Stabwechsel im englischen Gesundheitswesen: Nachdem das Pflegepersonal seine mehrmonatigen Warnstreiks beendet hat, wollen im kommenden Monat Krankenhausärzte für höhere Einkommen ihre Arbeit niederlegen. Dazu gehören erstmals auch langjährig ausgebildete Spezialisten in Leitungspositionen. Seine Mitglieder fühlten sich „von der Regierung abgewertet“, erläuterte Vishal Sharma von der Gewerkschaft BMA. Verantwortliche im Nationalen Gesundheitssystem NHS appellierten dringend an beide Seiten, zugunsten der Patienten den Disput beizulegen.
Die Pflegegewerkschaft RCN war im Herbst mit der Forderung nach einer deutlich zweistelligen Lohnerhöhung in den Arbeitskampf gegangen. Später einigte sich die RCN-Spitze mit dem konservativen Gesundheitsminister Steve Barclay auf eine deutlich niedrigere Erhöhung sowie zwei Einmalzahlungen von insgesamt umgerechnet 4.384 Euro. Für niedrige Lohngruppen wurde das Jahresgehalt dadurch um bis zu acht Prozent aufgebessert. Während andere Gewerkschaften dem Deal zustimmten, erlitt RCN-Chefin Pat Cullen die Peinlichkeit, dass ihre Mitglieder das Vorhaben im April gegen die Empfehlung der Tarifkommission mehrheitlich ablehnten.
Offenbar haben viele Betroffene seither einen Gesinnungswandel durchgemacht. Die neuerlich notwendige Urabstimmung über weitere Streiks wurde nämlich von der Mehrheit der 480.000 Mitglieder boykottiert; da aber eine Beteiligung von mindestens 50 Prozent gesetzlich vorgeschrieben ist, war das Vorgehen damit gescheitert. Cullen versuchte, die bittere Pille durch kämpferische Rhetorik zu versüßen: Der „Kampf für faire Bezahlung und ausreichend Personal“ sei „keineswegs zu Ende“.
Ärzte auf den Barrikaden
Das stimmt schon deshalb, weil nun die Ärzteschaft erneut die Barrikaden erklimmt. Wie schon im Frühjahr wollen im Juli erneut die Krankenhausärzte streiken. Bisher beschränkten sich die Ausstände auf zwei, höchstens vier Tage. Diesmal sollen die niedrigeren Dienstgrade fünf Tage lang lediglich akute Notfälle betreuen; nach zweitägiger Pause folgen ihnen dann für 48 Stunden die älteren Fachärzte, sogenannte consultants. Deren Urabstimmung ergab eine klare Zustimmung von 86 Prozent für die äußerst seltene Arbeitsniederlegung. Man befinde sich in einer „nie dagewesenen Lage“, analysierte Matthew Taylor vom Verband der Krankenhausträger.
Da im NHS die allermeisten Facharzt-Termine sowie Routine-Eingriffe in Krankenhäusern stattfinden, spüren viele Patienten die seit Dezember anhaltende Welle von Streiks am eigenen Leib. 650.000 Termine mussten abgesagt werden; betroffen sind beispielsweise Menschen mit Verdacht auf Krebserkrankungen oder solche, deren Hüfte oder Knie ersetzt werden muss. Auf der NHS-Warteliste stehen insgesamt rund sieben Millionen Patienten. Die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak hat eine deutliche Reduzierung der Wartezeiten versprochen, die mit jedem weiteren Arbeitskampf schwieriger wird.
Einer Einigung steht vor allem ein anderes Versprechen der Regierung im Weg: Dringend soll die Inflation von zuletzt 8,7 Prozent auf das Langzeitziel von zwei Prozent gedrückt werden. Deshalb seien hohe Lohnabschlüsse nicht möglich, beteuert Gesundheitsminister Barclay immer wieder. Consultants erhielten zuletzt 4,5 Prozent zusätzlich, wodurch ihr Durchschnittseinkommen auf umgerechnet 148.000 Euro stieg.
Pensionsregelung wiederhergestellt
Zudem hat die Regierung die vergleichsweise großzügige Pensionsregelung wiederhergestellt.
Die BMA-Gewerkschaft spricht für alle Dienstgrade und Gehaltsgruppen von einer „Wiederherstellung“ des realen Lohnniveaus; dieses ist angeblich in den vergangenen 15 Jahren um 25 Prozent gesunken, im vergangenen Jahr kam die damals zweistellige Inflationsrate hinzu. Seit dem Finanzcrash von 2008 hat die britische Volkswirtschaft mehrere Schocks erlebt, die zur Reduzierung der Reallöhne führten. Dazu gehören die weltweite Pandemie-Rezession 2020 sowie der Brexit.
Sunak und Barclay zeigten sich zuletzt wenig konziliant. Der Premier machte mit ungeschickten Äußerungen von sich reden, wonach er die Empfehlungen der vermeintlich unabhängigen Besoldungskommission ignorieren werde, wenn dadurch die Inflationsbekämpfung gefährdet sei. Dabei hatte die Regierung zu Jahresbeginn die Ärzte-Forderung von 35 Prozent Plus stets mit Hinweis auf die Besoldungskommission abgeschmettert.
Barclay entzückte am Dienstag seine Partei-Rechte, indem er von seinem „Glauben an die persönliche Freiheit“ sprach. Mit der Parole begründet der Minister, warum sich die Regierung seit Jahren einer stärkeren Besteuerung von Junk-Food verweigert, gleichzeitig aber die Briten immer fetter werden – und Mittel für die Präventivmedizin zusammengestrichen werden.
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