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Mythos in der hiesigen GedenkkulturHatten die Nazis die Auslöschung des Luxemburger Volkes geplant?

Mythos in der hiesigen Gedenkkultur / Hatten die Nazis die Auslöschung des Luxemburger Volkes geplant?
Gauleiter Simon bei seiner Ankunft für eine „Großkundgebung“ in den Limpertsberger Ausstellungshallen Foto: Photothèque de la Ville de Luxembourg

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Am 10. Oktober 1941 organisierte die deutsche Besatzungsmacht in Luxemburg eine Personenstandsaufnahme mit zusätzlichen Fragen über das „Volkstum“. Eigentlich wollte der Chef der deutschen Zivilverwaltung (CdZ), Gauleiter Simon, über diese Erhebung aus den Luxemburgern ein klares Bekenntnis zum Deutschtum herauspressen. Die Resistenzorganisationen machten ihm anhand einer Fälschung einen Strich durch die Rechnung. Dabei legten sie den Grundstein für einen Mythos, der bis heute nachwirkt.

Um die in diesem Beitrag offengelegten Fakten besser einordnen zu können, erachtet der Verfasser es als notwendig, sich eingangs mit den Besonderheiten der nationalsozialistischen Ideologie, also mit dem, was in Luxemburg „Nazismus“ (fr.: „nazisme“) genannt wird, auseinanderzusetzen. In Luxemburg sind nämlich die Nachkriegserzählungen unterschiedlicher Opfergruppen durch eine bewusste oder unbewusste Benutzung falscher Begriffe gekennzeichnet, die zu einer ungerechtfertigten Gleichschaltung der verschiedensten Opfergruppen führen kann. Nicht alle Opfer NS-Deutschlands waren Kriegsopfer, nicht alle Opfer NS-Deutschlands waren Opfer des Nazismus.

Dass die Luxemburger als „reindeutschen Stammes“ betrachtet wurden, war keine Erfindung der Nazis.[1] Dass die germanisch-arische Rasse zur Führung der Welt bestimmt sei, also die höchste aller Rassen verkörpere, war auch keine Erfindung der Nazis.[2] Dass die Luxemburger deshalb de facto zur „deutsch-arischen Herrenrasse“ gezählt wurden, war also auch keine Erfindung der Nazis. Und dass Luxemburg aufgrund seiner angenommenen Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft zu gegebenem Zeitpunkt in das Deutsche Reich eingegliedert werden „müsste“, war auch keine Erfindung der Nazis.[3] All diese Ideen entstanden im 19. Jahrhundert, als die Ideologie des Nationalismus mit der pseudowissenschaftlichen Ideologie der Rassentheorie verknüpft wurde, aus der dann das Konzept des im Kern ausgrenzenden völkischen Nationalstaats entstand.

Völkische Ideen waren in Europa ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus weit verbreitet, auch in Luxemburg.[4] In diesem Weltbild rückte das Volk als ethnische Einheit, als Körper, in den Mittelpunkt nationalstaatlicher und demografischer Überlegungen, das es vor „Degeneration“, durch Einflüsse „minderwertiger“ oder „fremdartiger“ Elemente zu schützen galt. Diese Sichtweise stand der aufgeklärten Vision der „Nation“ als einem Zusammenschluss freier, vernunftbegabter Individuen, egal welcher Herkunft, die sich aus eigenem Willen zu einem gemeinsamen Schicksalsprojekt in gegebenen Grenzen bekannten, diametral entgegen.

NS-Deutschland war der erste Staat, der seine gesamte Politik nach solchen Vorstellungen ausrichtete, mit dem Zweck, das deutsche Volk in seiner Substanz, sprich Erbsubstanz, zu schützen und, wie man heute sagen würde, zu optimieren. Dafür war es notwendig, alles „Fremdartige“ und „Fremdrassige“ herauszufiltern und zu beseitigen. Im 25-Punkte-Gründungsprogramm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), das in München am 24. Februar 1920 angenommen wurde, war der Ton für die spätere Rassepolitik bereits gegeben: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist, Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“, steht in Punkt 4 des Programms.[5] Solche Ideen bestimmten später die Volkstumspolitik des NS-Staates.

