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Frans Timmermans im Interview: „Es ist wichtig, dass die Mitgliedstaaten Verantwortung übernehmen“

Frans Timmermans im Interview: „Es ist wichtig, dass die Mitgliedstaaten Verantwortung übernehmen“
Der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, über den Rechtsstaat, die Verantwortung der Mitgliedstaaten und die Migrationspolitik.

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Der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, über den Rechtsstaat, die Verantwortung der Mitgliedstaaten und die Migrationspolitik.

Der Aufgabenbereich des Ersten Vizepräsidenten der EU-Kommission besteht unter anderem darin, darauf zu achten, dass die EU-Staaten die Grundwerte der EU beachten, das heißt vor allem die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte. In Polen hat die regierende nationalpopulistische PiS eine Justizreform verabschiedet, die nach Ansicht der EU-Kommission gegen das grundlegende Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der EU verstößt. Wir sprachen darüber mit Frans Timmermans, der nicht nur Polen, sondern auch Ungarn und die anderen EU- Mitgliedstaaten im Auge behalten muss und sich ebenfalls mit der Migrationsfrage befasst.

Tageblatt: Seit dem Gipfel vergangene Woche ist die automatische Verteilung von Flüchtlingen quasi vom Tisch, nachdem sich die EU-Staaten darauf geeinigt haben, Asylsuchende nur noch auf freiwilliger Basis aus kontrollierten Zentren, wo sie bei ihrem Eintritt in die EU untergebracht werden sollen, zu verteilen. Ist das die Einführung der selektiven Solidarität in der EU?
Frans Timmermans: Wenn Sie sehen, was wir seit 2015 gemacht haben, ist das schon ziemlich erfolgreich. Ich glaube, mehr als 95 Prozent der Leute, die umverteilt werden konnten, sind auch tatsächlich umverteilt worden.

Aber man ist noch weit von den anvisierten 160.000 entfernt.
Ja, aber es gab keine 160.000, die diesen Antrag gestellt haben. Von denen, die einen Antrag gestellt haben oder hätten stellen können, bleiben vielleicht noch ganz wenige. In dem Sinne ist es ein Erfolg. Die Vorschläge, die jetzt besprochen worden sind und die wir als Kommission noch analysieren müssen, gehen in dieselbe Richtung. Da ist davon auszugehen, dass Solidarität gezeigt wird. Ob diese Solidarität nun von Brüssel auferlegt werden muss oder ob Mitgliedstaaten von sich selber sagen, dass sie die Verantwortung haben? Letzteres ist natürlich besser. 2015 hatten wir ein massives materielles Problem. Da wussten alle Mitgliedstaaten, dass es schiefgehen wird, wenn wir das nicht zusammen schaffen. Da zählten weniger die politischen Unterschiede, als dass man zusammen eine Lösung findet. Jetzt, da die Zahlen so niedrig sind, ist es nicht unbedingt notwendig, politische Unterschiede aufzulösen, denn man hat weniger Risiken, wenn man keinen Kompromiss sucht. Warum aber ist diese Krise die wichtigste Krise? Ich glaube, eine Finanz- oder Bankenkrise spürt man nicht so genau. Da redet man von vielem Geld und Solidarität, aber man kann es nicht sehen oder spüren.

Aber es gibt schon viele, die das gespürt haben, in Griechenland, in Irland, in Portugal.
Ja, aber man sieht es nicht. Bei der Migrationsfrage sieht man das konkret in allen Dörfern, in allen Städten. Man sieht die Menschen, die Bilder von dem, was auf dem Meer geschieht. Und diese Migrationskrise kam, als die Leute schon ziemlich verunsichert waren wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Da hatten wir in unseren europäischen Gesellschaften eine allgemeine Verunsicherung. Das dauert ziemlich lange, bis wir das wieder gelöst haben.

