Luxemburg hat gestern des Kampfes der Bevölkerung während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg gedacht. Vor exakt 80 Jahren nämlich, am 10. Oktober 1941, fand die sogenannte „Personenstandsaufnahme“ statt, mit der die Nazis die Luxemburger als von der Volksgemeinschaft „entfremdete“ Deutsche zurück ins Reich lotsen wollten. Geeint aber zeigten die Luxemburger dem Todesregime aus Berlin in einer beispiellosen Trotzreaktion, für welche Flagge ihr Herz eigentlich schlug.
Von den Problemen der aktuellen Gesellschaft hätten viele Menschen damals wohl nicht zu träumen gewagt. 80 Jahre später sind es nicht die menschenunwürdigen Zustände in den Auffanglagern an der Außengrenze zu Europa, die Schlagzeilen machen. Weder der Rechtsruck unserer Gesellschaft dominiert die Stammtischgespräche noch die Hungersnöte oder Verstöße gegen elementare Menschenrechte in anderen Ecken dieser Welt. Im Gegenteil: Nichts hat die Öffentlichkeit in der letzten Woche so bewegt wie der wiederholte Ausfall der sozialen Netzwerke.
Gleich zweimal musste sich Facebook für die Unerreichbarkeit seiner Dienste vor der versammelten Weltgemeinschaft entschuldigen. Mit gebeugtem Haupt ließen die Verantwortlichen Hohn, Spott und Zorn von Medien und Gesellschaft über sich ergehen. Letztere zeigten sich vom Ausfall mitunter mehr beeindruckt als von den fast gleichzeitigen Enthüllungen der ehemaligen Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen.
Vorzugsbehandlungen sogenannter VIP-Accounts hatte die Whistleblowerin publik gemacht, die bewusste Unterschlagung von Studien über die Wirkung sozialer Medien auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen und die wiederholten Entschlüsse der Unternehmensführung, „immer wieder die eigenen Interessen zu optimieren“. Facebook sei in den Interessenskonflikten „zwischen dem, was für die Öffentlichkeit gut ist und was für Facebook gut ist“, gefangen, so Haugen in ihrer Aussage vor dem US-Kongress. „Diese Version von Facebook zerreißt unsere Gesellschaft und verursacht Gewalt in der Welt.“
Auch wenn der Vergleich hinkt: Von der geeinten Front eines Luxemburger Volkes, das dem unterdrückenden Nazi-Regime mit dem „Dräimol Lëtzebuergesch“ die Stirn zu bieten versuchte, sind wir heute weit entfernt. Aus dem praktischen Kontaktnetzwerk ist eine Maschinerie entwachsen, die den gläsernen Menschen zum Geschäftsmodell erhoben hat. Dabei wird wissentlich mit in Kauf genommen, dass gewiefte Kräfte diese Dienste missbrauchen, um ihre niederträchtige Agenda voranzutreiben und die Gesellschaft zu spalten.
Das sind Mechanismen und Abläufe, denen eine Gesellschaft, in der es menschelt, nicht gewachsen ist. Der fundierte Diskurs, ein informiertes Abwägen, eine unparteiische Zurückhaltung, die gebotene Skepsis und das menschliche Feingefühl – alles fällt der Schnelllebigkeit sozialer Netzwerke zum Opfer, die darauf ausgerichtet sind, rasch, emotional und ungefiltert auf Gegebenheiten und Beiträge zu reagieren. Jeder ist Sprachrohr des eigenen Anliegens, es zählt nur noch der eigene Standpunkt.
Dass dabei Narrative verbreitet werden, die jeglicher Grundlage entbehren, oder Menschen ohne ordnungsgemäßes Verfahren vorschnell auf dem digitalen Scheiterhaufen verbrannt werden, tut nichts zur Sache. Wie schnell die Öffentlichkeit heute die Messer wetzt, zeigen die jüngsten Beispiele um Sänger Gil Ofarim in Deutschland und den Mordfall Petito in den USA. Zugegeben: In beiden Fällen sieht es dem ersten Anschein nach nach einem Vergehen oder Verbrechen aus. Doch die Schuldigen sind bereits ausgemacht, im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung heißt es längst: case closed. Die Folgen sind eigentlich zweitrangig. Schließlich hat man ja nur seine Meinung geäußert …
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