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Einschulung: Wieso weltweit über 120 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen können

Einschulung: Wieso weltweit über 120 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen können
Der Luxemburger Paul Heber, Pressesprecher von Unicef, im Gespräch mit dem Tageblatt.

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In Luxemburg ist es selbstverständlich, dass Kinder und Jugendliche zur Schule gehen. Weltweit haben über 120 Millionen Kinder nicht die Chance, eingeschult zu werden. Dafür gibt es die verschiedensten Gründe. Wir haben uns mit Paul Heber, Pressesprecher der Unicef, über Gründe, Probleme und Lösungsansätze unterhalten.

Tageblatt: In Luxemburg steht die «Rentrée» vor der Tür. Weltweit gibt es aber zahlreiche Kinder, die nicht die Chance haben, zur Schule gehen zu können. Wie hoch ist diese Zahl?
Paul Heber: Wir teilen das immer auf in Grundschule und Sekundarstufe. Das Problem mit den Zahlen ist, dass sie nicht immer ganz aktuell sind, da es meist Erhebungen sind, die ein, zwei Jahre zurückliegen. Die aktuellsten Zahlen, über die wir verfügen, sind in diesem Fall von 2016. Weltweit waren es 61 Millionen Kinder im Grundschulalter (6 bis 11 Jahre), die nicht in die Schule gehen konnten. Dazu kommen noch einmal 60 Millionen zwölf- bis 15-Jährige dazu, die nicht eingeschult wurden. Die meisten der nicht eingeschulten Kinder, also etwas mehr als 50 Prozent, leben im subsaharischen Raum.

Gibt es Unterschiede je nach Geschlecht?
Es gibt eine leichte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. 53 Prozent nicht eingeschulter Kinder sind Mädchen. Der gleichberechtigte Zugang der Geschlechter ist aber von enormer Bedeutung. Wieso gehen mehr Jungs in die Schule als Mädchen? Was können wir da tun? Was sind die Probleme? Was die Gründe? Oft ist es so, dass Mädchen mehr im Haushalt helfen müssen. Wir wissen aber auch, dass eine Frau, die lesen und schreiben kann, später autonomer ist. Und autonome Frauen können sich besser um ihre Kinder kümmern. Für uns ist es also wichtig, dass wir Mädchen im jungen Alter dazu kriegen, in die Schule zu gehen. Und dafür brauchen wir viel Überzeugungsarbeit. Und die sollte man dann auf den jeweiligen Kontext und die jeweilige Kultur adaptieren.

In welchen Ländern oder Regionen ist die Einschulung zurzeit besonders problematisch?
Unicef setzt weltweit ein Schwergewicht auf Notfälle. Eins von vier Kindern, die nicht eingeschult sind, lebt in einem Land, das entweder von einer Krise oder einem Konflikt heimgesucht wurde. Es gibt zahlreiche solcher Länder und Regionen. Aktuell am schwersten betroffen ist Syrien. Dort haben Konflikt und humanitäre Krise den höchsten Level erreicht. Wir decken aber auch Länder mit weniger großen Krisen ab. Krisen werden als weniger hoch eingestuft, wenn sie umweltbedingt sind oder wenn sie jedes Jahr zur gleichen Zeit wiederkehren wie beispielsweise die Überschwemmungen in Bangladesch oder die Hungersnöte in bestimmten Teilen von Afrika. Es ist fast ein Automatismus, dass Kinder aus Krisengebieten umso mehr von der Nicht-Einschulung betroffen sind.

Wo befinden sich denn diese Krisengebiete?
Die meisten betroffenen Länder befinden sich in Afrika. In Liberia gehen 62 Prozent der Kinder nicht zur Schule. Oder Nigeria. Dort sind über acht Millionen Kinder im Grundschulalter nicht eingeschult. Aktuell eben auch Syrien oder Bangladesch, wo sich die Lage neben den Überschwemmungen noch durch die Flucht der Rohingya verschärft hat.

Wie ist der Zusammenhang zwischen Krise und Nicht-Einschulung zu verstehen?
Wenn ein Konflikt entsteht, findet meist auch eine Umsiedlung der Bewohner statt. Familien und Kinder werden aus ihrem Alltag herausgerissen. Die Kinder können meist nicht mehr zur Schule gehen. Die Prioritäten liegen dann erst mal woanders. Und wenn man nicht mehr in seiner Umgebung lebt, dann hat man auch keinen Zugang mehr zu der gewohnten Infrastruktur. Das bringt mit sich, dass dann die Schulbildung extrem betroffen ist.

