2017 stand „Be part of it“, im Sinne der Partizipation der Bevölkerung, auch der einkommensschwächeren Teile, an Kultur- und Gesellschaftsprojekten 2022, im Mittelpunkt seiner Rede vor der europäischen Jury, welche Esch und der Südregion den Titel Europäische Kulturhauptstadt für 2022 zuerkannte. Michel Clees wurde von Denis Scuto im erwähnten Tageblatt-Artikel zitiert: „Be part of it“ wurde in einem Zwischentitel besonders hervorgehoben. Dem Autor zufolge bleibt zu hoffen, dass diese Urheberschaft ab sofort von den Esch2022-Verantwortlichen erwähnt wird. „Be part of it” bedeutet darüber hinaus, dass Programm und Kalender von Esch2022 für jeden einfach zugänglich und verständlich sein müssten, was bisher nicht der Fall ist. „Be part of it“ würde auch bedeuten, dass nicht nur das Opening, sondern auch die weiteren Events und Ausstellungen gratis sind.
Eine neunköpfige Jury, darunter ein Luxemburger, Robert Philippart, die von der Europäischen Kommission ernannt wurde, hat Esch European Capital of Culture 2022 (im November 2017) den Zuschlag gegeben. Wie Ulrich Fuchs, Mitglied der Jury, aber auch Direktor des künstlerischen Programms von Marseille-Provence 2013, es ausgedrückt hat, ist es gerade die Aussicht, den europäischen Besuchern eine andere Stadt, eine andere Region, die der Roten Erde, und somit ein anderes Luxemburg zu zeigen, die die Jury für sich gewann und überzeugte. Eine Region mit einer anderen Geschichte. Ein Grenzgebiet mit einer starken Persönlichkeit, einer tollen Mischung, einem reichen städtebaulichen und industriellen Erbe. Eine Region, die einen tiefgreifenden Wandel erfährt.
Es ist dieser Wandel, in den heutigen Worten unseres digitalen Zeitalters des „Remix“, der die beiden (damaligen) Koordinatoren von Esch 2022, Andreas Wagner und Janina Strötgen, auf die gute Idee brachte, ihn zum Hauptthema der künftigen Kulturhauptstadt zu machen.
Als Andreas Wagner und Janina Strötgen mich in meiner Doppelfunktion als Escher und Historiker der Universität Luxemburg, die Partner von Esch 2022 ist, baten, zusammen mit Künstlern und politischen Vertretern die Kandidatur vor der europäischen Jury zu verteidigen, habe ich sofort zugesagt. Da ich in den sechziger Jahren in Esch geboren wurde und dort aufgewachsen bin, stößt „Remix culture“ bei mir auf starke Resonanz. Weil ich dem migratorischen Remix zweier Familien entstamme. Mit einer in Esch geborenen luxemburgischen Mutter und einem in Catania geborenen italienischen Vater. Weil ich 30 Jahre lang bei Jeunesse Esch mit anderen jungen Leuten Fußball gespielt habe, deren familiäre Wurzeln in zahlreiche europäische Länder zurückreichten: Luxemburg, Italien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Ex-Jugoslawien …
„De Minett“ als Horizont
Weil ich den grundlegenden Wandel in meiner Stadt und meiner Region hautnah miterlebt habe. In meiner Kindheit und Jugend waren Esch und das Erzbecken meine Welt. „De Minett”, das war für mich Luxemburg. Seit meinem achten Lebensjahr, 1972, spielte ich bei Jeunesse Esch Fußball und verfolgte sonntags mit meinem Großvater die Partien der ersten Mannschaft. In den Jahren danach kamen alle Meisterclubs aus dem Erzbecken. Die 1970er Jahre waren die große Zeit der Rivalität zwischen Jeunesse Esch, Red Boys Differdange und Progrès Niederkorn, diesen durch ihre Spieler und ihre Zuschauer eng mit der Stahlindustrie verwobenen Clubs, die unter dem Aspekt der Nationalitäten ebenso gemischt waren wie das Personal der Fabriken: Luxemburger, Franzosen, Belgier, Italiener, Deutsche …
Danach kamen die Jahre auf dem Gymnasium, ebenfalls in Esch, wo mir klar wurde, dass das Erzbecken nicht nur in Sachen Fußball meine Welt bedeutete. Auf der Schulbank saß ich neben Eschern, Differdingern, Rümelingern, Düdelingern usw. Und samstagabends schlossen die jungen Leute aus Esch sich den Jugendlichen aus Differdingen, Beles und Zolver an, um gemeinsam den Bus des TICE nach Düdelingen zu nehmen und in die Discos des Basketballclubs T71 zu gehen. Es war das Industriezeitalter, eine Zeit, in der „de Minett“ unser Horizont war.
