Bevor man in die derzeit wohl allerheiligste der zahlreichen Produktionshallen auf dem Gelände der Satellitenbauer Thales Alenia Space in Cannes vordringen darf, ist erst einmal die Garderobe zu ergänzen: Eine Kappe muss die Haare bedecken, die Schuhe werden auch in dünnen Stoff gehüllt und dazu gibt es ein langes, hellblaues Cape. Eine Gesichtsmaske ist nicht notwendig: Die trägt der moderne Mensch ja ohnehin schon, diese Dreckschleuder.
Vor chaotischem Unrat im Mikroformat fürchtet man sich nämlich extrem, wo doch gerade ein Hightech-Wunder für mehr als 500 Millionen Dollar zur Benutzung vorbereitet wird – wobei das fast übertrieben erscheint, wenn man im Inneren der klimatisierten Halle schließlich vor SES-17 steht.
Der neue Kommunikationssatellit, den die Luxemburger auch ihr „neues Flaggschiff“ nennen, ist nämlich ein stattlicher Koloss, der gar nicht so verwundbar aussieht: Mehr als sieben Meter hoch und 6.400 Kilogramm schwer, wird er von einem Spezialgerät (was auch sonst) in schwebender Position gehalten. Die beiden Arme mit den dunkelblauen Solarpaneelen (die bis zu 28 Kilowatt Leistung bringen können) liegen zusammengefaltet am Körper des Satelliten, dessen Außenplatten silbern und golden glänzen. So ziemlich jedes abstehende Teil ist in superisolierende Folien eingepackt – volle 380 Quadratmeter davon wurden verarbeitet.
Alles klar zum Abheben
Wären die Arme ausgebreitet, hinge da eine Hightech-Libelle mit einer Spannweite von 46 Metern in der Halle. Allerdings müssten die Träger dann genauso vor dem Abbrechen geschützt werden wie derzeit die Antennen – die Statik ist schließlich für die Schwerelosigkeit ausgelegt. SES-17 macht sich aber auch und vor allem kompakt, damit er am 22. September Richtung Französisch-Guayana verfrachtet werden kann, zum Weltraumbahnhof Kourou, um in einen Orbit über Amerika, dem Atlantik und der Karibik geschossen zu werden.
Muss also dieses Monstrum, das am 22. Oktober erst der irrwitzigen Kraft eines Ariane-5-Starts und danach der Unwirtlichkeit des Alls (Orbitalposition: 67° West) ausgesetzt sein wird, wirklich vor etwas Staub bewahrt werden?
„Natürlich“, erklärt Martin van Schaick, Senior-Vizepräsident für Vertrieb und Marketing bei Thales Alenia – und liefert einen bestechenden Vergleich: „Stellen Sie sich vor, ein Auto müsste 15 Jahre lang fahren, ohne dass eine Fehlfunktion oder irgendein Ausfall auftreten dürfte, weil eine Reparatur oder jeder Service einfach unmöglich wäre“, gibt er zu bedenken: Hier steht einfach zu viel auf dem Spiel, um irgendein Risiko einzugehen.
Groß, aber oho
Die schiere Größe des Geräts mag verblüffen – und vielleicht sogar anachronistisch wirken. Ist Miniaturisierung nicht der Trend der Stunde beziehungsweise der Technik seit jeher? Wieso ist dieser Satellit, der schnelles Internet in abgelegene, bisher schlecht angebundene Regionen, aber auch in Flugzeuge und auf Schiffe bringen soll, so groß, dass er gerade noch als „Payload“ in die Rakete passt?
Die „Starlink“-Satelliten von Elon Musk beispielsweise erfüllen schließlich den gleichen Zweck, sind aber viel kleiner und wiegen nur etwa eine Vierteltonne. Der Vergleich hinkt – in mehrfacher Hinsicht: Die Geräte des Tesla-Gründers operieren zunächst auf viel niedrigeren Umlaufbahnen, von wo sie nur kleinere Bereiche der Erdoberfläche abdecken können, weswegen sie auch gleich zu Tausenden ins All geschossen werden müssen. SES-17 wird dagegen auf eine Bahn in 36.000 Kilometern Höhe gebracht, von wo aus er einen ungleich größeren Bereich abdecken kann. Als geostationärer Satellit bewegt er sich mit der Rotation der Erde und würde für einen Beobachter am Himmel so stillstehend erscheinen, als sei er am Firmament festgetackert. Letzteres ist aber nur illustrativ gemeint: Mit bloßem Auge dürfte der Satellit nie oder nur selten auszumachen sein – im Gegensatz zu den „Starlink“-Trabanten, deren massenhafte Ansammlung am Himmel Astronomen und anderen Sternenbeobachtern große Sorgen macht.
Auch nicht ganz sorgenlos war man bei SES in jüngster Zeit, allerdings aus eher irdischen Gründen: Das 1985 gestartete Unternehmen hatte seit seiner Gründung eine solide Erfolgsgeschichte geschrieben, vor allem natürlich durch die Etablierung der Astra-Satelliten, zu denen bald Millionen von Satellitenschüsseln in Europa aufschauten. Aber auch an anderen Orten und auf anderen Märkten war SES erfolgreich, zählt mittlerweile über 70 Satelliten in zwei verschiedenen Umlaufbahnen. Doch ein sich veränderndes Umfeld, etwa in der Fernsehnutzung (Stichwort: Streaming), sorgte für Gewinn- und Umsatzeinbrüche – und die Notwendigkeit, neue Umsatzfelder zu erschließen. Die Versorgung von Flugzeugen, Schiffen, aber auch Bodenstationen an Land mit einer Internetverbindung soll nun ein solches sein.
