Jahrelang gab es kaum Seehunde an den Stränden der belgischen Küste. Seit dem Jagdverbot in den 1960er Jahren hat sich die Population in der Nordsee deutlich erholen können. In den letzten Jahren sind die Säugetiere häufiger am Strand zu finden. Verletzte oder erkrankte Tiere werden in der einzigen Seehundstation Belgiens in Blankenberge behandelt. Diese wird vom Aquarium und Schutzzentrum für Meereslebewesen Sea Life Blankenberge betrieben.
Das Sea Life gehört zu den beliebtesten Attraktionen in der Umgebung und steht auch bei Luxemburgern hoch im Kurs, insbesondere bei Familien. Haifische, Schildkröten, Seepferdchen und andere Meerestiere bilden eine magische Unterwasserwelt. Von der Seehundstation hingegen erhalten die Besucher nur einen winzigen Einblick. Kranke und verletzte Tiere brauchen viel Ruhe und Distanz zum Menschen und sind in einer Quarantänestation untergebracht, wie uns Tierpfleger Jonathan Meul erklärt.
Auch wenn die Tiere noch so lieb aussehen, darf eines nicht vergessen werden: Es handelt sich immer noch um ein Wildtier. Demnach soll eine Bindung zwischen Tier und Mensch verhindert werden, sagt der Experte.
Der Natur etwas zurückgeben
Die Mitarbeiter der Aufnahmeeinrichtung pflegen zwischen 20 und 30 Seehunde jährlich. Ihr Ziel ist es, diese schnellstmöglich wieder ins Meer zu entlassen. Seit 1998 werden hier kranke und verletzte Tiere, wobei es sich häufig um Welpen oder nur wenige Monate junge Waisen handelt, aufgenommen. Die Verletzungen seien häufig auf Bisse von Hunden oder Füchsen zurückzuführen, erzählt Jonathan Meul. Die Seehunde lassen sich gerne am Strand nieder, um sich dort auszuruhen – und sind dann vor allem als Jungtiere eine leichte Beute für Füchse. Auch würden Hundebesitzer ihre Hunde frei laufen lassen oder gar auf die Meeressäuger hetzen. Andere Verletzungen seien auf Fischernetze, Schiffe, Sportbootfahrer und Wassersportler zurückzuführen. Die Diagnosen lauten häufig Infektion, Lungenwürmer-Befall oder Unterernährung.
Die Pflege der Fundtiere ist sehr intensiv und dauert im günstigsten Fall zwei bis drei Monate. Neben der medikamentösen und oder chirurgischen Behandlung durch einen Fachtierarzt erfolgt eine angepasste Fütterung. Diese verläuft in der Regel über vier Phasen, wie uns der Chefpfleger erklärt. Für Welpen gibt es in der ersten Phase eine fettreiche Fischsuppe. Falls der gesundheitliche Zustand es erfordert, werden die Tiere zuerst über einen Plastikschlauch gefüttert und bekommen schrittweise mundgerechte Fischstücke. Dann bieten die Pfleger ihnen per Hand ganze Fische an, bis die Meeressäuger die Fische selbstständig und ohne Hilfe essen können. Ab diesem Zeitpunkt meiden die Pfleger ihre Schützlinge, um den Übergang zur Auswilderung zu vereinfachen.
Das Entlassen der aufgepäppelten Seehunde findet mehrmals im Jahr statt. Für die Tierpfleger, aber auch für Schaulustige ist dieser Moment sehr emotional. „Im Moment der Freilassung der Schützlinge habe ich das überwältigende Gefühl, der Natur etwas zurückgegeben zu haben“, sagt Meul. Das sei der schönste Dank seiner Arbeit.
Ein Tierarzt aus dem benachbarten Ort Brügge, der einzige Spezialist Belgiens für Seehunde, untersucht einmal wöchentlich alle Tiere in der Aufnahmestation. Neuzugänge kommen sofort in Quarantäne und werden umgehend vom Tierarzt untersucht und gegebenenfalls medizinisch behandelt. Erst wenn die Neuankömmlinge wieder zu Kräften kommen und jegliche Infektionskrankheiten ausgeschlossen sind, erfolgt ein Transfer in ein gemeinsames Becken.
Fünf wichtige Regeln
Nicht jedes Fundtier wird in der Seehundstation aufgenommen. Häufig rufen besorgte Spaziergänger im Sea Life an, weil sie ein Exemplar am Strand gesichtet haben, erklärt der Cheftierpfleger. In den meisten Fällen würden sich die Meeressäuger am Strand ausruhen und wohlauf sein. Jonathan Meul gibt dann auch fünf wichtige Verhaltensregeln mit auf den Weg.
