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BarrierefreiheitGesetz zum Abbau von Hindernissen

Barrierefreiheit / Gesetz zum Abbau von Hindernissen
Eine oder zwei Stufen können schon ein unüberwindliches Beispiel darstellen Foto: dpa

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Ein Mensch mit Behinderung braucht hierzulande viel Geduld. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 hat Luxemburg 2007 unterzeichnet und 2011 ratifiziert. Wie lange der Prozess der Inklusion dauert, zeigt der Teilaspekt der Barrierefreiheit: Am 1. Juli 2023 ist das neue Gesetz über die Barrierefreiheit von öffentlich zugänglichen Orten, Straßen und gemeinschaftlichen Wohngebäuden in Kraft getreten.

Die Inklusion von Menschen mit Behinderung bedeutet die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Doch was ist, wenn dies schon daran scheitert, dass man ein körperliches Handicap hat und etwa auf den Rollstuhl als Fortbewegungsmittel angewiesen ist und deshalb ein Gebäude oder einen öffentlichen Raum nicht betreten kann?

Als der neue Familien- und Integrationsminister Max Hahn das nicht mehr ganz so neue Gesetz, das er gewissermaßen von seiner Vorgängerin Corinne Cahen (beide DP) übernommen hat, und die damit verbundenen Maßnahmen vorstellt, hat er zu seiner Seite vier Betroffene: Der Blinde Guy Streveler etwa berichtet davon, wie er seine Frau in eine Klinik begleitete und Probleme dabei hatte, sich zu orientieren; Carine Nickels sitzt im Rollstuhl und weiß, wie schwierig es ist, wenn sie ihren Augenarzt aufsucht, weil Arztpraxen oft in Wohnhäusern zu finden sind; Susanna van Tonder (übrigens LSAP-Kandidatin im Zentrum), an Multipler Sklerose erkrankt, spricht vom Mangel an Behindertenparkplätzen; und Jackie Winandy, die gehörlos ist, erklärt in Gebärdensprache, welchen Barrieren sie begegnet.

Die oft gepriesene Barrierefreiheit endete lange Zeit schon für Kinder an der Zugänglichkeit von Schulgebäuden. Ende des vergangenen Jahrzehnts erfüllten dieses Kriterium zwar mehr als drei Viertel der öffentlichen Schulen. Doch was ist mit den anderen Bildungseinrichtungen? Und den vielen Gebäuden? Überall Barrieren, denen Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag begegnen. „Diese Form der Diskriminierung soll mit dem neuen Gesetz ein Ende haben“, sagt Hahn. Schließlich sei das Recht auf Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum ein „wichtiger Pfeiler für eine inklusive Gesellschaft“.

Das gelte für alle öffentlich zugänglichen Gebäude, aber auch den Straßenraum und Mehrfamilienhäuser ab einer bestimmten Größe. Die Neubauten sollen nach dem Prinzip „Design for all“ gebaut werden. Dafür soll ein Zertifikat über die Konformität ausgestellt werden. Neu ist, dass dies nicht nur für Gebäude des Staates oder von Gemeinden gilt, sondern auch für Orte wie Restaurants, Geschäfte, Arztpraxen, aber auch Kirchen und Friedhöfe. Sie müssen mit breiten Türen, Rampen oder Fahrstühlen ausgestattet sein, Parkplätze müssen angepasst werden.

„Teil eines größeren Ganzen“

Lange hat es gedauert, genauer bis zum 2. Dezember 2021, bis das Parlament das 2017 eingereichte Gesetz über die Zugänglichkeit aller öffentlich zugänglichen Orte sowie öffentlichen Straßen und Gemeinschaftswohngebäude verabschiedete. Damals war unter anderem kritisiert worden, dass nur ein sehr kleiner Teil von Wohnungen behindertengerecht zugänglich sein mussten. Weitere anderthalb Jahre gingen vorüber, bis es schließlich am 1. Juli 2023 in Kraft getreten ist.

Doch es ist nur „Teil eines größeren Ganzen“, bestätigt Patrick Hurst, Präsident der Vereinigung „Nëmme mat eis!“ Es ist also ein langer Weg zur Inklusion – und dazu noch steinig. Denn schon der 2012 vorgestellte fünfjährige Aktionsplan, bestehend aus acht Themenfeldern, war stark kritisiert worden. Nachdem dieser abgelaufen war, wurde er bilanziert und kassierte viel Kritik.