Potenz statt Latenz
Bei der Präsentation in Cannes zeigen sich die Vertreter des Joint Ventures jedenfalls überzeugt, dass der neue Satellit ein Erfolgsmodell ist – auch wenn die Signal-Laufzeiten von SES-17, aus den genannten Gründen, erst mal weitaus größer sind als die von Satelliten auf niedrigeren Orbits. Gerade zeit-sensible Anwendungen wie Spiele oder Onboard-Navigation sind damit kaum zu betreiben. „Ich weiß nicht, wie viele Papers ich zu Latenz bereits gelesen habe“, sagt Ruy Pinto, Technischer Direktor bei SES, und räumt ein, die Diskussionen darum seien natürlich auch nicht ohne Grundlage. Aber es sei für ihn auch klar, dass es weitere, ebenso wichtige Aspekte gebe, unter denen die Signal-Laufzeit nur ein Aspekt sei: „Es geht hier nicht um den Kampf der Orbits, sondern den Service, den wir bieten können.“ Und da sehe man sich als jahrzehntelang erfahrener Betreiber mit einer ausgereiften Architektur, in die der neue Satellit eingeklinkt werden soll, dann doch in einer sehr komfortablen Position.
Der neue Satellit soll seine 170 Strahlen je nach Kundenwunsch sehr flexibel und nahtlos ausrichten und dosieren können, um Datenströme von bis zu 200 Gigabit pro Sekunde je Verbindung zu liefern – im Verbund mit den ebenfalls bald startenden „mPower“-Satelliten, die auf dem niedrigeren „mittleren“ Erdorbit unterwegs sind.
Eine „adaptive Ressourcenkontrolle“ (ARC) soll das hochkomplexe Ballett, das sich am Himmel zwischen den schnell bewegenden Satelliten auf ihren diversen Orbits und am Boden abspielt, zentral und nahtlos choreografieren: Auf die neue, eigens von der Firma Kythera Space Solutions für SES entwickelte Steuer-Software ist Pinto hörbar stolz – gleichzeitig betont er, dass man, „anders als mancher Mitbewerber“, ansonsten sehr auf offene Standards setze und die Kunden nicht in ein Korsett proprietärer Systeme zwinge. Das dürfte tatsächlich ein großer Vorteil sein: Fluggesellschaften und Reedereien sollten etwa deutlich eher bereit sein, auf die Lösungen aus dem luxemburgisch-französischen Joint Venture zu setzen, wenn sich die notwendigen Änderungen in der vorhandenen Architektur in Grenzen halten.
Doch bei allen Superlativen und Verkaufsargumenten, die bei der Präsentation in Cannes vorgebracht werden: Ein Selbstläufer werden die Dienste, die über SES-17 bereitgestellt werden können, nicht werden. Technikchef Pinto zählt in Cannes etwa auf, dass dazu auch das Marktsegment der Internetversorgung per Satellit längst zu umkämpft sei (ein weiterer prominenter Anbieter, der massiv auf den Markt drängen will, ist Amazon mit seinem Project Kuiper). Außerdem können die Gewinnmargen durchaus klein ausfallen: Besonders die Billigfluggesellschaften (der englische Fachbegriff „Low Cost Carriers“ ist kaum vornehmer) werden den Kostendruck, der ihre Geschäftsgrundlage ist, an die Anbieter weitergeben. Immerhin gibt SES aber in einer Prognose einen Brutto-Auftragsbestand von mehr als 740 Millionen Dollar für den Einsatz von SES-17 und den mPower-Satelliten an. Ein wichtiger Kunde, InFlyt Experience, kommt aus der weitverzweigten Thales–Gruppe selbst.
SES-17, der glitzernde Gigant aus Cannes, wird ab Mitte 2022 jedenfalls voraussichtlich 15 Jahre Zeit haben, möglichst viel Geld Richtung Erde (und damit auch in den Haushalt Luxemburgs) zu funken: Dann wird den vier elektrischen Plasma-Steuertriebwerken (mit konventionellen chemischen Triebwerken wäre der Satellit viel zu schwer geworden) die Puste ausgehen – und aus dem heute vorsichtig beschützten Technikwunder ein sehr großes Stück Elektronikschrott.
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Im Wort war auch mal ein Artikel: "Drastischer Gewinnrückgang bei der SES." Der Todeskampf dauert noch ein paar Monate.
"Flugzeuge und Schiffe mit Internet versorgen – und seine Besitzer mit Umsatz." LOL, Letzteres will ich sehen, in18 Monaten sind die bankrott.
@ Tarchamps "Starlink hat bis jetzt schon 1600 Satelliten oben und die hier wollen mit einem Satelliten konkurrieren der 70-80 mal weiter weg ist?" Dieser Satellit war leider schon bestellt, ehe Starlink angefangen hat. BTW jede Woche kommen 60 Starlink-Satelliten dazu.
"Der neue Kommunikationssatellit SES-17 soll in, um und über Nord- und Südamerika Bodenstationen, Flugzeuge und Schiffe mit Internet versorgen " Starlink hat bis jetzt schon 1600 Satelliten oben und die hier wollen mit einem Satelliten konkurrieren der 70-80 mal weiter weg ist?
Danke sehr. Grüße aus der Redaktion
Toller Artikel mit Humor geschrieben ?