In der Praxis führte der Nationalsozialismus zu einer radikalen Aufteilung der Gesellschaft in „Volksgenossen“ und „Volksfeinde“. Wobei auch Personen als „Volksfeinde“ betrachtet wurden, die zwar „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren, aber die „falschen Ideen“ im Kopf hatten, wie z.B. Kommunisten. Da bei diesen Menschen allerdings „das richtige Blut“ durch die Venen floss und sie deshalb als rassisch wertvoll galten, sollten sie nicht durch Sterilisation oder Vernichtung unschädlich gemacht werden, wie Behinderte, Juden, Sinti und Roma und andere, sondern in Konzentrationslagern „umerzogen“ werden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass der Nationalsozialismus eine von Grund auf rassenzentrierte völkische Ideologie war, die anstrebte, alle Elemente, die sie als gefährdend für den arisch-deutschen Volkskörper verstand, so oder so zu beseitigen, an erster Stelle die Juden. Der NS-Staat war ganz nach den Vorstellungen Adolf Hitlers konzipiert worden, nämlich als ein Gefäß, dessen Inhalt die Rasse war.[6] In „Mein Kampf“ hatte Hitler deutlich gemacht, dass der Staat ein Mittel zum Zweck sei. „Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen“, schrieb Hitler im Jahre 1926.[7] Die Luxemburger gehörten zu der Kategorie „gleichartiger Lebewesen“ und waren deshalb nicht dem Untergang bestimmt.

„Genozid“ am Luxemburger Volk?

Vor diesem Hintergrund befassen wir uns nun mit der Entstehung des Mythos, NS-Deutschland habe beabsichtigt, das Luxemburger Volk über den Weg der Zwangsrekrutierung seiner Jugend in die Wehrmacht zu dezimieren bzw. auszulöschen.[8] Auch wenn so manchem Leser eine solche Idee heute als völlig abwegig erscheinen mag, so hält sie sich in bestimmten Kreisen der Erinnerungskultur Luxemburgs hartnäckig bis heute.

In ihrer Masterarbeit „Wahrnehmung des ‚Genozids‘ in Luxemburg“, abgeschlossen an der Universität Luxemburg im Jahr 2016, stellt Laura Hilbert fest, dass der Begriff „Genozid“ zum ersten Mal in der luxemburgischen Politik am 25. Januar 1961 benutzt wurde, dies im Rahmen einer parlamentarischen Debatte zum Gesetzesentwurf betreffend Reparaturzahlungen der Bundesrepublik (BRD) an Luxemburg. Und dies nicht, wie man nun meinen könnte, mit Bezug auf den Judenmord, sondern mit Bezug auf die Zwangsrekrutierung.[9] In einer langen Intervention behauptet der sozialistische Abgeordnete, Romain Fandel, an besagtem Tag u.a. Folgendes: „Au procès des criminels de guerre à Nuremberg, le petit Luxembourg a accusé de génocide les potentats du Troisième Reich, car l’enrôlement forcé des jeunes Luxembourgeois à la Wehrmacht n’était, aux yeux et entre les mains de nos offenseurs que l’instrument diabolique dont ils se servaient pour exterminer la petite nation luxembourgeoise.“[10] Es wird also behauptet, NS-Deutschland habe sich der Wehrpflicht bedient, um einen Völkermord an den Luxemburgern zu begehen. Diese Erzählung wird auch wieder im Jahr 1981 anlässlich der parlamentarischen Debatte um den Beitritt Luxemburgs zur UN-Genozidkonvention von 1948 bemüht.[11]

