Es ist ein eher unscheinbarer Vorplatz in Riga. In Sichtweite ist die Vansu-Brücke, die nördlichste der vier Brücken, die im Herzen der lettischen Hauptstadt über den Fluss Daugava führen. Vom anderen Flussufer aus bietet das Rigaer Schloss eine imposante Kulisse. Würde aber nicht ein roter Teppich ausliegen, könnte man als Fußgänger an dem ockergelben Gebäude vorbeilaufen – ohne wahrzunehmen, dass es sich um den Amtssitz des lettischen Staatspräsidenten handelt. Der rote Teppich aber, ausgerollt auf einer vom Schnee geräumten Straße, und eine auf einem Podest aufgestellte Fernsehkamera verraten dem Beobachter, dass es sich nicht um einen normalen Montagmorgen in Riga handelt. Die im Gleichschritt um die Ecke marschierende lettische Militärmusik unterstreicht diesen Eindruck. In dicke khaki-grüne Wintermäntel gehüllt stellen sich die Musiker auf der vom Schloss gegenüberliegenden Straßenseite auf, die Instrumente im Anschlag. Der Atem gefriert beim Ausatmen in der Luft, doch jetzt heißt es für die Soldaten und die anwesende Presse: erst mal warten.
Warten auf den lettischen Staatspräsidenten Egils Levits und Großherzog Henri, der am Montagmorgen auf seiner Staatsvisite in Lettland offiziell in Riga empfangen wird. Mit dem Rücken zum Schloss stellen sich die luxemburgische und die lettische Delegation auf. Auf Luxemburger Seite befinden sich in der ersten Reihe nur Männer, während auf lettischer Seite acht der 14 am roten Teppich aufgereihten Delegationsmitglieder Frauen sind. „Wir haben keine gute Gender-Balance“, wird Außenminister Jean Asselborn dem Luxemburger Wirtschaftsminister und Parteikollegen Franz Fayot später zuraunen – wissend, dass Luxemburg zumindest in dem Punkt kein gutes Bild abgibt.
Die Ankunft der Luxemburger Staatskarosse wird, lange bevor sie ins Sichtfeld der wartenden Pressemeute gerät, vom Sirenengeheul der lettischen Polizeieskorte angekündigt. Am Schloss angelangt wird Großherzog Henri vom lettischen Staatspräsidenten empfangen, während die lettischen Militärmusiker den eisigen Temperaturen den Marsch blasen. Filigran und zielgenau lässt die Piccolo-Flötenspielerin ihre Finger in weißen Wollhandschuhen in der klirrenden Kälte über ihr Instrument gleiten, während der Dirigent den Takt für die lettische und Luxemburger Nationalhymne angibt. Es folgt ein rasches Abschreiten der Truppen, ehe Luxemburger und Letten ins warme Innere des Schlosses flüchten, in dem sich beide Delegationen für eine Unterredung treffen.
Freundschaftlicher Austausch
„Ihr Besuch ist ein Beleg für die engen und freundschaftlichen diplomatischen Beziehungen zwischen unseren Ländern“, sagt der lettische Staatspräsident Egils Levits im Anschluss in seinem Statement an die Presse. Kleine Länder wie Luxemburg und Lettland müssten zusammenhalten, um sich zukünftig gegen jegliche Aggressoren wehren zu können. „Ich weiß unseren Austausch zu Sicherheitsthemen, der EU und der NATO zu schätzen.“
„Die EU muss der Ukraine auch weiter zur Seite stehen“, sagt Levits. „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen – und Russland muss wissen, dass es vor einem Spezialgericht zur Verantwortung gezogen wird.“ Es sei wichtig, dass weiterhin in die Resilienz der Demokratien und die NATO-Grenze zu Russland investiert werde.
Die baltischen Staaten würden ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen wie die Benelux-Länder, meint der lettische Präsident weiter. „Es gibt viele Gemeinsamkeiten im Bereich der Außen-, Energie- und Bildungspolitik“, hebt Levits hervor. Luxemburg zähle zu den zehn größten Investoren der lettischen Wirtschaft. Es sei wohl im Interesse beider Länder, wenn diese Investitionen noch weiter ausgebaut werden würden. „Ich bin mir sicher, dass der Besuch von Großherzog Henri und das Business-Seminar am Dienstag eine weitere Vernetzung fördern werden.“
Flüchtlingshilfe mit Bravour
Die „politischen Turbulenzen“, ausgelöst durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine, seien eines der größten angesprochenen Themen zwischen den beiden Delegationen gewesen, so Großherzog Henri, der auch weiterhin deutliche Worte zum Krieg in der Ukraine fand: „Man kann die Spannung in einem Land spüren, das eine Grenze mit Russland teilt. Wir sind aber zutiefst beeindruckt, wie Lettland der Ukraine hilft und die Aufnahme der zahlreichen Flüchtlinge organisiert.“ Um den Krieg zu beenden, müsse man sich innerhalb der EU und der NATO solidarisch zeigen. Auch Luxemburg habe für ein kleines Land viele Flüchtlinge aufgenommen – „und wir sind stolz, wie wir die Flüchtlinge in Luxemburg integriert haben“.