Bei den Krisen kann man sehen, dass schnell eine ganze Generation von nichtschulischer Bildung betroffen ist. In einer Krise sagen die Leute, dass Essen und Trinken Vorrang hat. Ja, das hat es auch. Aber man darf trotzdem die Schulbildung nicht vernachlässigen. Letztere gibt den Kindern ein Stück Alltag zurück und verhindert, dass wir über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren eine Generation haben, die weder lesen noch schreiben kann. Und demnach nicht genug ausgebildet ist, um ein Land nach einer Krise wieder aufzubauen. Die Schulbildung ist also eine Komponente, die man nie vergessen darf. Es ist etwas, das wir immer versuchen, in einen Gesamtmix unterzubringen.

Welche Faktoren gibt es denn noch, die die Nicht-Einschulung begünstigen?
Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die dazu führen, dass ein Kind nicht eingeschult wird. Das kann neben Armut oder einem Krieg auch eine Behinderung, der sozioökonomische Status oder das Geschlecht sein. Aber aufgepasst, da gibt es noch die berühmten Durchschnittsberechnungen. Die verstecken oft Realitäten. Es gibt Länder, wo 99 Prozent der Kinder eingeschult sind. In irgendeiner abgeschiedenen Region dieses Landes kann es aber der Fall sein, dass die dort lebenden hundert Kinder nicht zur Schule gehen. Dieser Missstand kommt in der Durchschnittsberechnung nicht zur Geltung. Die Frage ist natürlich auch, wo wird man auf dem Planeten geboren. Man kann in einem Land leben, das viele Ressourcen hat, aber derart groß ist, dass es keine Infrastruktur hat, dann kommt das Problem vom überlangen Schulweg ins Spiel.

Haben Sie ein Beispiel?
In vielen Ländern müssen die Kinder Schulwege von fünf Kilometern zu Fuß zurücklegen. Das heißt eine Stunde hin und eine weitere Stunde zurück. Der Weg kann zudem Gefahren bergen. Die Kinder kommen in der Schule an, haben dort in der Mittagszeit nichts zu essen. Dann sagen die Eltern: Wir sehen keinen Sinn darin, unser Kind dahin zu schicken. Und ein Kind, das die Schule besucht, kann nicht im Haushalt helfen. Vielleicht ist es aber wichtig, sich um die paar Tiere zu kümmern und auf dem eigenen Feld zu arbeiten. Die Schule wird als Verschwendung angesehen, weil es kurzfristig nichts einbringt.

Wenn die Leute sagen, wir überleben jeden Tag, an leben ist nicht zu denken, dann können wir es uns nicht leisten, dass wir Kinder haben, die in die Schule gehen. Dann können sich noch andere Beschränkungen dazugesellen wie beispielsweise Gebühren, die man zahlen muss, damit die Kinder zur Schule gehen können. Das können Schuluniformen sein, die die Eltern selbst finanzieren müssen oder andere kleine Sachen, die für die Eltern nicht machbar sind.

Dazu kommt das Sprachenproblem. Insbesondere in Afrika gibt es viele Dialekte. Oft spricht das Schulpersonal nur die Hauptsprache des Landes. Das Schulmaterial ist nicht in die lokalen Dialekte übersetzt. Ein weiteres Problem sind Kinder von Minoritäten oder Nomadenkinder, die einen ganz anderen Lebensstil haben, der nicht mit dem Schulrhythmus vereinbar ist. Als Beispiele kann ich den Sudan oder Somalia nennen.

Welche Lösungen gibt es, um die Einschulungsrate in Problemregionen zu erhöhen?
Es gibt sehr unterschiedliche Lösungen. Die Unicef passt sich immer der Situation an. Es ist nicht so, dass wir sagen, das ist eine gute Lösung, die wenden wir jetzt auch in anderen Ländern an. Wenn wir über Schulbildung reden, dann müssen wir auch über Ernährung sprechen. Wir müssen die Eltern davon überzeugen, dass es einen Grund gibt, die Kinder in die Schule zu schicken. Wenn wir ihnen zum Beispiel sagen, wir kümmern uns darum, dass eure Felder bewirtschaftet werden, während die Kinder in der Schule sind, dann können wir etwas erreichen. Es steckt viel dahinter. Im Allgemeinen setzen wir den Fokus auf verschiedene Themen.