Man solle immer einen Mindestabstand von 30 Metern einhalten – ideal seien 100 Meter und noch mehr. Auf keinen Fall solle man die Tiere berühren, füttern oder mit Sand oder Gegenständen bewerfen. Auch solle man nicht versuchen, Wasser über die Tiere zu schütten. Hunde sind auf jeden Fall anzuleinen und fernzuhalten. Treffen sie auf Seehunde, können sich beide Seiten schwer verletzen. Darüber hinaus solle man sich nie zwischen Mutter und Jungtiere stellen oder ihnen den Fluchtweg zum Meer versperren. Der Grundsatz lautet: Sind die Tiere nicht verletzt, atmen ruhig und haben keinen Ausfluss aus Maul, Nasenöffnungen oder After, sollte man sie einfach ruhen lassen. Im Zweifelsfall sowie bei verletzten oder offensichtlich kranken Seehunden kann man die Notrufnummer 112 benachrichtigen oder sich an die Sea-Life-Tierrettung unter der Nummer 0477 345 890 wenden.
In einem Telefongespräch versuchen die Tierretter sich anhand der vom Anrufer beantworteten Fragen ein Bild der Lage zu machen. Gegebenenfalls können per WhatsApp auch Videos und Fotos übermittelt werden. Wenn das Tier gefährdet ist, alarmiert das Sea-Life-Zentrum ehrenamtliche Mitglieder vom belgischen North Seal Team. Die Freiwilligen wohnen entlang des gesamten Küstengebietes und sind somit schnell zur Stelle.
Die intensive Behandlung kranker oder verletzter Tiere ist mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden. Sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen können die Seehundstation durch Spenden und Patenschaften unterstützen.
Jonathan Meul
Der heutige Chefpfleger begann vor sechs Jahren im Sea Life zu arbeiten. Er hat Agrar- und Biotechnologie in der Fachrichtung Tierpflege studiert und die Seehundstation während eines Praktikums und anschließend eines Ferienjobs aus nächster Nähe kennengelernt. Vom ersten Tag an stand die Berufswahl für Jonathan Meul fest. Aufgrund seines Fachwissens im Gebiet würde er sich gerne an weiteren Forschungsarbeiten über die Seehunde beteiligen. Dazu gehöre unter anderem ein „Tracking“ der Tiere mittels GPS-Sender, um mehr über ihr Verhalten im Meer zu erfahren. Dies müsse in Absprache und Zusammenarbeit mit dem KBIN (Königliches Belgisches Institut für Naturwissenschaften) geschehen, erklärt Pressesprecherin Delphine Dobbels.
Der Seehund, ein Raubtier
Der Seehund („Phoca vitulina“) gehört der Gruppe der Robben an, die mehrere Arten von aquatischen, vorwiegend im Meer lebenden Säugetieren vereint. Beide Begriffe werden vermehrt als Synonyme verwendet, haben allerdings unterschiedliche Bedeutungen: Die Robbe ist der Oberbegriff, der Seehund die spezifische Art. Die Gruppe der Robben bilden Walrosse, Ohrenrobben und Hundsrobben – zu Letzteren gehört der Seehund.
Auch wenn ihr Aussehen so manchen Touristen dazu verleiten mag, sich zu nähern und Fotos mit dem Smartphone zu machen oder sie gar anzufassen, sollte nie vergessen werden, dass alle Robben Raubtiere sind. Zwischen ihren Beutezügen müssen Seehunde unbedingt die Möglichkeit haben, sich auf ungestörten Sandbänken oder Stränden auszuruhen.
Ihr Hauptlebensraum ist das Meer. Sie kommen an der Nordsee, den Küsten des Nordatlantiks und auf den Sandbänken des Wattenmeeres vor, teilweise auch an der Ostsee. Unter Wasser orientieren sie sich dank ihrer Schnurrbarthaare, Vibrissen genannt, welche auch bei der Beutejagd zum Einsatz kommen. Sie sind exzellente Schwimmer, können bis zu 200 Meter tief tauchen und unternehmen häufig großflächige Wanderungen. Weibchen können bis zu 150 cm groß und 85 kg schwer werden, Männchen bis zu 180 cm und 120 kg – anders als beim Cousin, dem Seeleoparden, bei dem die Weibchen größer und schwerer als die Männchen sind. In freier Wildbahn werden Seehunde bis zu 35 Jahre alt.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde der Seehund gejagt – aufgrund der Annahme, er würde den Fischern die Fischbestände wegfressen. Es wurden sogar Prämien für abgeschossene Seehunde, aber auch für Kegelrobben verliehen. Heutzutage machen Umweltgifte und im Meer entsorgter Abfall den Tieren Probleme. (gia)
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