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Forum / Eine milde Kontraktion naht
 Foto: AFP/Justin Sullivan

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Es gibt derzeit vier Szenarien für die weltwirtschaftliche Entwicklung. Drei davon sind mit potenziell ernsthaften Risiken mit weitreichenden Folgen für die Märkte verbunden.

Das positivste Szenario ist eine „weiche Landung“, bei der es die Notenbanken in den hochentwickelten Volkswirtschaften schaffen, die Inflation wieder auf ihren Zielwert von 2 Prozent zu drücken, ohne eine Rezession auszulösen. Es besteht zudem die Möglichkeit einer „relativ weichen“ Landung. Dabei wird das Inflationsziel erreicht, aber durch eine relativ milde (kurze und nicht sehr ausgeprägte) Rezession erkauft.

Das dritte Szenario ist eine harte Landung, bei der die Rückkehr zu einer Inflation von 2 Prozent eine länger anhaltende Rezession mit potenziell schwerwiegender finanzieller Instabilität erfordert (z.B. mit mehr in Schieflage geratenden Banken und hochverschuldeten Akteuren, die ernste Schwierigkeiten haben, ihre Schulden zu bedienen). Falls die Bemühungen zur Zähmung der Inflation schwere wirtschaftliche und finanzielle Instabilität auslösen, wird ein viertes Szenario möglich: Die Notenbanken verlieren den Mut und entschließen sich, eine über dem Zielwert liegende Inflation zuzulassen, was die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen und einer anhaltenden Lohn-Preis-Spirale birgt.

Der Euroraum steckt bereits in einer technischen Rezession. Sein BIP ist im vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023 gesunken und die Inflation liegt (trotz des jüngsten Rückgangs) nach wie vor deutlich über dem Zielwert. Großbritannien steckt noch nicht in der Rezession, doch das Wachstum hat sich deutlich verlangsamt und die Inflation bleibt hartnäckig hoch (über dem OECD-Durchschnitt). Und die USA haben im ersten Quartal einen deutlichen Abschwung erlebt, während die (um die Nahrungsmittel- und Energiepreise bereinigte) Kerninflation hoch blieb. (Sie fällt zwar, aber liegt nach wie vor bei über 5 Prozent.)

Schwellenmärkte und die Inflation

Chinas Erholung im Gefolge von Covid-19 scheint derweil ins Trudeln geraten zu sein, was das relativ bescheidene Wachstumsziel der Regierung von 5 Prozent für 2023 infrage stellt. Und andere Schwellen- und Grenzmärkte (mit Ausnahme Indiens) zeigen ein im Vergleich zu ihrem Potenzial relativ blutleeres Wachstum; viele leiden noch immer unter sehr hoher Inflation.

Welches der vier Szenarien ist am wahrscheinlichsten? Zwar ist die Inflation in den meisten hochentwickelten Volkswirtschaften gesunken, aber nicht so schnell, wie von den Notenbanken erhofft. Das liegt zum Teil an den angespannten Arbeitsmärkten und dem hohen Lohnwachstum, die in den arbeitsintensiven Dienstleistungsbranchen den Inflationsdruck verstärkt haben. Zudem befeuert eine expansive Fiskalpolitik weiterhin die Nachfrage und trägt zur Verstetigung der Inflation bei.

Dies hat es den Notenbanken erschwert, ihr Mandat zur Wahrung von Preisstabilität zu erfüllen. Die Erwartungen der Märkte, dass die Notenbanken mit ihren Zinserhöhungen durch wären und in der zweiten Jahreshälfte 2023 sogar Zinssenkungen einleiten würden, sind geplatzt. Die US Federal Reserve, die Europäische Zentralbank, die Bank von England und die meisten anderen wichtigen Notenbanken werden die Zinssätze weiter erhöhen müssen, bevor sie eine Pause einlegen können. Und dabei wird sich der Wirtschaftsabschwung weiter verfestigen, was die Gefahr einer wirtschaftlichen Kontraktion und neuerlicher Schulden- und Bankenkrisen birgt.

