Dazu kommt eine oft blutig ausartende Intoleranz der Hindu-Mehrheit (80 Prozent der Bevölkerung) gegenüber den vielen Minoritäten des Landes. Allen voran die immerhin rund 200 Millionen indischen Muslime. Welche 1947 in ihrer früheren Heimat blieben. Die Unabhängigkeit des Landes führte zur Teilung des ehemaligen britischen Imperiums in den Hindi-Staat Indien sowie das islamische Pakistan. Von dem sich später Bangladesch abtrennte. Im noch immer umkämpften Kaschmir stellen die Muslime über 80 Prozent der Bevölkerung.
Trotz großer Rückständigkeit in vielen Teilen des flächenmäßig bloß siebtgrößten Landes der Welt entwickelt sich Indien zu einer wirtschaftlichen Großmacht. Es wird spätestens 2025 China als das bevölkerungsreichste Land ablösen.
Indien besitzt die Atombombe. Hat eigene Raketen. Ist die viertgrößte Militärmacht. Kurz, Indien zählt bevölkerungsmäßig, wirtschaftlich, militärisch und politisch. Zurzeit hat Indien den Vorsitz des G-20. Den es zur Förderung der eigenen Interessen nutzen wird.
Der Begründer des modernen Indiens war Nehru. Gleichzeitig einer der Erfinder der Bewegung der blockfreien Staaten. Die sich im kalten Krieg weder an die Seite des Westens noch des Ostens schlagen wollten. Die blockfreie Mentalität ist geblieben. Indien unterhält zwar gute Beziehungen zu den USA und ist Mitglied des „Quad“, des Sicherheitsdialoges zwischen Japan, Australien, Indien und den USA. Was gegen China gerichtet ist, mit dem Indien manchmal blutige Streitigkeiten um den Grenzverlauf im Himalaya ausficht. Gleichzeitig unterhält Indien engste Beziehungen mit Russland als Waffenlieferant und Handelspartner.
Profitables Enthalten
Russlands Überfall auf die Ukraine ist für die Inder kein Thema. Allenfalls bequemte sich die indische Regierung zur Aussage, Kriege seien ebenso unzeitgemäß wie das Drohen mit atomaren Schlägen. Bei allen UNO-Abstimmungen zum Ukraine-Krieg enthielt sich Indien.
Gleichzeitig bauten die Inder ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Putins Land seit Kriegsbeginn stark aus. Wie China, die Türkei und viele andere, bezieht Indien verstärkt russische Energie. Allen Boykott-Beschlüssen der Amerikaner und EU-Europäer zum Trotz.
Indiens Außenminister Jaishankar, im Gespräch mit der deutschen Außenministerin Baerbock, machte deutlich, Indien müsse mit verschiedenen Partnern und mit unterschiedlichen Agenden arbeiten. „Based on issues“, je nach der eigenen Interessenlage. Er verstände sehr wohl, dass der Konflikt die EU zu einer bestimmten Sichtweise geführt habe. Indien wolle ein Partner der Europäer (und der Amerikaner) bleiben, aber mit eigenen Nuancen in der Beurteilung des Konfliktes.
So avancierte Indien zum nunmehr zweitgrößten Abnehmer von russischem Erdöl. Ohne Gewissensbisse. Der indische Energieminister bekundete bloß, es sei nicht der Staat, sondern der Privatsektor, der Geschäfte mit den Russen mache.
Indien verfügt über große Raffinerie-Kapazitäten. Die es weidlich nutzt, um das unter dem Weltmarktpreis eingekaufte russische Erdöl zu Treibstoffen zu verarbeiten. Die international verkauft werden, auch an die Europäer. Indiens Treibstoff-Exporte in die EU haben sich seit einem Jahr verdreifacht.
Emsiges Handeln im Schatten
Seltsame Dinge geschehen im asiatischen Raum. So verkauft Malaysia neuerdings täglich 1,5 Millionen Barrel Öl an China. Produziert aber bloß einige 400.000 Barrel jeden Tag. Klingt nach der göttlichen Weinvermehrung bei der Hochzeit in Kanaan. In Wirklichkeit wird Rohöl aus Russland, aber auch aus Iran oder selbst Venezuela beigemischt. Die ebenfalls auf der Sanktionsliste der USA stehen.
Früher wurde der Ölhandel von Firmen mit Sitz in den USA, Großbritannien oder der Schweiz kontrolliert. Nunmehr werden immer mehr Schiffsladungen mit Öl, Erdgas oder Treibstoffen aus Hongkong oder Dubai gesteuert. Selbst ölproduzierende Staaten wie Oman oder die Vereinigte Arabische Republik mischen anstandslos Öle der verschiedensten Herkünfte. Im größeren Teil der Welt entwickelte sich ein emsiger Schwarzhandel, aufgebaut auf undurchsichtige Infrastrukturen. 2022 wechselte eine überdurchschnittliche Zahl von Schiffstankern den Besitzer. Vorher nie aktive Reeder stiegen ins Geschäft ein. Es gibt immer mehr Frachtaufkommen mit unbekannten Zielen. Manchmal werden auf hoher See Ladungen von kleineren auf größere Schiffe umgepumpt. Um in Indien, China oder Sri Lanka gelöscht und verarbeitet zu werden. Allein China hat letztes Jahr den Export raffinierter Ölprodukte um 50 Prozent gesteigert.