Die „Genozid“-Idee ist tief verankert in der Luxemburger Erzählung über den Zweiten Weltkrieg, in der bis heute die Zwangsrekrutierten als „Geopferte“ (sacrifiés) für unsere Freiheit, als Märtyrer, verstanden werden. Sie sind die einzigen Luxemburger Opfer der deutschen Besatzungsmacht, denen per Gesetz die Bezeichnung „Opfer des Nationalsozialismus“ zugesprochen wurde.[12] Obwohl sie gezwungen wurden, auf der falschen Seite der Front zu kämpfen, verloren sie dabei nie ihre Rechte und bekamen die gleichen Entschädigungen wie ihre deutschen Kameraden auch (Sold, Urlaub, Pensionsrechte), die manche auch gerne annahmen. Sie wurden weder als Verbrecher noch als Sklaven behandelt, und trotzdem bezeichnen sie sich als „Deportierte“. Ein Blick in ein internationales Wörterbuch müsste genügen, um festzustellen, dass die Begriffe „Deportierter“ und „Deportation“ nicht auf die Zwangsrekrutierten anzuwenden sind.

Dieser Wunsch, als die größten Märtyrer der luxemburgischen Geschichte anerkannt zu werden, führte dazu, dass die Zwangsrekrutierten bestrebt waren, sich selbst an die Spitze der Gedenkkultur Luxemburgs zu stellen. Tatsächliche Opfer der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus und Deportierte im wahrsten Sinne des Wortes, wie die Jüdinnen und Juden und ihre Kinder, blieben in der Nachkriegs-Meistererzählung unerwähnt. Die Begriffe „Opfer des Nazismus“, „Deportierte“[13], „Genozid“ und Holocaust reservierten sich die Zwangsrekrutierten für sich selbst. Noch im Jahr 1991 wurden die Zwangsrekrutierten in einer Broschüre als „Überlebende des Holocausts“ bezeichnet.[14]

Am 12. November 2022 gab der Vorsitzende der „Amicale des Anciens Tambow“ gegenüber einer RTL-Journalistin sogar an, die Zwangsrekrutierung der Luxemburger, Elsässer und Lothringer in die Wehrmacht sei anlässlich der Wannsee-Konferenz getroffen worden. Sie sollten als „Kanonenfutter“ an die Front entsandt werden.[15] Die Wannsee-Konferenz hatte jedoch überhaupt nichts mit Luxemburg zu tun, sondern hatte den alleinigen Zweck, die „Endlösung der europäischen Judenfrage“, d.h. den Holocaust, zu formalisieren. Es war vorgesehen, mehr als 11 Millionen jüdische Menschen zu ermorden. Der Mann hat sich später für seine historisch falsche und ungeheuerliche Behauptung entschuldigt, und trotzdem muss der Frage nachgegangen werden, wo diese Ideen herkommen, wie dieser Mythos entstanden ist.

Personenstandsaufnahme

Am 15. Dezember 1940 wurde in Luxemburg zum ersten Mal für „steuerliche und statistische Zwecke“ eine „Personenstands- und Betriebsaufnahme“ (Recensement fiscal), kurz „Personenstandsaufnahme“, durchgeführt, so wie sie im Deutschen Reich alljährlich am 10. Oktober erfolgte. Die Zähler wurden angewiesen, bei der Frage nach der Staatszugehörigkeit der Luxemburger dürfe nicht „Deutsches Reich“ angegeben werden, da seit dem 10. Mai 1940 eine Änderung in der Staatsangehörigkeit noch nicht eingetreten sei.

Da sich allerdings die Einsammlung und folglich die Auswertung der Zählkarten über Monate dahinzog – am 12. August 1941 hatten immer noch 43 Gemeinden, darunter die Stadt Luxemburg, das Erhebungsmaterial nicht eingereicht – wurde entschieden, auf die weitere Auswertung zu verzichten und die „Sachbearbeiter in den Gemeinden für ein Gelingen der im Oktober 1941 vorzunehmenden Personenstands- und Betriebsaufnahme“ besser vorzubereiten.[16] Der zweite Erhebungsversuch wurde auf den 10. Oktober festgelegt.