Eine Zeit auch der im Alltag gelebten Vielfalt der Sprachen und Nationalitäten. In seinem Roman „Mrs Haroy ou la mémoire de la baleine“ (1993) hat Jean Portante diese Vielfalt auf seine Weise beschrieben. Hier ein Auszug, in dem der Erzähler ein kleiner Junge ist: „Fünf oder sechs Jahre also, sieben oder acht höchstens, aber nicht neun, denn mit neun Jahren sprach ich die neue Sprache bereits fließend. Ohne Akzent oder so was, wie Charly, der Sohn vom Lebensmittelhändler Meyer, oder Nico, der vom Lehrer Schmietz. Pit und Mill dagegen, und selbst ihre kleinen Schwestern Anni und Marie, der lärmende Nachwuchs des Maurers Chiaramonte aus dem Haus, aus dem es immer nach Knoblauch, Zwiebeln und Olivenöl riecht, rollen trotz ihrer typisch Differdinger Vornamen immer noch das r und hängen ans Ende jedes Wortes ein e an, als wären sie gerade erst aus den Abruzzen gekommen. Dabei waren sie lange vor uns in Differdingen. Zumindest ihre Eltern, weil Pit (damals hieß er noch Piero) nur ein paar Tage nach mir geboren wurde, nicht weit von unserem Haus, in der rue de Hussigny, und auch er somit jetzt fünf oder sechs Jahre alt ist, oder sieben oder acht, während Mill alias Emilio viel kleiner ist und den ganzen Tag nichts anderes macht als heulen und singen.“
Mill-Emilio, Pit-Piero, die nationalen Grenzen verschwimmen und verblassen in dieser über Jahrzehnte geschmiedeten Vielfalt.
Diversität/Vielfalt, Durchmischung, Worte, die es nicht gab, als ich in Esch aufwuchs, auch wenn wir sie jeden Tag lebten. Auch das Wort Integration existierte während seiner Kindheit in Esch nicht, hat Michel Clees, Arzt und Chansonnier, der europäischen Jury erzählt. Es gab nur Tausende von Arbeitern, die Tag für Tag zur Schmelz oder in die Mine gingen. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Und es gab in derselben Stadt Händler, Ingenieure, Ärzte, Anwälte, Beamte, Lehrer. Und inmitten von all dem war die Kirche. Das Wort Integration existierte nicht, aber es gab Arbeit – Arbeit, die diesen so unterschiedlichen Menschen einen Platz nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch im sozialen Gefüge bescherte. Und, fuhr Michel Clees fort, diese sprudelnde Zeit inspirierte junge Leute aus Esch und Umgebung dazu, diese Veränderungen und Spannungen in Worte zu kleiden, in Form von Gedichten, Liedern, Theaterstücken. Ein Gebäude des Industriezeitalters, ein Schlachthof, wurde von Künstlern besetzt und in ein Kulturzentrum umgewandelt, die Kulturfabrik, die 2022 eine Rolle spielen wird.
Dann kam die Krise in der Stahlindustrie, die diese Welt komplett auf den Kopf stellte, und Michel Clees ging zum Studium ins Ausland. Nach seiner Ausbildung zum Arzt blieb er noch eine ganze Weile im Ausland und kehrte erst 1998 nach Esch zurück. Bei seiner Rückkehr fand er ein anderes Esch vor. Eine Stadt, in der immer mehr Menschen arbeitslos waren. Wo die jungen Leute nicht mehr dieselben Chancen auf Zugang zu Bildung und Kultur hatten. Neben oder während seiner Arbeit als Mediziner nahm er zunehmend die Rolle eines Sozialarbeiters ein. Im Kontakt mit perspektivlosen Menschen aus Esch und dem Erzbecken, die dennoch nur diesen einen Drang verspürten: Teil oder wieder Teil von etwas zu sein, Akteure eines gesellschaftlichen Projekts zu werden. „Be part of it“, wie Michel Clees es vor der Jury ausgedrückt hat.
„Be part of it”
Die Deindustrialisierung mit ihren negativen Konsequenzen hat zur sozialen Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung im Süden geführt. Sie führte auch zur Abwanderung eines Teils der Mittelschicht in den sogenannten Grüngürtel um die Hauptstadt Luxemburg, die neue Welt, die seit den 1980er Jahren zum Zentrum der wirtschaftlichen Anziehungskraft des Landes wurde.