Die Sanktionen haben den Russen das Geschäft verteuert. Sie müssen ihr Öl unter Weltmarktpreisen abgeben. Verdienen daran tun sie trotzdem. Sie kassieren Dollar, Yuan, Rupien. Ihre Produktionskosten zahlen sie in Rubel. Den ihre Zentralbank druckt.
Man kann es den Staaten Asiens und Afrikas kaum verdenken, wenn sie sich von „innereuropäischen“ Problemen wenig angesprochen fühlen. Den Amerikanern mit ihrer egoistischen Weltgendarmen-Politik traut ohnehin keiner. Zumal deren viel beschworene „Werte“ bei Bedarf hurtig ausgewechselt werden. Gerade die Sanktionen gegen ÖI und Gas produzierende Staaten sind nicht uneigennützig. Die USA haben Saudi-Arabien als weltweit größter Ölproduzent überholt und standen 2021 für 20 Prozent der globalen Förderung. Dank dem in Europa verbotenen „Fracking“ werden aus den Öl- wie Gasquellen die letzten Quäntchen Energie herausgepresst. Das Shale-Gas machte die USA ebenfalls zum weltgrößten Erdgas-Produzenten.
Die Internationale Energie-Agentur (IEA) schätzte 2022, dass die USA bis 2050 jährlich gut 25 Prozent mehr Gas exportieren können, als sie selbst verbrauchen werden. Allein die EU will bis 2030 jedes Jahr 50 Milliarden Kubikmeter verflüssigtes Erdgas in den USA kaufen. Als teure Alternative zu russischem Gas. Dessen Gewinnung die Umwelt weniger belastet als das mit viel Energieaufwand verflüssigte Shale-Gas.
Kein Wunder, dass außerhalb der NATO-Welt wenig Staaten sich an den Sanktions-Orgien der Amerikaner und Westeuropäer beteiligen. Selbst das Brasilien von Präsident Lula will keine Partei im Ukraine-Konflikt ergreifen und ist bestenfalls bereit, mit China den Vermittler spielen. Viele dieser Staaten bleiben unterentwickelt. Auch Indien. Wo Millionen Menschen keinen Zugang zu elektrischer Kraft haben, mit ungesunden Kochstellen leben müssen.
Die Regierung Modi, rein nationalistischen Zielen verbunden, will die Modernisierung Indiens in den nächsten Jahren forcieren. Was gewaltige Zuwächse beim Energiekonsum erfordert. Wie China investiert Indien in Sonne und Wind, wovon sie mehr als die meisten Europäer haben. Deshalb zeitweilig bis zu 50% ihrer Stromversorgung „erneuerbar“ befriedigen können. Dennoch investiert Indien weiterhin in Atom-, Gas- und vor allem Kohlekraftwerke. Binnen 20 Jahren vervierfachte sich die indische Kohle-Förderung von 200 auf 800 Millionen Tonnen.
Mit einem entsprechenden Anstieg der Emissionen. Auf den COP-Konferenzen gehört Indien zu den Bremsern bei der Festlegung von möglichst konkreten Klima-Zielen. Aber zu den Einpeitschern, wenn es um die Ablasszahlungen der Europäer und Amerikaner geht. Dabei ist Indien nach China und den USA der drittgrößte Emittent von Klima-Gasen. Europa mit seinen strammen Klima-Ambitionen ist den Indern kein Vorbild. Sie peilen offiziell die Netto-Null für 2070 an. China für 2060.
Die Amerikaner haben klare politische und wirtschaftliche Zielvorstellungen. Nur die Europäer träumen weiter von ihrer „moralischen Autorität“. Vom Rest der Welt glänzend ignoriert. „We are the emerging, you are the submerging economies“ sagte mir ein hochgestellter Asiat: „Wir streben auf, Ihr geht unter“.
Wann stellen die Europäer sich den wirtschaftlichen Realitäten dieser Welt?
Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Ein Kritisierartikel ohne konkrete Vorschläge?
Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich, Herr Goebbels.
Ich schließe mich "Grober J-P." an: was sind denn Ihre Lösungen?
"Wann stellen die Europäer sich den wirtschaftlichen Realitäten dieser Welt."
Wie machen wir das denn?
Robert, in 200 Jahren ist alles vorbei, Aschermittwoch der Menschheit halt.