Ausgefüllte Zählkarte der Personenstandsaufnahme vom 10. Oktober 1941. Die Luxemburger wurden angewiesen, die Fragen „Muttersprache“ und „Volkszugehörigkeit“ mit „deutsch“ zu beantworten.
Ausgefüllte Zählkarte der Personenstandsaufnahme vom 10. Oktober 1941. Die Luxemburger wurden angewiesen, die Fragen „Muttersprache“ und „Volkszugehörigkeit“ mit „deutsch“ zu beantworten. Quelle: BNL – Fonds luxembourgeois (LW, 09.10.1941, S. 3)

Diese neue Befragung wurde nun dafür genutzt, die Volkstumsverhältnisse in Luxemburg zu klären. Den Luxemburgern wollte man ein klares Bekenntnis zum Deutschtum abringen. Darüber hinaus wollte man das sogenannte „fremde Volkstum“ in vollem Umfang erfassen, einschließlich der Personen, die durch Option oder Heirat die Luxemburger (oder eine andere) Staatsangehörigkeit erlangt hatten. Und man wollte, wie bereits im Dezember 1940, die jüdische Bevölkerung erneut erfassen.

Der Fragebogen wurde also um zwei zusätzliche Fragen betreffend die „Muttersprache“ (Nr. 7) und „Volkszugehörigkeit“ (Nr. 8) erweitert. Des Weiteren wurde die Frage über die „Staatsangehörigkeit“ (Nr. 5) um eine Reihe von Zusatzfragen ergänzt.

Frage Nr. 5 war für die Luxemburger unproblematisch, da die Besatzungsmacht selbst Anweisungen gab, sie mit „Luxemburg“ zu beantworten. Die Ausweitung dieser Frage diente dem verborgenen Zweck, die Ausländer Luxemburgs zu erfassen, mit dem Ziel, sie zu geeignetem Zeitpunkt in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Ganz besonders soll die italienische Bevölkerung im Süden des Landes Gauleiter Simon ein Dorn im Auge gewesen sein, die er gerne aus seinem Regierungsgebiet entfernt hätte. Daran hinderte ihn allerdings der für die „Festigung deutschen Volkstums“ im Reich zuständige Reichsführer-SS Heinrich Himmler, Simons unmittelbarer Vorgesetzter in diesen Fragen. Himmler hielt die Abschiebung der Ausländer erst für nach dem Kriege für opportun.[17]

Problematisch für die Luxemburger waren die Fragen 7 und 8, da der CdZ in den Tagen vor der Erhebung über die Presse und die Nazi-Organisation VDB großen Druck auf die autochthone Bevölkerung ausübte, diese beiden Fragen mit „deutsch“ zu beantworten. Der CdZ wollte aus den Luxemburgern ein klares Bekenntnis zum Deutschtum herauspressen, was ihm dann den Weg für eine vollkommene Annexion des Landes an das Deutsche Reich freigemacht hätte. Die seit langer Zeit im Deutschen Reich erwünschte „Heimführung“ des imaginierten „verlorenen“ deutsch-luxemburgischen Stammes in den Schoss des großen deutschen Muttervolkes wäre damit nicht nur formalisiert worden, sie hätte sogar den Anstrich eines kollektiven Bekenntnisses zu Deutschland erhalten. Gauleiter Simon hätte mit einem solchen Ergebnis in Berlin den Beweis für die Wirksamkeit seiner Germanisierungspolitik geliefert, die er seit seinem Amtsantritt unter dem Begriff „Entwelschung“ betrieb. Die Nazis waren der Überzeugung, dass die deutschstämmigen Luxemburger im Laufe der Geschichte unter französischen kulturellen Einfluss gelangt waren. Würde es gelingen, in den Luxemburgern alles Französische wieder zu löschen, dann bliebe ein rassisch einwandfreier „Volksdeutscher“ übrig, so die These.