Haben Sie den Eindruck, dass die Migrationspolitik zunehmend von den Populisten und Nationalisten bestimmt wird?
Das hängt von uns ab. Ich glaube, die Leute sind verunsichert. Wenn wir zeigen können, dass die Europäer kollektiv imstande sind, diese Fragen zu beseitigen, dann glaube ich nicht, dass Populisten noch davon profitieren können. Die Leute wissen aber auch, dass wir uns noch eine oder zwei Generationen mit der Immigrantenfrage auseinandersetzen müssen. Man braucht sich nur die Demografie in Europa und Afrika und die wirtschaftlichen Unterschiede anzuschauen. Wir können dafür sorgen, dass es eine Migrationsfrage, aber keine Migrationskrise gibt. Dazu müssen wir unsere Außengrenzen besser schützen, wir müssen Abkommen mit den Herkunftsländern haben, wir müssen uns kollektiv gegen Schlepper wehren und wir brauchen auch eine innereuropäische Solidarität. Langfristig brauchen wir auch eine legale Immigrationspolitik.

Warum aber wird kaum über die legale Möglichkeit der Einwanderung geredet? Warum kommt da nichts?
Wir müssen erst dafür sorgen, dass wir den Leuten die Angst vor der Migration wegnehmen. Das können wir, indem wir zeigen, dass diese Frage beherrschbar ist. Dann kann man mit den Menschen auch über legale Immigration reden, vorher geht es nicht. Politiker, die verantwortungsvoll sind, müssen jetzt schon begreifen, dass wir ohne legale Immigration diese Frage überhaupt nicht lösen können.

Kommt da was von der Kommission?
Wir haben schon einen Vorschlag für legale Einwanderung gemacht. Das ist aber nicht die Priorität. Wenn wir diese Frage nicht in eine ganzheitliche Politik fassen, werden wir sie nie lösen. Wir müssen alles machen, und zwar gleichzeitig, auch legale Immigration. Wenn die Mitgliedstaaten endlich einmal davon überzeugt sind, dass wir es nur zusammen schaffen, wird es schon gelingen.

Wie geht es Ihrer Ansicht nach mit dem Rechtsstaatlichkeitsverfahren in Polen weiter? Wird sich Warschau in Ihrem Sinne bewegen?
Ich hoffe es noch immer. Wir sind immer zum Dialog bereit. Wir haben heute (am Montag, Anm. d. Red.) ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Polen haben ein entsprechendes Aufforderungsschreiben erhalten und haben nun einen Monat Zeit, um darauf zu antworten. In dem Verfahren geht es um das Oberste Gericht in Polen. Dort wurde das Renteneintrittsalter von 70 auf 65 Jahre heruntergesetzt und gleichzeitig dem Präsidenten der Republik das Recht eingeräumt, auf Antrag der betroffenen Richter ihre Amtszeit verlängern zu lassen. Es wurden allerdings keine Kriterien festgelegt, die der Präsident bei seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, und es besteht keine Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung. Das heißt, dass rund 40 Prozent der derzeitigen Richterinnen und Richter am Obersten Gericht in Rente gehen müssen. Wir sind der Meinung, dass das vertragswidrig ist, da diese Maßnahmen gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und auch der Unabsetzbarkeit von Richtern verstoßen.
Ich glaube, der europäische Weg geht immer über den Dialog. Wir als Europäische Kommission haben aber auch den Auftrag, für die Einhaltung des Vertrags zu sorgen, wie ein Schiedsrichter bei einem Fußballspiel. Wenn einer sich nicht an die Regeln hält, dann müssen wir tätig werden. In diesem Fall aber, das ist neu, ist der Rat (die EU-Mitgliedstaaten, Anm. d. Red.) jetzt auch aktiv geworden.

Das heißt, die Kommission erhält in dieser Angelegenheit jetzt auch Unterstützung von den Mitgliedstaaten?
Ich finde, der Rat verhält sich sehr verantwortungsvoll. Wir hatten schon über viele Jahre Probleme mit Mitgliedstaaten. Und da hat der Rat immer gesagt, die Kommission solle sich darum kümmern. Die Mitgliedstaaten wollten sich da nicht einmischen. Jetzt aber ist der Rat selbst aktiv geworden. Ich glaube, das ist für die Zukunft Europas unheimlich wichtig, dass nicht nur die Kommission und das Europäische Parlament, sondern auch der Rat sich da einmischt. Die Mitgliedstaaten sagen: Wir haben eine kollektive Verantwortlichkeit und die erfüllen wir jetzt auch. Wir wollen, dass Polen weiß, dass wir nicht einverstanden sind mit dem, was in Polen passiert.

