„Et ass ee frou, dass ee sech net huet missen eng Kéier esou decidéieren.“ Dieser Satz fällt eine Reihe hinter mir, prompt nachdem sich die Darsteller ein letztes Mal auf der Bühne verbeugt haben und die gedimmten Lichter wieder angeknipst worden sind. Murmelnd greifen die Zuschauer nach ihren Taschen und Mänteln. Der Saal ist fast ganz voll: Für die Premiere des Stücks (Text und Dramaturgie: Kristof van Boven, Frank Feitler) haben am Mittwochabend viele Menschen den Weg ins Escher Theater gefunden. Ich drehe meinen Kopf und erhasche einen Blick auf die Frau, die eben genau das geäußert hat, was wohl vielen der Anwesenden gerade durch die Köpfe geht: Gott bin ich froh, dass dieser Kelch an mir vorübergegangen ist.
Eine Antwort bleibt ihre Sitznachbarin der Sprecherin schuldig – oder vielleicht auch nicht, denn das Schweigen scheint ein zustimmendes zu sein. Sie könnte auch protestieren, wenn sie mit dem Gesagten nicht einverstanden wäre, denke ich. Ist Zustimmung die Abwesenheit von einem eindeutigen Nein? Das ist die Frage, um die an diesem Abend ohnehin alles kreist, der Dreh- und Angelpunkt von „En Escher Jong“ (Regie: Ulrich Waller, Assistentin: Mahlia Theismann) oder sein Scharnier, das die ihm zugehörigen Elemente beweglich macht und sie sowohl einander näher kommen als auch voneinander Abstand nehmen lässt.
Die Koffer packen müssen …
Die Elemente, von denen hier die Rede ist, könnten wortwörtlich die Türen des überdimensionalen Koffers sein, der auf der Bühne steht und die ganze Garderobe von René Deltgen – der Figur, um die es im Stück geht – beherbergt (Ausstattung und Licht: Raimund Bauer). In sich birgt dieser Koffer einen Spiegel, zwei Tische und Stühle, Kleiderhaken und ein Bett. Ein wenig wie Polly Pocket, fällt mir ein, ohne das despektierlich zu meinen. Wie schön konkret ist dieses Bühnenbild, dessen symbolische Dimension so wuchtig und unmittelbar daherkommt wie der Gegenstand selbst: der figurative Verbannungsort eines Menschen, der nach dem Krieg heimatlos geworden ist, weil man ihm seine Staatsbürgerschaft aberkannt hat – obwohl Deltgen, in dessen Rolle André Jung im Verlauf des Stücks schlüpft, stur behauptet, er sei immer Luxemburger gewesen und er würde auch immer Luxemburger bleiben. Das stehe in seinem Pass, den er immer bei sich trage. Deltgen – das legt „En Escher Jong“ offen – weigert sich (womöglich mit Recht, wer weiß), den Verlust seiner Heimat anzuerkennen. Eine schmerzlich-tragische Situation.
Wer war René Deltgen?
René Deltgen (1909-1979) war ein luxemburgischer Schauspieler, Synchronsprecher und Hörspielsprecher. Er galt zu Lebzeiten als ein abenteuerlustiger Alleskönner. Den Grundstein für seine Schauspielkarriere legte seine überraschende Aufnahme an der Kölner Schauspielschule, wofür er als 19-Jähriger das Großherzogtum verließ. Schnell wurde der gebürtige Luxemburger zum Publikumsliebling. Die Presse feierte ihn „für sein körperbetontes Spiel und seinen ungekünstelten Ton“, wie in der Broschüre zu „En Escher Jong“ steht. Als Hitler an die Macht kam, gehörte Deltgen dann schon „zur ersten deutschen Schauspielgarde“. Während des Nazi-Regimes florierte seine Karriere weiter. 1944 wurde er sogar auf die unter Joseph Goebbels zusammengestellte Gottbegnadeten-Liste gesetzt. Wegen seiner Unterschrift unter zwei nationalsozialistische Propagandaschriften verlor Deltgen schließlich die Gunst der Luxemburger. Nach Ende des Krieges wurde er als „Kollaborateur“ vor Gericht gebracht und ihm wurde u.a. für zwei Jahre die luxemburgische Staatsbürgerschaft aberkannt. Das beendete jedoch die Karriere des preisgekrönten Fernsehstars nicht: Bis in die 70er Jahre hinein wirkte er in Filmen mit. Deltgens Filmografie zählt insgesamt über 40 Titel.
Der Koffer stellt somit auch das Gepäck dar, das der berühmt gewordene Deltgen tragen muss, weil seine Landsleute ihn nach Ende des Krieges der Kollaboration bezichtigen und er zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Er repräsentiert aber auch den Ballast, der auf Deltgens Schultern lastet, weil er vielleicht, und das ist eben die zentrale Frage, während der Kriegsjahre nicht klar genug „Nein“ zum Naziregime gesagt hat. Unter Hitler stieg der gebürtige Escher bis zum Staatsschauspieler auf. „Jiddereen huet säi Päckelchen ze droen“ – welches wiegt für Deltgen schwerer?
… oder die Koffer packen können?