Erfundener Goebbels-Brief

Ende September 1941 bekamen die Luxemburger Untergrundorganisationen, nachfolgend „Resistenz“, Wind von der geplanten Personenstandsaufnahme und deren Erweiterung auf Volkstumsfragen. Insbesondere die LVL (Letzebuerger Vollekslegio’n), LFB (Letzeburger Freihéts-Bewegong), die LPL (Letzeburger Patriote Liga) um Raymond Petit aus Berdorf, die LPL um den Öslinger Alphonse Rodesch, die von der LPL-Petit völlig getrennt operierte, sowie die ALWERAJE um Albert Wingert aus Schifflingen, brachten in Rekordzeit Flugblätter in sehr hohen Stückzahlen und mit unterschiedlichem Wortlaut unter die Bevölkerung.[18]

In einer ersten Fassung, die am 1. Oktober 1941 in einer geheimen Druckerei auf dem Rümelinger Friedhof gedruckt wurde, rief die LFB dazu auf, den Fragebogen gar nicht auszufüllen und sogar wegzuschmeißen. Diese Fassung wurde ebenfalls von der LPL-Rodesch und der ALWERAJE weitgehend übernommen. Die LFB ihrerseits revidierte ihre Position einige Tage später und rief nun dazu auf, die Fragen 7 und 8 mit „Lëtzeburger“ zu beantworten.[19] Was war passiert?

Flugblatt der „Letzeburger Patriote Liga“ (LPL) von Oktober 1941 mit dem gefälschten Goebbels-Brief
Flugblatt der „Letzeburger Patriote Liga“ (LPL) von Oktober 1941 mit dem gefälschten Goebbels-Brief

Am 5. Oktober 1941 gab die LPL (Petit) ein Flugblatt mit brisantem Inhalt heraus. Dort hieß es: „Die L.P.L. ist in der Lage den Luxemburger Patrioten dieses durch Spionage in unsere Hände gelangte Schreiben des Reichspropagandaministers Dr. Goebbels, gerichtet an die Zivilverwaltung in Luxemburg, mitzuteilen“. Des Weiteren soll Goebbels, der in Berlin für Volksbefragungen gar nicht zuständig war, Folgendes geschrieben haben: „Werden die Punkte 7. und 8. in dem gewünschten Sinne ausgeführt, so stellen sie ein klares Bekenntnis zum Deutschtum dar und rechtfertigen ohne weiteres den Anschluss …“ Nach der Unterschrift kommt noch ein Notabene (NB), in dem nun das vorher erwähnte Mythos des angeblich geplanten Völkermords an den Luxemburgern ein erstes Mal formuliert wurde. Nicht, wie wir heute wissen, von Goebbels, sondern vom jungen Raymond Petit, einem Gymnasiasten aus Echternach, der mit einigen Freunden im September 1940 die LPL gegründet hatte.

Was sagt uns die NB in Verbindung mit dem Inhalt des erfundenen Goebbels-Briefes? Wenn sich die Luxemburger klar zum Deutschtum bekennen, dann wird Luxemburg ans Reich annektiert, und dann kann der streng geheim zu haltende „eigentliche Sinn dieser Aktion“ sich erfüllen. Und was war dieser Sinn? Nach der Annexion Luxemburgs käme es dort zu einer sofortigen „Generalmobilisierung“, durch die sich die Reichsregierung „eine Aufbesserung der Heeresbestände um 35.000 Mann“ versprechen würde. Diese würden dann „geschickt“ an der Frontlinie eingesetzt werden und „eine entsprechend hohe Verlustziffer bedingen“, was dazu führen würde, dass die Bevölkerung Luxemburgs ergänzt werden müsste. Dadurch würde „der Durchdringung des Landes ein nicht zu unterschätzender Vorschub geleistet“ werden. Es wird also suggeriert, die Jugend Luxemburgs würde auf dem Schlachtfeld geopfert und die Bevölkerung durch Deutsche ersetzt werden.[20]

Raymond Petit, Mitbegründer der LPL und Verfasser des gefälschten Goebbels-Briefes
Raymond Petit, Mitbegründer der LPL und Verfasser des gefälschten Goebbels-Briefes Foto: Coll. MNRDH