Das ist so wichtig in einer Zeit, in der die Fragen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eigentlich in der ganzen Welt zur Diskussion stehen. Da finde ich es wichtig, dass auch die Mitgliedstaaten eine gewisse Verantwortung spüren und auch übernehmen.

Würden Sie die notwendige Einstimmigkeit im Rat zusammenbekommen, wenn es im Falle Polens hart auf hart käme?
Die ungarische Regierung hat schon gesagt, dass sie nicht zustimmen wird. Ehrlich gesagt: Die Reise ist wichtiger als das Ziel, das bedeutet der Umstand, dass wir jetzt im Dialog sind. Die Kommission hat sieben konkrete Punkte vorgebracht, bei denen sich etwas ändern muss. Viele Mitgliedstaaten sind bei der Anhörung im Ministerrat auf diese Punkte eingegangen. Damit wissen die Polen, dass es nicht nur das Anliegen der Kommission oder einer Person in der Kommission ist. Hoffentlich hat das einen positiven Effekt auf das, was noch geschehen muss in Polen. Bisher hat die polnische Regierung gesagt, sie würde nichts mehr ändern. Daher müssen wir noch etwas abwarten.

Der Innen- und Justizausschuss des Europäischen Parlaments hat sich vergangene Woche für die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens nach Artikel 7 auch gegen Ungarn ausgesprochen. Wird die Kommission dieser Aufforderung nachkommen?
Wir sind bei Ungarn mit ganz bestimmten Gesetzen nicht einverstanden. Da haben wir schon eine ganze Reihe von Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Wir sind jetzt dabei, auch die sogenannten „Anti-Soros-Gesetze“ zu überprüfen. Wenn wir dort zur Schlussfolgerung kommen, dass es damit ebenfalls Probleme gibt, werden wir ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.

Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass es im Falle Ungarn jetzt und heute ein strukturelles Problem mit dem Rechtsstaat gibt. Ich weiß aber auch, dass Ministerpräsident (Viktor) Orban vorhat, das Grundgesetz zu ändern. Da kann natürlich schon eine Lage entstehen, wo wir sagen müssen, jetzt gehen sie zu weit und wir müssen über Artikel 7 eingreifen. Das ist aber heute noch nicht der Fall. Unsere Erfahrung mit Ungarn ist auch: Die versuchen ziemlich oft, zu schauen, wie weit sie gehen können. Sie haben aber noch immer Respekt vor dem Europäischen Gerichtshof gezeigt und dessen Urteile befolgt.

Wie groß ist die Gefahr einer steigenden Tendenz in den EU-Staaten, die Grenzen der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Demokratie auszureizen?
Ich hatte vor ein paar Tagen darüber eine Debatte mit Madeleine Albright in Amsterdam. Die hat darüber geredet, wie das in Amerika geht. Das ist eigentlich vergleichbar, wenn man Demokratie aufs Neue definiert und sagt: Demokratie heißt fast Diktatur der Mehrheit. Das heißt: Wenn ich die Wahl gewinne, dann darf ich bestimmen, was ein Richter tut, was die Presse schreibt usw. Das ist eine Ideologie, die grundsätzlich gegen das spricht, was wir als Europäer seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben.

Wir haben in unserer Geschichte gesehen, dass man auch über eine Demokratie zu einer Diktatur kommen kann. Wie kann man das verhindern? Das geht, indem wir sagen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte die drei notwendigen Pfeiler sind, um unsere Art von Zusammenleben aufrechtzuerhalten. Man kann die Demokratie nicht gegen die Menschenrechte oder den Rechtsstaat einsetzen. Es ist eine gewisse ideologische Art, die besagt: Ich habe die Wahl gewonnen, dann darf ich doch alles bestimmen. Demokratie ist aber nicht die Diktatur der Mehrheit.

