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Großbritannien„Entsetzliche und verhinderbare Tragödie“ – Flüchtende sterben im Ärmelkanal

Großbritannien / „Entsetzliche und verhinderbare Tragödie“ – Flüchtende sterben im Ärmelkanal
Eine Frau zündet bei einer Demonstration in Calais eine Kerze für die gestorbenen Flüchtlinge an. Die französischen Behörden ermitteln wegen des Schiffsunglücks. Foto: AFP

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Eine Flüchtlingstragödie im Ärmelkanal hat zu harscher Kritik an der Asylpolitik der britischen Regierung geführt. Am Samstag kamen mindestens sechs Migranten bei dem Versuch ums Leben, von Frankreich aus über den Ärmelkanal nach England überzusetzen. In rauer See kenterte ihr kleines Boot. 59 Menschen konnten gerettet werden, nach zwei weiteren wird noch gesucht. Das Unglück löste heftige Reaktionen in Großbritannien aus.

Die Hilfsorganisation Care4Calais nannte es eine „entsetzliche und verhinderbare Tragödie“, während das Refugee Council warnte: „Mehr Menschen werden sterben.“ Der ehemalige Parteivorsitzende der Konservativen, Sir Jake Berry, verlangte im Sunday Express: „Wir müssen diese niederträchtigen Menschenschmuggler stoppen“ und sprach von einer „moralischen Pflicht zu handeln“. Paul O’Connor von der Gewerkschaft PCS griff die Regierung an, die „Steuergelder verschwendet für eine Flüchtlingspolitik, die ungesetzlich, undurchführbar und zum Scheitern verurteilt ist“.

Auch der flüchtlingspolitische Sprecher für die Labour-Partei, Stephen Kinnock, machte die Regierung für die Tragödie im Ärmelkanal verantwortlich. Sie habe ein „Chaos im Asylsystem“ geschaffen, schrieb er im Sunday Mirror, und „keinen brauchbaren Plan, um es wieder in Ordnung zu bringen“. Er nannte als Beispiel die Farce um das Wohnschiff „Bibby Stockholm“. Auf dem im Hafen von Portland verankerten Lastkahn wurden in der letzten Woche 39 Asylsuchende untergebracht. Sie mussten aber wenige Tage später wieder das Schiff verlassen, weil im Wassersystem Bakterien gefunden wurden, die die gefährliche Legionärskrankheit auslösen können. „Ich habe niemals“, schrieb Kinnock, „ein solch krasses Beispiel von Regierungsinkompetenz gesehen“. Dennoch hat, wie der Telegraph berichtete, das Innenministerium weiterhin vor, Lastkähne einzusetzen.

Bescheidene Bilanz in der Flüchtlingspolitik

Die Bilanz bei der Flüchtlings- und Asylpolitik ist tatsächlich bescheiden. Premierminister Rishi Sunak hat als ein zentrales Ziel seiner Amtszeit erklärt: „Stoppt die Boote!“ Doch die Aussichten sind gering, sein Versprechen, die Zahl der Bootsflüchtlinge zu reduzieren, erfüllen zu können. In der vergangenen Woche wurde der Meilenstein von mehr als 100.000 Migranten erreicht, die seit 2018 illegal über den Ärmelkanal ins Land gekommen sind. Allein in diesem Jahr verzeichnet man schon gut 16.000 Flüchtlinge. Zugleich hat das Innenministerium es verpasst, Asylgesuche zügig zu bearbeiten. So hat sich ein Rückstau von rund 170.000 Antragstellern gebildet, die die Regierung zu behausen hat. Die meisten von ihnen müssen in Hotels untergebracht werden, was pro Tag rund 6,3 Millionen Pfund kostet, umgerechnet 7,3 Millionen Euro.

Um der Flüchtlingskrise im Ärmelkanal Herr zu werden, setzt die Regierung auf Abschreckung. Ein neues Gesetz entzieht illegal eingereisten Migranten das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Stattdessen verpflichtet es die Innenministerin Suella Braverman dazu, sie zu internieren und abzuschieben. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat das Gesetz als ein „Asylverbot“ bezeichnet, das „das Recht auf Flüchtlingsschutz im Vereinten Königreich auslöscht für diejenigen, die irregulär ankommen, egal wie aufrichtig oder überzeugend ihr Anspruch sein mag“.

One-way-Ticket nach Afrika

Doch mit den Abschiebungen klappt es vorerst nicht. Vor dem Brexit hatte das Land noch die Möglichkeit, aufgrund der Dublin-Konvention Flüchtlinge in dasjenige Land der EU zurückschicken zu können, wo sie erstmals ankamen. Das geht jetzt nicht mehr. Es gibt auch keine bilateralen Rückschaffungsabkommen mit einzelnen EU-Staaten. Allerdings hat London ein Abkommen mit dem ostafrikanischen Staat Ruanda vereinbart. Danach hat Großbritannien bisher 140 Millionen Pfund gezahlt und darf dafür in Zukunft illegal ins Königreich gekommene Migranten nach Ruanda ausfliegen, wo ihr Asylantrag bearbeitet wird.

Es ist ein One-way-Ticket nach Afrika: Selbst wenn sie als Flüchtlinge anerkannt werden, wird ihnen keine Rückkehr nach Großbritannien erlaubt. Kritiker sehen darin einen Bruch internationalen Rechts. Doch noch gibt es kein grünes Licht. Der Londoner Supreme Court soll im Herbst beraten, ob das Vorhaben rechtens ist. Für den Fall, dass die Regierung vor Gericht unterliegt, habe man einen Plan B ausgearbeitet, berichtete die Times: Es gebe Verhandlungen mit fünf anderen afrikanischen Staaten über ein Umsiedlungsprogramm für illegale Migranten. Selbst die Himmelfahrt-Inseln im Süd-Atlantik sollen erwogen werden.