Diese hervorragende Fälschung, die nun auch von anderen Resistenzorganisationen unter die Bevölkerung gebracht wurde, tat ihre gewünschte Wirkung. Wenn in einer ersten Fassung das LPL-Flugblatt dazu aufrief, die Fragen 7 und 8 nicht zu beantworten, so wurde dies kurz danach in einer zweiten Fassung korrigiert. Die meisten Flugblätter, die schließlich von den unterschiedlichen Resistenzorganisationen verteilt wurden, sowie die einhergehende Flüsterpropaganda, rief alle Luxemburger dazu auf, die Fragen 5, 7 und 8 mit „Lëtzbuerger“ zu beantworten. Dies soll so massiv geschehen sein, dass der Gauleiter nach der Auswertung einiger Stichproben auf die Veröffentlichung der Ergebnisse verzichtete und wiederum die Personenstandsaufnahme annullieren musste.

Daraus entstand nun der zweite Mythos in dieser Angelegenheit, der bis heute die Gedenkkultur dominiert und besagt, bei der Personenstandsaufnahme habe es sich in Wirklichkeit um ein „Plebiszit“ gehandelt, bei dem sich über 95 Prozent der Befragten eindeutig zum Luxemburgertum bekannt hätten. Was natürlich auch nicht der Wahrheit entspricht, da der Gauleiter die Auswertung der Zählkarten nach einigen Stichproben abbrechen ließ.

In den Tagen vor der Erhebung müssen der Zivilverwaltung bereits Flugblätter in die Hände gelangt sein, denn die Propaganda um die Personenstandsaufnahme nahm von Tag zu Tag Fahrt auf. Am 6. Oktober wurde so nebenbei erwähnt, dass „die unvollständige Ausfüllung von Erhebungspapieren … mit Geldstrafe oder Haft bestraft werden kann“.[21] Diese Drohung wurde am 9. Oktober wiederholt und bekräftigt. So hieß es im Luxemburger Wort auf Seite 3: „Die Nichtausfüllung einzelner Fragen … zieht unnachsichtlich Bestrafung nach sich.“ Es war nun die Rede von einer „kleinen Klique“, die „Unruhe und Aufregung“ verbreite. Es wurde damit gedroht, gegen „Verbreiter unwahrer Gerüchte“ einzuschreiten.[22] Am 8. und 9. Oktober wurde eine handschriftlich ausgefüllte „Zählkarte“ in den Zeitungen abgedruckt (am 9. Oktober in der alten deutschen Schriftweise), die vor allem zeigen sollte, wie ein Luxemburger die Fragen 7 und 8 richtig zu beantworten habe, nämlich mit „deutsch“ (siehe Abbildung). Am 10. Oktober wurde dann noch eine ausgefüllte Karte mit einem italienischen Beispiel veröffentlicht, um zu zeigen, dass eine Italienerin, die durch Option Luxemburgerin geworden war, trotzdem bei den Fragen über Muttersprache und Volkszugehörigkeit „italienisch“ anzugeben habe.

Deutscher Propagandaartikel über die luxemburgische Sprache
Deutscher Propagandaartikel über die luxemburgische Sprache Quelle: BNL – Fonds luxembourgeois (LW, 9.10.1941, S. 3)

Schlussbetrachtungen

Es dauerte bis 1991, bis das Geheimnis um den Goebbels-Brief gelüftet wurde. In einem Schreiben, das unter dem Titel „Il y a cinquante ans“, in der Sondernummer September-Oktober 1991 der Zeitschrift Rappel abgedruckt ist, steht, dass es sich um eine Fälschung „für einen guten Zweck“ handelte.[23]

Zu Kriegszeiten sind solche Propagandamethoden durchaus legitim und können, wie dieser Fall zeigt, ausgesprochen wirksam sein. Dass die Fälschung nach dem Krieg über Jahrzehnte hinweg weiterwirken konnte und sogar politische Entscheidungen beeinflusste, ist aus heutiger Sicht kaum noch nachzuvollziehen. Wie konnte man die Fälschung nicht als solche erkennen? Oder wollte man sie nicht erkennen? Die Rappel-Sondernummer enthält auf jeden Fall Beiträge, aus denen ersichtlich ist, dass das Märtyrer-Mythos immer wieder bei all möglichen Anlässen von Politikern und Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs bemüht wurde, um das außergewöhnliche Kriegsopfer Luxemburgs auf die Zwangsrekrutierung zu konzentrieren. Diese Erzählung stand bis vor kurzem der historischen Wahrheit im Wege.

