Wenn ich die gegenwärtige Debattenkultur betrachte, fällt mir am meisten diese grassierende Ungenauigkeit im Umgang mit der Sprache auf. Was heißt es, die „irreguläre Migration“ zu kritisieren? Und was bedeutet ein Aufruf zu „Friedensverhandlungen“ zwischen der Ukraine und Russland? Mit welchem Ziel? Zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Vorbedingungen? Sehr vieles bleibt unklar. Sogar die Hauptthesen kranken an großer Ungenauigkeit. Für den Erfolg des Verstehensprozesses ist jedoch kaum etwas wichtiger als die ständige Anstrengung um die Genauigkeit des Ausdrucks und die Vermeidung von Mehrdeutigkeiten. Grobe Ungenauigkeit lädt Missverständnisse ein, und wer verstanden werden will, muss sich daher um Genauigkeit bemühen. Dabei gilt es, sich in andere hineinzuversetzen, um deren informationelle Situation zu erspüren und dann entsprechende Hinweise einzubringen. Das zählte mal zum Handwerk der Hermeneutik. Und es ist eine entscheidende Voraussetzung für jede kritisch-rationale Argumentation in der Öffentlichkeit.
Die Tendenz zur Ungenauigkeit ist nun bestimmt nicht vom Himmel gefallen. Man könnte einen ordentlichen strukturellen Beitrag im Wechsel von der bisherigen Textkultur zur webbasierten digitalen Kommunikation sehen. Wer seine „Botschaft“ in maximal 280 Zeichen und oft in äußerst knapp bemessenen Zeitfenstern ausdrücken muss, hat kaum eine Chance auf Genauigkeit. Das SMS-„Texten“ und ähnliche digitale Textformate sind strukturell nicht auf eine gesteigerte Aufmerksamkeit bezüglich Eindeutigkeit und Verständlichkeit des eigenen Geschriebenen ausgerichtet. Ganz im Gegenteil befördert die Struktur dieser digitalen Kommunikationsformen die Tendenz zur schlagwortartigen Grobformulierung. Man wird eben eher dazu animiert, etwas im Stil von Elon Musk „rauszuhauen“, als genaue Aussagen zu formulieren. Die Einbettung der Kurzkommunikation in den allgemeinen Kampf um Aufmerksamkeit trägt das ihre dazu bei, das Ganze noch zu verstärken.
Populistische Schlagwörter
Wichtig ist, dies nicht primär als eine Kritik an den Individuen zu verstehen. Es geht um die Struktur der Textform. Gedrucktes Buch und Zeitschriftenartikel („Essays“) sind seit Jahrhunderten die dominante Textform in der europäischen Kultur. Sie waren und sind das Medium der modernen Wissenschaft, wie Michael Strevens sehr überzeugend in seinem Buch „The Knowledge Machine“ ausführt. Ungenauigkeiten können aufgedeckt werden, wenn Inhalte in Form eines Artikels oder Buchs der Öffentlichkeit transparent vorgelegt worden sind. So kann überhaupt erst eine nachhaltige rationale Diskussion darüber zustande kommen, welche Belege für welche Hypothese sprechen. Paradoxerweise scheint die moderne Wissenschaft nun in ihrem neuesten technischen Produkt ein Instrument geschaffen zu haben, das ihre eigene Grundlage zu untergraben droht: die digitale Kurztextform.
Ein Schelm, wer denkt, dass gewisse Politiker-innen oder führende Verantwortliche im großen Business hier nicht ihre Chance erkannt haben: Wer nicht auf Genauigkeit trainiert ist, kann vielleicht leichter mit groben oder populistischen Schlagwörtern herumgekriegt werden? Dabei ist zu beachten, dass es nicht die Digitalisierung per se ist, die den schlechten Trend zur Ungenauigkeit befördert. Es ist die jeweilige Form, die das Digitale annimmt. Im Prinzip kann man einen Text oder ein Buch auch in digitaler Form genauso gründlich und genau lesen wie in Papierform. Nur fragt es sich: Wer tut das tatsächlich? Und was geschieht ansonsten so in digitaler Form? Es kommt wie fast immer darauf an, welche Möglichkeiten in der Praxis tatsächlich realisiert werden.
Leider trifft nun die neue Textform auf eine alte Grundeigenschaft des Menschen.
Genauigkeit muss kultiviert werden
Keiner ist vor der verführerischen Leichtigkeit einer Text-Message per Smartphone gefeit, da in uns allen die uralte Neigung zur laziness steckt. Vielleicht war diese Disposition zur Anstrengungsvermeidung sogar ein Teil des Erfolgsrezepts des Homo sapiens. Und sie ist für AI-Systeme eher ein Problem, wie Sven Nyholm in seinem Buch „Humans and Robots“ ausführt. Aber im gegenwärtigen Kontext kann sie leider auch als eher bedauerliche psychologische Verzerrung – implicit bias – angesehen werden. Die genauigkeitsferne digitale Kurztextform trifft auf die Disposition der User, den bequemsten Weg zu gehen. Bingo! Sie bilden ein perfektes Paar.
Genauigkeit des Ausdrucks ist eine entscheidende Voraussetzung für jede rationale Argumentation im öffentlichen Diskurs. Keine moderne Wissenschaft ohne hinreichende Genauigkeit, und keine deliberative Demokratie. Genauigkeit wächst nicht auf den Bäumen, sondern muss erworben und kultiviert werden. Weitverbreitete Kommunikationsformen unterscheiden sich dramatisch in ihrer Genauigkeitsförderlichkeit. Es ist daher höchste Zeit, einen kritischen Blick auf die strukturellen Trends zu werfen und gegebenenfalls entgegenzusteuern. Verstehen, rationales Diskutieren und genaues Formulieren gehen Hand in Hand und sind in einer liberalen Demokratie von unschätzbarem Wert. Insbesondere, wenn die Welle der KI-generierten „Contents“ jetzt auf uns zurollt.
"Genauigkeit muss kultiviert werden." Leider haben die meisten keine Zeit dazu.
Gilt an erster Stelle für so manche Politiker.
Vielen Dank für diesen sehr interessanten Artikel. Hier im Lande schlagen wir uns ja auch noch mit mindestens drei verschiedenen Sprachen herum. Das finde ich eigentlich sehr gut, aber es steht der Genauigkeit doch oftmals im Wege.