Das von Michel Clees in seinem Alltag festgestellte „Demixing“ der Stadt Esch wurde in einer von den Soziologen Fernand Fehlen und Isabelle Pigeron-Piroth vom Centre Universitaire de Luxembourg durchgeführten Studie zur Volkszählung von 2001 bestätigt. Die Studie zeigte, dass weiterhin Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Esch leben, doch zunehmend weniger gemischt und immer mehr voneinander getrennt. Im Süden und im Stadtzentrum wohnen die Ausländer, die ungelernten Arbeiter und Arbeiterinnen, die Armen. In der Studie wurde darauf hingewiesen, dass neben persönlichen Faktoren wie der geringen Bildung und dem fortgeschrittenen Alter auch strukturelle Faktoren diese wachsende Segregation erklärten: der Mangel an öffentlichen Einrichtungen, veralteter Wohnraum, der Mangel an ausreichenden und geeigneten schulischen Infrastrukturen, ethnische Diskriminierungen.
Eine genaue Auswertung der letzten großen Volkszählung von 2011 steht noch aus. Wir wissen also nicht, ob die soziale Situation in Esch/Alzette und den anderen Städten des Erzbeckens sich verbessert hat, auch wenn gerade im Bereich der Einrichtungen, der schulischen Infrastrukturen und des Wohnraums ernsthafte Anstrengungen unternommen wurden. Tatsache bleibt, dass der von der Statec durchgeführte sozioökonomische Index für 2016 immer noch eine alarmierende Bestandsaufnahme liefert. Industriestädte wie Esch/Alzette, Differdingen oder Rümelingen verzeichnen immer noch die höchsten Zahlen bei Arbeitslosen, Sozialhilfe- und Mindestlohnempfängern, Haushalten von Alleinerziehenden und Niedriglohnjobs. In Esch/Alzette liegt die Arbeitslosenquote bei 13,24%, im Gegensatz zu 7,46% auf nationaler Ebene. Das Durchschnittsgehalt beträgt 2.660 Euro (im Vergleich zu 4.624 Euro in Leudelingen im Grüngürtel der Stadt). Die Gemeinden des Erzbeckens sind zusammen mit Gemeinden wie Wiltz oder Ettelbrück im Norden des Landes diejenigen mit dem geringsten sozioökonomischen Index, während die Gemeinden im Gürtel rund um die Hauptstadt diejenigen mit dem höchsten Index sind. Die Ungleichheiten haben sich seit dem Industriezeitalter verstärkt, auch in Luxemburg.
Diese Entwicklungen unterstreichen, dass trotz der seit den 2000er Jahren geführten Politik der Dezentralisierung, vor allem im Hinblick auf die Entwicklung der Zentren Région du Sud und Nordstad – erwähnt sei z.B. der Umzug der Universität nach Belval, die Wiederbelebung der Industriebrachen, die Schaffung neuer Kulturinstitute in diesen Regionen –, der Staat an erster Stelle, aber auch die Gemeinden wesentlich größere Anstrengungen in Bereichen wie Wohnraum, Schule, Tourismus, Kultur, dem industriellen Erbe unternehmen müssen, um der einseitigen Orientierung Richtung Stadt Luxemburg eine Ende zu bereiten.
Umso erfrischender ist es, zu sehen, dass Kulturschaffende es gewagt haben, ein Konzept für Esch 2022 vorzulegen, das der Bevölkerung des Erzbeckens die Möglichkeit eröffnen will, wieder „part of it“ zu sein, und die notwendigen strukturellen Veränderungen im Land voranbringen möchte. Nach einer Phase der Industrialisierung, die nicht nur eine Region, sondern das ganze Land reich gemacht hat, und einer Phase der Ausweitung des Dienstleistungssektors, der diese Region benachteiligte, was ist es da für ein originelles Projekt, auf die Kultur zu setzen, um das Land der Roten Erde zu boosten! Zu sehen, dass Esch und die Minette-Gegend sich der Herausforderung stellen, diese Durchmischung, die die industrielle Periode geprägt hat, mit innovativen Kulturprojekten und den neuen Möglichkeiten des Digitalzeitalters zu „remixen“ und somit wieder zu entwickeln. Projekte, die jungen Kreativen eine Chance geben wollen, die es erlauben, Forschung und Bevölkerung einander anzunähern, die den Schülern, Studenten, der Bevölkerung so viel Zugang zur Kultur wie möglich geben möchten und die größtenteils im öffentlichen Raum stattfinden werden.
Die europäische Jury konnte während ihres Besuchs im „Minett” eine Region mit einem reichen industriellen Kulturerbe und städtisch, wirtschaftlich und ökologisch bedeutendem Potenzial sehen. Eine Region, die sich verändern und mithilfe eines kreativen und partizipativen Kulturprojekts weiterentwickeln möchte. Ohne ihre Identität zu verlieren. Mit dem Wunsch, dass diejenigen, die sich ausgeschlossen fühlen, sich wieder als Teil eines Projekts fühlen können.
Rupp'Esch finde ich besser.