Der Gauleiter selbst hatte bereits in einer Rede am 21. Oktober 1941 auf die Fälschung des Goebbels-Briefes hingewiesen.[24] Im Oktober 1941 war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Mobilisierung der jungen Luxemburger für Hitlers Krieg im Osten noch gar nicht geplant.

Schließlich wurde die Wehrpflicht dann doch zum 31. August 1942 in Luxemburg quasi zeitgleich mit anderen eroberten Territorien eingeführt. Im Vergleich zu diesen fiel sie allerdings hier weniger drastisch aus. Waren in Luxemburg acht Jahrgänge betroffen (1920-1927), so waren es im Elsass 21 (1908-1928), in Lothringen 15 (1914-1928) und in Slowenien (Untersteiermark) ebenfalls 21 Jahrgänge (1909-1929). Egal, wie groß das Leid der Betroffenen und ihrer Familien auch gewesen sein mag, ein geplanter Völkermord war das nicht. Nicht den 2.848 in Wehrmacht-Uniform gefallenen jungen Luxemburger Männern verdankt unser Land seine Freiheit und Unabhängigkeit, sondern den mutigen Soldaten der Alliiertenstreitkräfte, die Europa vom Nazi-Joch befreiten, sowie denjenigen Luxemburgern, die sich dem Wehrdienst entzogen und dann auf alliierter Seite mitkämpften.

Der Verfasser hatte Mühe, sich einen schriftlichen Beweis für die hier beschriebene Fälschung zu besorgen. Kann es sein, dass ältere Teilnehmer an der Luxemburger Geschichtsschreibung noch immer ein gewisses Unbehagen bei der Offenlegung solcher Tatsachen empfinden? Bevor aber nun ein neuer Anlauf genommen wird, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus Luxemburger Sicht an die nächste Generation weiterzureichen, wird es unumgänglich sein, sich unbequemen Fragen zu stellen und die notwenigen Korrekturen in der Nachkriegserzählung vorzunehmen. Sonst vermitteln wir nämlich nicht Geschichtswissen, sondern Geschichtsklitterung.


[1] Alldeutscher Verein; siehe auch: Hoeniger, Robert: Das Deutschtum im Ausland, 1913 und 1918

[2] Beispiel: Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 1899

[3] Wenn Deutschland im Ersten Weltkrieg siegreich gewesen wäre, wäre Luxemburg zu einem Bundesstaat des Deutschen Reiches geworden. So stand es im „Septemberprogramm 1914“, das am 9. September 1914 von Reichskanzler Bethmann Hollweg in Luxemburg verfasst wurde. Zu dem Zeitpunkt lag das Große Hauptquartier des Kaisers in Luxemburg. https://bit.ly/3KdlpmA

[4] Völkische (ethnische) Ideen bestimmten möglicherweise die strenge Einwanderungspolitik Luxemburgs, nicht nur in den 1930er Jahren, sondern noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem Artikel, der am 18./19. März 2023 im Tageblatt veröffentlicht wurde, hat Denis Scuto darauf hingewiesen, dass noch 1959 die extrem restriktive Einwanderungspolitik gegenüber von Gastarbeitern bestimmt war von der Befürchtung, die „ethnische Zusammensetzung unseres Volkes“ könnte kurzfristig zerstört werden. Gekürzter Link: https://bit.ly/40yfIF7

[5] https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/gruendungsprogramm-der-nsdap-1920.html

[6] Hitler, Adolf: Mein Kampf, Eine kritische Edition, Teil II, München – Berlin 2016, S. 1007

[7] Ebd.