Auch die Zwischenbilanz des aktuellen Plans von 2019 bis 2024 fiel nicht befriedigend aus. Nach einem Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG war nur knapp die Hälfte des Halbzeitziels erreicht worden. Die Präsidentin der Vereinigung „Zesumme fir Inklusioun“ (ZeFI), Martine Kirsch, zeigte sich im Dezember 2022 gegenüber dem Tageblatt „enttäuscht von dem, was bisher herausgekommen ist“. Ihr fehlten „konkrete Aktionen“.

Nicht nur, dass dem Anspruch der Menschen mit Behinderungen auf Selbstbestimmung nicht Rechnung getragen wird. Einmal mehr zeigt sich auch die Schwerfälligkeit des Familienministeriums bei der Umsetzung des Aktionsplans. Bis dieser 2024 ausläuft, sollte eigentlich ein neuer, inzwischen dritter Aktionsplan für die nächsten fünf Jahre ausgearbeitet sein. Doch dieser ist noch nicht in Sicht. Ähnlich schleppend sieht es im Schulwesen aus. „Auch hier gibt es noch sehr viele Hürden“, so Patrick Hurst. Gleiches gelte für den Bereich des selbstbestimmten Lebens. So gebe es noch keine „persönliche Assistenz“.

Was die Berufswelt angeht, hielten viele Firmen noch immer nicht die Quoten ein, was die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen angeht, selbst staatliche und kommunale Behörden. „Einige Gemeinden erfüllen die Quote, andere unternehmen keine gezielten Anstrengungen“, weiß Patrick Hurst. „Viele Menschen mit Behinderungen arbeiten nach wie vor in Behindertenwerkstätten, die dann in inklusive Ateliers umbenannt werden. Damit macht es sich der Staat sehr einfach.“ Die Frustration sei groß, weil alles so lange dauert. Das Tageblatt kommentierte im vergangenen Dezember: „Inklusion ist in Luxemburg immer noch ein ‚Extra‘, das man sich gönnt, wenn alle anderen Probleme beseitigt sind.“ Daher sei es Zeit, beim Thema Inklusion endlich „aufs Gaspedal“ zu drücken.

So ist das, was der neue Familienminister Max Hahn gestern vorstellte, auch nur ein – verspäteter – Schritt auf dem langen Weg zur Inklusion. Immerhin soll damit die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen erleichtert werden. Zur Präsentation hatte er Betroffene eingeladen, die von ihren eigenen Erfahrungen berichteten. Und er sagte: „Wir ermutigen die betroffenen Akteure, Unternehmen, den Gastronomiesektor, Betriebe, Kommunen und freien Berufe, die neuen, gesetzlich auferlegten Verpflichtungen umzusetzen, um inklusive Orte für alle zu schaffen.“ Diese erhalten eine finanzielle Hilfe vom Staat. Die Anträge können über die digitale Plattform guichet.lu eingereicht werden.

Seit dem 1. Juli 2023 müssen zudem Neubauten den Anforderungen des neuen Gesetzes entsprechen. Die Anpassung eines bestehenden Gebäudes muss bis zum 1. Januar 2032 folgen. Auch dafür sind Beihilfen vorgesehen: 50 Prozent der Kosten für Arbeiten, Beratungen und Gutachten – maximal 24.000 Euro ohne Mehrwertsteuer. Die Beihilfen können bis 1. Juli 2028 beantragt werden, die Arbeiten müssen bis 1. Juli 2031 abgeschlossen sein. Bei Verstößen ist mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen. Bestehende Gemeinschaftswohngebäude sind von der Barrierefreiheit nicht betroffen.

Trotz des Gesetzes über die Barrierefreiheit in öffentlich zugänglichen Räumen aus dem Jahr 2001 klaffen zwischen Absicht und Wirklichkeit noch Welten. Das neue Gesetz wurde nun auf öffentliche und private Orte ausgeweitet, die kollektiv genutzt werden. Zehn Prozent der Wohnungen müssen zusätzliche Anforderungen erfüllen. Mit der Behindertenrechtskonvention läutete die UN einen Paradigmenwechsel ein. „Doch der richtige Paradigmenwechsel“, sagt Patrick Hurst, „ist in den Amtsstuben noch nicht angekommen.“