Und die wären?
Die Ziele zur nachhaltigen Entwicklung, die «Sustainable Development Goals», besagen zum Beispiel, dass wir eine Qualitäts-Schulbildung erreichen wollen. Dann ist die Frage nach der Definition der Qualitätsschulbildung. Was ist denn schulische Bildung? Lesen, schreiben, rechnen? Aber geht es nicht auch noch darum, den Kindern das nötige Wissen mit auf den Weg zu geben, damit sie später einmal ihrem Land ökonomisch helfen können? Das geht also viel weiter als die Basis. Und dann ist es wichtig, dass wir früh genug mit den Kindern an diesen Orten anfangen. Wir können nicht sagen, in Afrika reicht es, wenn die Kinder nur vier Jahre in die Schule gehen. Wir haben keine doppelten Standards. Und dann müssen die Schulprogramme auch genau an die Kinder an diesen Orten angepasst werden. Wir haben das Problem bei syrischen Kindern, die umgesiedelt wurden, Millionen von ihnen übrigens in den Ländern um Syrien herum. Diese syrischen Flüchtlingskinder haben bis dahin ein anderes Schulsystem gekannt als jene beispielsweise im Libanon oder in Jordanien.

Man muss also auch versuchen, diesen Lebenslauf anzupassen, in der Hoffnung, dass die Kinder auch irgendwann mal in ihr Land zurückgehen können. Wir wollen die Kinder schließlich nicht entfremden. Es ist ja bereits eine Herausforderung an sich, wenn man ein Kind aus einem System herauszieht.

Wie gehen Sie denn bei den Nomadenkindern vor?
Nomadenkinder ziehen mit ihrem Vieh weiter. Bei einer Schule kann man nicht alle zwei Wochen die Wände einreißen. Das heißt, da müssen wir angepasste Wege finden. Man kann den Leuten sagen, ihr könnt nicht mehr so weiterleben, oder man sucht nach Möglichkeiten, wie man trotz Nomadenlebens eine Schulbildung garantieren kann. Das sind Herausforderungen. Dafür braucht man auch ordentliches Personal. Eine Schule bauen reicht nicht.

Wir hatten auch schon mal den Fall eines Lehrers, der uns berichtete, er habe seit neun Monaten kein Gehalt bekommen, und würde jedes Wochenende 50 Kilometer nach Hause laufen. Nach dem Wochenende dann wieder die 50 Kilometer zurück. Während der Woche zog er mit den Nomaden umher. Man braucht also auch Menschen, die die richtige Einstellung haben. Aber auch das reicht nicht. Wenn kein Geld kommt, dann fallen auch solche Systeme auseinander. Das ist alles sehr zerbrechlich. Die Dauerhaftigkeit ist dort sehr wichtig. Ich denke da an das Klischee «wir bauen eine Schule und dann ist gut». Aber das reicht meistens nicht aus.

Wie sehen Sie die Zukunft?
Die Entwicklungshilfe funktioniert. Es wird besser, aber leider nicht so schnell, wie wir uns das wünschen würden. Das geht nicht von heute auf morgen. Das erste Mal, als ich im Einsatz war und gesehen habe, wie die Kollegen versucht haben, die Eltern davon zu überzeugen, dass das Kind in die Schule gehen sollte, merkte ich ganz schnell, dass das nicht selbstverständlich ist. Und dann sieht man auch, wieso das so ist. Die Eltern haben Angst, dass das Kind unterwegs von einer Hyäne angegriffen wird. Sachen, an die man gar nicht denkt.

Was wir immer wieder, vor allem bei Konflikten, haben, ist die Tatsache, dass Fortschritte, die wir erzielt haben, kaputtgemacht werden. In Syrien kommen wir nun ins achte Jahr. Da gibt es Regionen, wo es keine Infrastruktur mehr gibt. Der Aufbau wird wahrscheinlich Hunderte Milliarden Euro kosten. Das ist ein Riesenproblem. In Regionen, die nicht unbedingt von Konflikten betroffen sind, wo man in Ruhe Sachen aufbauen kann, merken wir schon, dass Entwicklungshilfe über die Jahre einen positiven Einfluss hat. Die Zahlen nicht eingeschulter Kinder sind rückläufig. Diese Zahlen können aber auch wieder in die Höhe schießen, wenn beispielsweise auf einen Schlag fünf Millionen Kinder aus Syrien auf der Flucht sind.