Ein wenig wie Polly Pocket, denke ich wieder, und diesmal meine ich es doch ein wenig despektierlich. Gegen Ende des Stücks quetscht sich der von der Reaktion seines anklagenden und hinterfragenden Gegenübers (Luc Feit) brüskierte Deltgen durch den Spalt zwischen den beiden Deckeln ins Innere des Koffers hinein – ein regressiver Akt eines Mannes, der sich, so kommt es einem vor, schwer damit tut, Verantwortung für sein Handeln oder vielmehr sein Nicht-Handeln zu übernehmen. In dem Moment wirkt Deltgen klein, winzig klein, wie eine Miniaturfigur und vielleicht auch wie ein Spielfigürchen, das von den Nationalsozialisten für ihre Propaganda instrumentalisiert worden war (oder das sich dafür hatte instrumentalisieren lassen?).
Der Koffer ist schließlich auch der Zufluchtsort von Deltgen, der während der Kriegsjahre mit einem Bein in Luxemburg und einem Bein in Deutschland stand. Er genoss Privilegien, konnte zwischen beiden Ländern pendeln – etliche seiner Freunde hatten, sinnbildlich gesprochen, keinen solchen Koffer. Ihnen kam keine bevorzugte Behandlung zu, sie konnten nicht frei hin- und herreisen und blieben dabei von der faschistischen Regierung verschont. Wie Luc Feit während des Stücks selbst erzählt, überlebte Deltgens Schauspielkollege Joachim Gottschalk, der mit der jüdischen Darstellerin Meta Wolff verheiratet war, das nationalsozialistische Terrorregime zum Beispiel nicht: Als die Familie den Deportationsbescheid für Wolff und ihren gemeinsamen Sohn Michael („Micha“) erhielt, brachten die Eltern ihren Sohn und sich selbst nach einem letzten gemeinsamen Abendessen um. Deltgen fand die Leichen am nächsten Morgen vor.
Von der Bühne zur Anklagebank
Die Einzelstücke, denen das oben genannte Scharnier ihre Beweglichkeit verleiht, können aber auch die Schauspieler Luc Feit und André Jung selbst sein. Sie durchleuchten im Dialog die Biografie von René Deltgen, wobei sie verschiedene Rollen einnehmen: Feit ist Deltgen gegenüber skeptisch eingestellt, Jung verteidigt das Luxemburger Ausnahmetalent und rutscht zugleich zunehmend in dessen Rolle hinein, bis er schließlich in Anzug und mit dem für Deltgen charakteristischen schmalen Schnurrbart als Angeklagter neben Feit (seinerseits nun im Richtergewand) steht, und sich rechtfertigen muss für die Dinge, die ihm in der von Feit laut vorgelesenen Anklageschrift vorgeworfen werden.
Feit und Jung – die selbst beide als luxemburgische Darsteller in Deutschland Fuß gefasst haben – werfen sich während der Darstellung immer wieder gegenseitig Stichwörter oder knappe Sätze zu, auf die sie wechselseitig mit der Schilderung verschiedener Anekdoten aus dem Leben Deltgens reagieren. So umkreisen sie die wichtigsten Thematiken, die Deltgens Lebensgeschichte bestimmen: seine Leidenschaft für das Schauspiel, seine Liebe für seine Frau und seine Kinder, mit denen er in Berlin lebte, seine durchgängige Identifizierung mit der luxemburgischen Nationalität und seine Ohnmacht gegenüber den Nationalsozialisten, die zum Teil seine Nähe suchten. Zwischendrin kommen sich die beiden Schauspieler in ihren Erklärungen, Mutmaßungen und Urteilen über Deltgen immer wieder näher, kämpfen aber auch als Kontrahenten um die Deutungshoheit über das Leben und Handeln des „Escher Jong“ – wobei im Stück weder ein Konsens erreicht wird, noch eine Deutung sich durchsetzen kann.
„En Escher Jong“ verfolgt damit einen interessanten Ansatz. Spannend wäre es vielleicht gewesen, noch stärker auf multimediales Material zurückzugreifen, um die Ambiguität des Falls „Deltgen“ zu untermauern. Neben den projizierten Filmszenen und der von Feit verlesenen Anklageschrift hätten zum Beispiel alte Zeitungsartikel oder auch überlieferte Berichte von Freunden, Kollegen und Kritikern als mögliche Ressource zur Anreicherung der lebhaften Skizzierung von Deltgens Karriereweg dienen können. So oder so funktioniert das Stück jedoch wunderbar durch seinen zusammengesetzten Charakter, bei dem das Leben des Luxemburger Schauspielers im Zwiegespräch teils nacherzählt, teils nachgespielt und teils interpretatorisch umlaufen wird. Wie hätte man selbst an Deltgens Stelle reagiert? Hätte man sich stärker gegen den Faschismus aufgelehnt? Wäre man nach dem Aufstieg Hitlers endgültig nach Luxemburg zurückgekehrt und hätte damit seiner Schauspielerexistenz einen Todesstoß versetzt? „Et ass ee frou, dass ee sech net huet missen eng Kéier esou decidéieren.“
Das Stück wird noch am Freitag, dem 25. Februar um 20 Uhr, und am Sonntag, dem 27. Februar um 17 Uhr gezeigt.
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