Sollte eine Art Europäisches Semester für Fragen der Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie eingeführt werden? Immerhin ist es so, dass deren Einhaltung für die EU von ebenso großer Bedeutung ist wie die Einhaltung der Haushaltskriterien.
Wir sind dabei, einen Bericht darüber vorzubereiten. Das Europäische Parlament hat bereits Stellung dazu bezogen. Wir müssen eigentlich eine kollektive Überprüfung des Rechtsstaates in allen Mitgliedstaaten haben. Das Parlament hat grundsätzlich recht, wenn es sagt, dass wir eine Struktur schaffen müssen, damit jeder deutlich macht, wie es mit dem Rechtsstaat steht und über alle Mitgliedstaaten eine Debatte stattfinden kann. Damit sollen wir zeigen, dass die Verantwortlichkeit für den Rechtsstaat eine kollektive ist, und nicht nur die einiger Mitgliedstaaten.

Ist es der richtige Weg, die Auszahlung von EU-Struktur- oder Kohäsionsfonds an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und anderer Grundwerte der EU zu koppeln?
Ich finde das den richtigen Weg, aber nicht nur bei den Strukturfonds, sondern bei allen EU-Geldern. Es gibt eine unmittelbare Beziehung zwischen Rechtsstaatlichkeit und Korruption. Wo der Rechtsstaat bedroht ist, gibt es mehr Korruption. Das ist überall auf der Welt so. Ich glaube, die europäischen Steuerzahler haben doch das Recht zu wissen, dass ihr Geld gut ankommt. Wenn in einem Mitgliedstaat deutlich wird, dass es keine unabhängigen Richter gibt und diese Instruktionen von der Regierung oder anderen Autoritäten bekommen, müssen wir als Kommission sagen, dass da etwas schiefläuft. Nur wenn es unabhängige Richter gibt, können wir wieder ohne Probleme Gelder auszahlen. Der Einwand, dass dann die Leute, für die das Geld bestimmt ist (Bauern, Forscher, Studenten, Anm. d. Red.), keines mehr bekommen, stimmt nicht. Der Staat bekommt kein Geld mehr. Der aber bleibt verpflichtet, die Gelder auszuzahlen. Dann muss er es aus seinen eigenen Mitteln bezahlen. Die Bauern werden da nicht zu Leidtragenden.

Die EU-Staaten haben die Entscheidung zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Reform der Eurozone wieder einmal vertagt, jetzt auf Dezember. Wie lange können sie das noch machen – bis zur nächsten Krise?
Wenn man so wie ich in der Kommission arbeitet, sagt man immer, man hätte das schon vor Jahren machen müssen. Jean-Claude Juncker hat sich über viele, viele Jahre dafür eingesetzt. Der weiß ganz genau, wieso das notwendig ist. Wir haben über Meseberg (durch Angela Merkel und Emmanuel Macron, Anm. d. Red.) wieder einen Impuls bekommen, aber …

… der verpufft.
Das hat mit dieser Migrationskrise zu tun, die auch eine Krise innerhalb der Europäischen Volkspartei ist. Welche Richtung wählt man dort? Die Richtung Merkel-Juncker oder ist es die Richtung Orbans? Das sind ziemlich grundsätzliche Entscheidungen, die man treffen muss. Deshalb wurde es noch ein bisschen verschoben.

Jetzt geht es gut mit der Wirtschaft. Doch sogar mit diesem Wachstum haben wir unsere politischen Probleme. Wenn wir nicht auf die nächste Krise vorbereitet sind, wie werden die Probleme dann aussehen? Ich finde, dass wir nicht so viel Zeit haben. Jean-Claude Juncker hat recht, dass wir da wirklich vorangehen müssen. Ich habe auch den Eindruck, dass das von der deutschen Bundeskanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten nachdrücklich unterstützt wird. Ich weiß auch, dass der niederländische Ministerpräsident seine eigenen Gedanken hat. Aber in Europa bauen wir die Zukunft über Kompromisse. Da muss man Mark Rutte einladen und sehen, wo wir Kompromisse finden können. Ich glaube, das wird auch möglich sein. Aber die Zeit wird kurz. In einer Wirtschaftskrise schaffen wir das nicht.