Die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern seien in der Tat „sehr gut“, so Großherzog Henri weiter. „Wir sind mit einer großen Wirtschaftsdelegation angereist“, sagt das Luxemburger Staatsoberhaupt. Lettland sei ein Land mit einer „économie pointue“ und vielen Start-ups, die für Luxemburg durchaus interessant seien.
Die Staatsvisite wird mit einer Kranzniederlegung am Freiheitsdenkmal und einer Visite im Saeima, dem lettischen Parlament, fortgesetzt, ehe sich die Luxemburger Delegation ins Lettische Okkupationsmuseum weiterbewegt, wo Großherzog Henri bei einer Führung die noch sehr frischen Gräuel der Sowjetokkupation nahegebracht werden. Anschließend geht es per Eskorte noch in die lettische Nationalbibliothek, die das Herz einer jeden Leseratte höher schlagen lässt. An einer Bücherwand, die bis an die Decke des pyramidenförmigen Gebäudes ragt, wird ein zeremonieller Bücheraustausch vorgenommen. Großherzog Henri überlässt der Nationalbibliothek ein seltenes Exemplar eines Buches aus dem Jahr 1870, das über die Festung Luxemburg und deren 1.000-jähriges Bestehen referiert.
Wiedergenesener Asselborn
Per Polizeieskorte geht es anschließend wieder zurück ins Hotel, wo Außenminister Jean Asselborn im obersten Stockwerk des Hotels ein kurzes Pressebriefing abhält. Mit Wucht knallt der wiedergenesene Außenminister einen dicken blauen Aktenordner auf den Konferenztisch und beginnt mit seinen Erklärungen zur Staatsvisite. „Um dieses Land zu verstehen, muss man erst mal seine Geschichte unter sowjetischer Okkupation verstehen“, beginnt Asselborn. Zahlreiche Deportationen unter sowjetischer Besatzung und eine hohe russischsprachige Minderheit würden noch heute den Alltag und auch die lettisch-russischen Beziehungen belasten. Lettland habe ja erst vor knapp 30 Jahren mit der Aufarbeitung der Geschichte beginnen können.
Ein Umstand, der beim Einmarsch der russischen Streitkräfte am 24. Februar eine Rolle spielt. „25 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland war vor einem Jahr auf der Seite Putins“, sagt Asselborn. Das lettische Parlament wolle den Gebrauch des Russischen stark einschränken. Russisch werde in Zukunft auch nicht mehr in der Schule unterrichtet. „Bis zum 1. September haben Russen in Lettland Zeit, einen Sprachentest abzulegen“, erklärt Asselborn. „Sollten sie sich weigern, erhalten sie lediglich noch eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr.“
Krieg in unmittelbarer Nähe
Lettland habe aufgrund seiner geografischen Nähe zu Russland seit Beginn des Krieges für die Unterstützung der Ukraine geworben. „Die Letten haben im vergangenen Jahr ein Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in Hilfe für die Ukraine investiert“, sagt der LSAP-Außenminister. Im Baltikum sei man auch nicht sehr optimistisch, dass „Putin demnächst die Bremse anziehe“. Deshalb müsse die Ukraine gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen, um eine möglichst starke Verhandlungsposition zu erlangen. „Die Ukraine braucht vor allem eines: Munition.“ Luxemburg könne in erster Linie mit finanziellen Mitteln helfen. Auch werde derzeit im Rahmen der Vereinten Nationen daran gearbeitet, militärische Aggressionen juristisch verfolgen zu lassen – die internationale Gerichtsbarkeit sehe das derzeit noch nicht vor.
Die Angst, dass Russland zu jeder Zeit wieder in Lettland einfallen könnte, sei weiterhin sehr präsent. „Putin hat es fertiggebracht, dass die NATO enger zusammengerückt ist“, sagt Asselborn. Zweifel, die in der Vergangenheit an der NATO geäußert wurden, seien mittlerweile kein Thema mehr. Jetzt müssten nur noch Erdogan und Orban einsehen, dass man nicht mit der Angst der Menschen spielen solle. „Es wäre auch nicht gut, wenn nur Schweden und Finnland es in die NATO schaffen würden“, sagt Asselborn. „Bis zu den Wahlen in der Türkei im Mai sehe ich aber nicht, dass noch viel Bewegung in das Dossier kommt.“
Das lettische Parlament wolle den Gebrauch des Russischen stark einschränken. Russisch werde in Zukunft auch nicht mehr in der Schule unterrichtet. „Bis zum 1. September haben Russen in Lettland Zeit, einen Sprachentest abzulegen“, erklärt Asselborn. „Sollten sie sich weigern, erhalten sie lediglich noch eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr.“
Herr Asselborn, finden Sie es korrekt, dass die russischsprachige Minderheit in Lettland erpresst und unterdrückt wird ? Finden Sie es eine gescheite Idee, die russische Sprache aus den Schulen zu verbannen ?
In der gleichen Logik hätte das Großherzogtum Luxemburg die deutsche Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Schulen verbannen müssen. Aber es gab wahrscheinlich einen guten Grund, weshalb man dies nicht getan hat. Nachbarländer können einander nicht ignorieren.