Jakarta wirkt auf mich wie eine Dystopie, die zur Realität geworden ist: Der Geruch von Abgasen liegt in der Luft, in den Straßen stauen sich die Autos, graue, schmutzige Gebäude reihen sich aneinander, so weit das Auge reicht. „Warum gibt es hier keine Frauen?“, fragt meine Freundin, als wir abends durch die Straßen gehen. Bei unserem Spaziergang sind wir noch keiner einzigen Frau begegnet. Viele der Männer starren uns an oder versuchen, uns anzusprechen. Wir wissen nicht, ob sie vielleicht nur nett sein wollen, aber wir bleiben nicht stehen, um es herauszufinden. „Immerhin sehen wir die Stadt noch, bevor sie untergeht“, meine ich. Indonesien ist dabei, eine neue Hauptstadt im Dschungel der Insel Borneo zu bauen, denn Jakarta sinkt mehrere Zentimeter jährlich. Der Nordteil der Stadt könnte schon 2050 ganz unter Wasser stehen. Einige Teile der Stadt liegen bereits bis zu vier Meter unter dem Meeresspiegel – nur eine Flutschutzmauer verhindert dort Überschwemmungen. Zwei Realitäten sind aufeinandergetroffen. Heute Mittag habe ich Anne, eine Freundin aus Luxemburg, zum ersten Mal seit Monaten wiedergesehen. Wir werden jetzt fast vier Wochen gemeinsam durch Indonesien reisen. Meine Reisen hier in Südostasien kommen mir weit entfernt vor von meinem Leben zu Hause. Eine Person zu haben, die mich aus Luxemburg kennt, verbindet diese beiden Realitäten auf eine merkwürdige Weise. Aber es freut mich, eine Person zu haben, mit der ich diese Erfahrungen teilen kann. Vielleicht wird es auch die Rückkehr einfacher machen, die jetzt so langsam greifbar wird, denn nach Indonesien wird es zurück nach Europa gehen.
Beeindruckendes Jakarta
„Es war klar, dass das wieder so ausgehen würde“, sagt Anne. Wir sitzen vor meinem Tablet in einem Café und versuchen, eine Fluglinie zu finden, die bezahlbar ist und nicht regelmäßig abstürzt. Eigentlich wollten wir unsere Reise im Voraus planen, aber jetzt steht noch nicht mal fest, wo wir morgen hingehen. Hier kann man nicht wie zum Beispiel in Vietnam einfach mit einem Bus über Nacht mehrere Hundert Kilometer zurücklegen. Indonesien besteht aus über 17.000 Inseln, deshalb sind Flugzeug und Fähre oft die einzige Option. Wir entscheiden uns schließlich für einen Flug, der uns morgen früh nach Bali bringen wird.
Von oben sieht Jakarta beeindruckend aus. Wir befinden uns auf dem 56. Stock eines Hochhauses und die Stadt erstreckt sich wie ein Meer aus Lichtern vor uns. Ein Ende ist nicht zu sehen: Die Lichter reichen bis über den Horizont hinaus. Jakarta hat elf Millionen Einwohner, aber die Metropolregion umfasst über 35 Millionen Menschen und ist nach Tokio die größte der Welt. Wir können nach unseren zwei Nächten in der Stadt also wirklich nicht behaupten, viel von ihr gesehen zu haben. Bali wirkt wie eine ganze andere Welt als Jakarta. Während wir bei unseren Spaziergängen durch die Hauptstadt Indonesiens vielleicht insgesamt drei als Touristen erkennbare Menschen gesehen haben, wimmelt es in Bali nur so von ihnen. An den touristischen Orten der Insel gibt es überall teure Hipster-Cafés, Beach-Clubs, Yoga-Studios und Coworking-Spaces.
