Vor einiger Zeit, es ist noch gar nicht so lang her, ein paar Wochen vielleicht, war ich in der Hiehl. Ich war dort, weil ich ein paar Bekannten die Stadt zeigen wollte. Da gehörte die Hiehl unbedingt dazu. Für mich zumindest. Und das nicht nur, weil die Bekannten aus der Buchbranche stammten und ich jedes Mal, wenn ich in die Rue Renaudin einbiege, meinen Ralf-Rothmann-Moment habe, wie ich ihn nenne. Sondern vor allem wegen des Stadions „Op der Grenz“. Weil wir dort gemeinsam unzählige Wochenend-Nachmittage verbracht und zahllose Auftritte der Schwarz-Weißen verfolgt haben. Wir waren dabei, als Clayton derart fürchterlich gefoult wurde, dass man den Knochen im ganzen Stadion brechen hörte. Und wir haben mehr als ein Match gesehen, bei dem ich heimlich zu Progrès Niederkorn hielt, weil ich den Spieler mit dem Vollbart so attraktiv fand. Das habe ich aber natürlich nie laut gesagt. Die einzige Partie, die ich je ohne dich gesehen habe, war jene, in der die Jeunesse zum letzten Mal den Meistertitel holte … lange her. Du warst an dem Tag beruflich im Ausland unterwegs – darüber hast du dich noch Jahre später geärgert. Kann ich verstehen, war so was von spannend und tolle Stimmung. Aber das habe ich natürlich auch nie laut gesagt.
Während der Spiele standen wir stets auf dem Gradin. Im Hochsommer, wenn wir auf den Betonstufen beinahe gekocht wurden, ebenso wie im Winter, selbst wenn es mal schneite. Die Tribüne war tabu, nur was für Funktionäre. Und für die älteren Herrschaften. Obwohl, die standen eigentlich auch immer mit uns auf dem Gradin. Herr P. zum Beispiel. Ehemaliger Jeunesse-Spieler, noch aus jener Zeit, in der die Fußballer direkt von der Arbeit am Hochofen der Arbed zum Training kamen – oder umgekehrt. Der bei der legendären Begegnung gegen Real Madrid 1959 auf dem Platz gestanden hatte. Herr P. – oder besser: signor P. – hätte gern bei deinem Buchprojekt über die Geschichte und die Küche der italienischen Einwanderer in Luxemburg mitgemacht. Doch seine Frau wollte nicht. Signor P. nahm den Rückschlag mit diesem freundlichen, bescheidenen Lächeln hin, das für ihn so typisch war und das ich nie vergessen werde. Dabei immer die Schëppekap, so eine wie aus diesem Gedicht von dir, auf dem Kopf. Manchmal war sie sogar karéiert. Vor ein paar Jahren ist er gestorben. Kein Wunder, er ging damals schon stramm auf die Neunzig zu. Auch Herr O. ist tot. Es stand irgendwann in der Zeitung. Der vermutlich treueste und engagierteste Anhänger, den die Schwarz-Weißen je hatten. Im Gegensatz zu Signor P. durfte Herr O. bei einem deiner Buchprojekte mitmachen. Natürlich ging es dabei um sein Lieblingsthema: die Jeunesse.
Signor P. und Herr O., und noch ein paar andere, teils ehemalige Spieler, teils lebenslange Fans, sie alle standen mit uns auf dem Gradin, riefen: „Allez Jeunesse!“, ärgerten sich über den Schiedsrichter: „Arrête de siffler, chef de gare!“, oder freuten sich, wenn ein Tor fiel. Natürlich nur, wenn es für uns war. In der Halbzeitpause, das war ein festes Ritual, spazierten wir eine Runde ums Spielfeld. Dann gab es (zur Belohnung, weil ich mal wieder, ohne zu murren, meinen Sonntagnachmittag op der Grenz verbrachte?) ein Battin für mich (meistens am Stand links von der Tribüne, vom Gradin aus betrachtet), bevor du dich am rechten Rand des Gradins (von der Tribüne aus betrachtet) ein Weilchen mit Herrn M. unterhieltst, der nie mit seiner netten Frau, sondern immer mit seinem Hund kam. Der Hund war aber auch nett. Im Anschluss kehrten wir an unseren angestammten Platz auf dem Gradin, genau an der Mittellinie, zurück, ich trank mein Battin und schielte neugierig in die Hinterhöfe der direkt ans Stadion angrenzenden Häuser, während du mit Signor P., Herrn O. und weiteren Zuschauern in unserem Abschnitt des Gradins den bisherigen Matchverlauf diskutiertest.