[8] Die Luxemburger wurden von Nazi-Deutschland nicht als eigenständiges Volk, wie es z.B. die Italiener, Franzosen, Polen usw. waren, anerkannt. Für das Deutsche Reich bildeten die Luxemburger einen Stamm, der seiner Geschichte und seiner Kultur nach ein Bestandteil des deutschen Volkes war. Als Nation sollte Luxemburg also mit seinem spezifischen Habitus verschwinden, was allerdings nicht bedeutete, dass die Luxemburger physisch ausgelöscht werden sollten.

[9] Hilbert, Laura: Wahrnehmungen des „Genozids“ in Luxemburg. Anhand des Holocaust und des Armenier-„Völkermords“, Université de Luxembourg, 2016, S. 87

[10] 18e séance de la Chambre des Députés, 25. Januar 1961, S. 507. Bemerkung: Der Nürnberger Prozess fand vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 statt. Völkermord wurde durch die UN erst am 11. Dezember 1946 zu einem „Verbrechen gemäß internationalem Recht“ erklärt. Luxemburg konnte sich also im Rahmen des Nürnberger Prozesses gar nicht auf den Strafbestand „Genozid“ beziehen. Luxemburg trat der UN-Genozidkonvention von 1948 erst am 7. Oktober 1981 bei und schrieb das Verbrechen des Genozids erst am 8. August 1985 in sein Strafgesetzbuch ein (Mémorial A n° 52 de 1985: https://bit.ly/3m2pvor).

[11] Hilbert, op. cit., S. 90

[12] Loi du 25 février 1967 …: https://legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/1967/02/25/n1/jo. Siehe dazu auch: Lorang, Mil: Kriegsverbrechen versus Nazi-Verbrechen, Tageblatt, 18./19. September 2021: https://bit.ly/3KyFsLq

[13] Den in den Osten des Deutschen Reiches zwecks dortiger Ansiedlung umgesiedelten Luxemburgern wurde allerdings am Mémorial de la Déportation, Bahnhof Hollerich, die Bezeichnung „déportés politiques“ zugestanden.

[14] Als Geisel fir Jonglënster, Hsg. Fédération des Victimes du Nazisme, Enrôlés de Force, Luxembourg 8/1991, S. 9

[15] RTL-Journal vom 12. November 2022, https://play.rtl.lu/shows/lb/journal/episodes/r/3309547, 07:32-07:49

[16] Hohengarten, André: Die Personenstandsaufnahme vom 10.10.1941 im Lichte neuer Dokumente, In: Hémecht Nr. 2, 1976, S. 130-132

[17] Ebd., S. 132

[18] Rappel, Spezialnummer, September-Oktober 1991

[19] Ebd.

[20] Rappel op. cit., S. 44

[21] Personenstands- und Betriebsaufnahme vom 10. Oktober, In: LW, 6. Oktober 1941, S. 4

[22] Zur Personenstandsaufnahme, LW 9. Oktober 1941, S 3

[23] Rappel, op. cit., S. 45-49.

[24] LW, 22. Oktober 1941, S. 3

forumpost
18. April 2023 - 9.54

Ich finde es gut, wenn Dinge klargestellt werden.
Als heute 70jährige Tochter eines Zwangsrekrutierten möchte ich allerdings auch darauf hinweisen, dass diese sich ihre Entscheidung nicht leichtgemacht haben. Mein Vater hat mir erzählt, dass er eine Zeitlang auch daran gedacht habe, zu fliehen und sich der Resistenz anzuschliessen, dann aber nicht riskieren wollte, dass seine Eltern und seine Schwester deshalb deportiert werden würden. So kämpfte er also widerwillig auf Seiten der Besatzer und verlor im Russlandfeldzug seine rechte Hand. Ich denke, ein solches Schicksal bei einem knapp 20jährigen berechtigt sehr wohl dazu, sich als Opfer zu bezeichnen.