Für viele Touristen ist Bali ein Traum: Sie haben den Komfort von zu Hause zu einem günstigeren Preis und mit Ausblick auf wahlweise ein sattgrünes Reisfeld oder einen langen Surfer-Strand. Dadurch wird Bali jedoch zunehmend gentrifiziert. Die Preise werden durch die Euros und Dollars der Touristen in die Höhe getrieben und Einheimische können sich das Leben dort immer weniger leisten. Obwohl Bali an vielen Orten nicht mehr authentisch ist, ist die Schönheit der Insel immer noch unübersehbar. Neben der Natur machen die vielen hinduistischen Tempel und Bauten die Insel besonders. Bali ist die einzige Insel im mehrheitlich muslimischen Indonesien, die hinduistisch ist. Hier liegt nicht der Geruch von Smog in der Luft, sondern der von den Blütenblättern, die überall für die Götter hingelegt werden.
„Wann sind wir endlich da?“, frage ich mich zum vermutlich zwanzigsten Mal. Noch ist kein Land in Sicht. Wir sind auf einer Fähre, die eigentlich nur zwei Stunden dauern sollte, sich aber unendlich anfühlt. Ich bin zum vermutlich ersten Mal in meinem Leben seekrank und schaue einer Gruppe spanischer Touristen genervt dabei zu, wie sie fröhlich zu 2010er Songs grölen und Bier trinken. Wir sind unterwegs von Bali nach Gili Air. Auf der kleinen Insel, die man in einer Stunde zu Fuß umrunden kann, sind Pferdekutschen und Fahrräder die einzigen Fortbewegungsmittel. Ich freue mich darauf, einige entspannte Tage auf der Insel zu verbringen, nachdem wir in Bali viele Tempel und Wasserfälle besichtigt haben und einen Vulkan bestiegen haben.
Ende einer Reise
Die Überfahrt von Gili Air nach Lombok dauert glücklicherweise weniger lange. Nach nur wenigen Minuten haben wir es von der einen Insel auf die nächste geschafft. Auf Lombok, einer Vulkaninsel, die noch deutlich weniger bekannt ist als Bali, erleben wir den indonesischen Unabhängigkeitstag mit. 1945 wurde an diesem Tag die Unabhängigkeit Indonesiens von der niederländischen Kolonialherrschaft und der japanischen Besatzung erklärt. Wir erfahren von der Festlichkeit, als wir mit dem Auto in einer großen Schülergruppe stecken bleiben, die in Uniform zu Musik marschiert. Auf der pink gestrichenen Wand huscht ein Gecko vorbei. Wir sitzen im Wartezimmer einer Arztpraxis irgendwo mitten in Lombok und warten darauf, dass wir an der Reihe sind. Die Medikamente in den gläsernen Vitrinen stecken in bunten Verpackungen. Fast könnte es auch ein Süßigkeitenladen sein. Wir sind die Einzigen hier im Wartezimmer, aber der Arzt ist noch nicht hier. Als er ankommt, führt er uns in sein Behandlungszimmer und schaut sich unsere Wunden an, die wir durch einen Unfall auf einer der gewundenen Straßen Lomboks haben. Er verschreibt uns Medikamente und fragt uns dann nach einem gemeinsamen Foto. Hier ist es in weniger touristischen Orten üblich, dass Einheimische Touristen um Fotos bitten. Da ist es wohl egal, ob das im Supermarkt, beim Tempel oder eben in der dörflichen Arztpraxis ist.
„Was haben wir eigentlich die ganze Zeit gemacht?“, wundert Anne sich. Es ist unser letzter Tag in Indonesien und wir sind zurück in Bali, um von hier aus unsere Heimreise anzutreten. Zuerst werden wir nach Vietnam fliegen, um dann nach drei Tagen Aufenthalt von dort über Katar nach Frankfurt zu reisen. Im Rückblick scheint es, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen. An die Reise zurückzudenken, fühlt sich wie der Versuch an, ein Puzzle zu lösen, bei dem die Hälfte der Teile nicht richtig zu passen scheinen. Noch ist es zu früh, um die Ereignisse in einer gewissen Ordnung sehen zu können.
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