkeit. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman und Israels ehemaliger und vermutlich auch künftiger Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, die beide die Proteste unterstützen, sind im Iran vermutlich die beiden meistgehassten Personen. Und die Vereinigten Staaten haben eine lange Liste misslungener Regimewechsel in Afghanistan, Syrien, Libyen und im Irak auf dem Gewissen, die gescheiterte oder total destabilisierte Staaten hinterlassen haben.
Mit dem brutalen Vorgehen der Islamischen Republik gegen die Proteste hat sich die Regierung nun aber nicht nur von den jungen Menschen im Land, sondern von mehreren Generationen von Iranern endgültig entfremdet. Iraner mittleren Alters, deren Elterngeneration gegenüber der Revolution grundsätzlich loyal war, haben in ihrer eigenen Jugend nicht versucht, das System zu stürzen, sondern eher, es von innen zu reformieren. Sie wählten Politiker, die nicht nur materiellen Wohlstand, sondern auch mehr Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen versprachen.
In den letzten zwanzig Jahren haben iranische Reformer wenig erfolgreich versucht, die Islamische Republik toleranter zu machen. Der ehemalige Präsident Mohammad Chatami, der 1997 ins Amt gewählt wurde, setzte sich bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2005 für einen „Dialog der Zivilisationen“ ein. Präsident Hassan Rohani, der von 2013 bis 2021 im Amt war, versprach eine gemäßigtere Gesellschaftspolitik und wollte die Beziehungen zum Westen verbessern und eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen erreichen. Selbst Ex-Präsident Mahmud Ahmadineschad, der 2005 als Hardliner gewählt wurde, stellte sich später gegen seine konservativen Förderer und entwickelte seine eigene Form von Reformismus. Seit er 2013 aus dem Amt ausgeschieden ist, spricht er sich für mehr individuelle Freiheit und die Abschaffung der Sittenpolizei aus (eine Forderung, die das Regime inzwischen erfüllt hat).
2021 sorgten frustrierte Hardliner für die Wahl eines zutiefst konservativen Klerikers, des derzeitigen Präsidenten Ebrahim Raisi, um der Öffentlichkeit zu beweisen, was echte islamische Revolutionäre erreichen können. Sie hofften, eine durch und durch konservative Regierung könne im Inland für Wohlstand sorgen, Irans Stellung als Regionalmacht festigen und den Wunsch nach Reformen und Annäherung an den Westen in der Bevölkerung ausrotten.
Die Wut der Jugend
Als sich dieser Wohlstand nicht einstellte, schoben die Hardliner Irans schlechte Wirtschaftslage auf die Sanktionen des Westen, neoliberale Reformen früherer Regierungen und die übergroße Abhängigkeit von globalisierten Märkten. Manche machten sogar das wirkungslose Atomabkommen von 2015 für die wirtschaftlichen Probleme des Landes verantwortlich. Raisi, der mit nur 18 Millionen Stimmen (von 59 Millionen Wahlberechtigten) ins Amt gewählt wurde, hat weder das Mandat noch genug Erfahrung, um seine Versprechen wahr zu machen und eine Einigung mit dem Westen zu erzielen, die Inflation zu zügeln und den Währungsverfall zu stoppen.
Die Konservativen im Iran traf der Ausbruch der Proteste ziemlich unvorbereitet. Dass sich junge Frauen schon seit Jahren durch die Pflicht zum Tragen des Hidschab von den Behörden drangsaliert fühlen, wurde von den Konservativen kaum bemerkt. Im Gegenteil: Schon seit 2019, also noch vor der Wahl Raisis, drängten Hardliner auf die verstärkte Überwachungen von Frauen im öffentlichen Raum. Viele fanden, es sei an der Zeit, die laxe Durchsetzung des Hidschab-Gesetzes von 1983 zu verschärfen, durch das „unislamisch“ gekleidete Frauen kriminalisiert wurden. Dass sie sich damit direkt gegen den Zeitgeist wenden und die Bekleidungsvorschriften in den wohlhabenderen Vierteln iranischer Städte schon früher zu Protesten gegen den Hidschab geführt hatten, schien bei ihnen keine Alarmglocken auszulösen.
Was dem Regime entgeht, ist die Tatsache, dass sich die iranische Gesellschaft seit dem Jahr 1983, als die meisten Frauen den Hidschab freiwillig trugen, grundlegend gewandelt hat. Damals lebten die meisten Frauen ein völlig anderes Leben; sie hatten im Schnitt sechs bis acht Schwangerschaften, nahmen nicht am Erwerbsleben teil und waren nicht so gut ausgebildet. Die Politik der frühen Islamischen Revolutionäre zur Armutsbekämpfung brachte Strom, sauberes Wasser und Gesundheitsversorgung in ländliche und arme städtische Gebiete und verbesserte das Leben unzähliger Frauen. Heute heiraten die Frauen im Iran Mitte oder Ende 20 und haben im Schnitt zwei Kinder. 38 Prozent aller iranischen Frauen zwischen 20 und 30 haben eine Hochschulausbildung, im Vergleich zu 33 Prozent der Männer in dieser Altersgruppe. Für sie ist schon die Vorstellung, von der Sittenpolizei verhaftet und in ein Umerziehungslager gesteckt zu werden, unerträglich.
Raisi, der versprochen hat, in seiner vierjährigen Amtszeit pro Jahr eine Million Arbeitsplätze und eine Million neue Wohnungen zu schaffen, muss man zugutehalten, dass er sich vor allem auf seine ehrgeizigen wirtschaftlichen Ziele konzentriert. Allerdings entstanden in seinem ersten Jahr im Amt nur 374.000 neue Arbeitsplätze in der Wirtschaft. Es liegen uns keine Daten dazu vor, wie viele Wohnungen in diesem Zeitraum gebaut wurden, aber man kann wohl davon ausgehen, dass es weit weniger als eine Million waren.
Ein Jahrzehnt voller Wirtschaftskrisen hat die Wut der Jugend weiter angeheizt. Junge Iraner warten nach dem Hochschulabschluss im Schnitt 2,5 Jahre auf ihren ersten Job. 2021 war fast die Hälfte aller Frauen zwischen 20 und 30 Jahren mit einem Bachelorabschluss und ein Viertel ihrer männlichen Altersgenossen arbeitslos. Die meisten Iraner in ihren späten 20ern wohnen noch bei ihren Eltern, weil sie es sich nicht leisten können, eine eigene Familie zu gründen.
Bei seinem Versuch, die Unruhen zu unterdrücken, wird das Regime wahrscheinlich merken, dass es viel leichter ist, die verhasste Sittenpolizei abzuschaffen, als ein anhaltendes Wirtschaftswachstum zu schaffen. Angesichts der Tatsache, dass der Iran Russlands Krieg in der Ukraine unterstützt, scheint eine Wiederbelebung des Atomabkommens ebenso unmöglich wie die Aussicht, dass der Iran im absehbarer Zukunft wieder voll in die Weltwirtschaft integriert wird.
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