Das alles ist viele Jahre her. Und dann, als ich vor ein paar Wochen mit den Bekannten aus der Buchbranche ums Stadion herumspazierte, wobei ich ihnen von deiner – stark untertrieben formuliert – Leidenschaft für Fußball erzählte, da habe ich gesehen, dass sie unseren Gradin abreißen. Ich bin froh, dass Signor P. und Herr O. das nicht mehr erleben. Auf dem Rückweg, vorbei an den Keeseminnen, die auch gerade abgerissen wurden, beschlich mich ein komisches Gefühl. Nachdem ich die Bekannten aus der Buchbranche in die fürsorglichen Hände einer kuchenbackenden Buchhändlerin übergeben hatte, stieg ich ins Auto und fuhr an unserem alten Haus vorbei. Die Glyzinie, die immer so prachtvoll über unserem Garagentor blühte und auf die wir so stolz waren – auch wenn wir sie zugleich ein bisschen fürchteten, weil sie dazu neigte, die Regenrohre zu erdrücken – ist weg. Der Gradin, die Glyzinie … ich bin froh, dass du das nicht mehr erlebst. Meet you on the other side.
Zur Autorin
Susanne Jaspers lebt als Verlegerin, Schriftstellerin und Reisebuchautorin in Luxemburg, einem kleinen Dorf in der Nordeifel und im baskischen San Sebastián. Veröffentlichungen (Auswahl): „Der Duschenkrieg – Eine transsibirische Reise“, „Dann drehe ich mich um und gehe – Restaurantgeschichten“, „Donostia/San Sebastián – Die glücklichste Stadt der Welt“ (zus. mit Georges Hausemer), „Luxemburg – Das einzigartigste Großherzogtum der Welt“ (zus. mit Georges Hausemer), „Mit Jean-Claude auf der Hühnerstange – Kuriose Orte in Luxemburg“, „Wir sehen uns in Venedig“ (zus. mit Georges Hausemer), „Moore, Maare und Gangster auf vier Pfoten – Lesereise Eifel“.
This Hard Minett Land – Das Buch
Bald ist es so weit: Seit März haben das Tageblatt, das Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) und capybarabooks die LeserInnen jeden Freitag zu einer besonderen Entdeckungsreise durch Luxemburgs Süden eingeladen: Rund 40 SchriftstellerInnen und HistorikerInnen ließen sich von Bruce Springsteens Songs inspirieren und schrieben Texte über das luxemburgisch-lothringische Eisenerzbecken, „de Minett“, sowie über diejenigen, die dort leben und gelebt haben. Begleitet wurden und werden die Texte in deutscher, englischer, französischer und luxemburgischer Sprache von Illustrationen des Luxemburger Künstlers Dan Altmann. Im November erscheinen sie versammelt in Buchform bei capybarabooks. Bestellen Sie jetzt! „This Hard Minett Land“ wird Ihnen dann sofort bei Erscheinen versandkostenfrei zugeschickt.
Susanne Jaspers & Denis Scuto (Hg./dir.)
This Hard Minett Land
Mit Illustrationen von Dan Altmann
ca. 256 Seiten
20 x 12 cm, Klappenbroschur
25,00 Euro
Erscheint im November 2022
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