Zugleich drängen geopolitische Entwicklungen – einige, wie der dann abgebrochene Vormarsch der Wagner-Gruppe auf Moskau, völlig unerwartet – die Welt weiter in Richtung Instabilität, Deglobalisierung und größerer Fragmentierung. Und China muss nun, da der Aufschwung im Land schwächelt, entweder aggressive Konjunkturmaßnahmen mit weltweiten Auswirkungen auf die Inflation einleiten oder läuft Gefahr, sein Wachstumsziel deutlich zu verfehlen.

Einige Rohstoffe werden günstiger

Auf der Plusseite hat das Risiko einer schweren Kreditverknappung seit den Bankenpleiten vom März deutlich abgenommen und die Preise einiger Rohstoffe haben sich (teilweise aufgrund von Rezessionserwartungen) abgeschwächt. Dies hat zu einer Verringerung der Inflation bei den Waren geführt. Die Gefahr einer harten Landung (Szenario 3) scheint daher geringer als vor einigen Monaten. Doch da Lohnwachstum und Kerninflation hartnäckig hoch bleiben, sind die Notenbanken zu zusätzlichen Zinserhöhungen gezwungen, was eine kurze und nicht besonders ausgeprägte Rezession während des kommenden Jahres (Szenario 2) sehr viel wahrscheinlicher macht.

Schlimmer noch: Falls es zu einer milden Rezession kommt, könnte dies die Stimmung bei Verbrauchern und Wirtschaft weiter untergraben, so die Voraussetzungen für einen schwereren und länger anhaltenden Abschwung schaffen und die Gefahr von Finanz- und Kreditkrisen erhöhen. Angesichts der Möglichkeit, dass Szenario 2 in Szenario 3 übergeht, könnten die Notenbanken die Nerven verlieren und zulassen, dass die Inflation deutlich über 2 Prozent verharrt, statt zu riskieren, eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise auszulösen.

Das geldpolitische Trilemma der frühen 2020er Jahre bleibt also bestehen. Die Notenbanken stehen vor der enorm schwierigen Aufgabe, Preisstabilität, Wachstumsstabilität (keine Rezession) und Finanzstabilität gleichzeitig zu erreichen.

Kein Orkan, aber wohl ein Tropensturm

Was sind in diesen Szenarien die Folgen für die Vermögenspreise? Bisher hat sich der Bärenmarkt des Jahres 2022 bei US- und globalen Aktien umgekehrt und die Anleiherenditen sind leicht gesunken – ein Muster, das für eine weiche Landung der Weltwirtschaft spricht, bei der die Inflation in Richtung auf den Zielwert sinkt und ein Wachstumseinbruch vermieden wird. Zudem haben US-Aktien – überwiegend Technologiewerte – durch den Hype über die generative künstliche Intelligenz Auftrieb erhalten.

Doch selbst eine kurze und nicht sonderlich ausgeprägte Rezession – von einer harten Landung ganz zu schweigen – würde deutliche Kursrückgänge bei US- und globalen Aktien auslösen. Und sollten die Notenbanken dann tatsächlich die Nerven verlieren, würde der hierdurch bedingte Anstieg der Inflationserwartungen die Renditen langfristiger Anleihen in die Höhe treiben und aufgrund des erhöhten Abzinsungsfaktors auf Dividenden letztlich die Aktienkurse in Mitleidenschaft ziehen.

Während es weniger wahrscheinlich scheint als noch vor ein paar Monaten, dass die Weltwirtschaft in einen Orkan gerät, ist es noch immer wahrscheinlich, dass wir einen Tropensturm erleben, der erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Schäden verursacht.


Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Nouriel Roubini ist Professor emeritus für Volkswirtschaft an der Stern School of Business der New York University, Chefökonom des Atlas Capital Team und der Verfasser von „Megathreats: 10 Bedrohungen unserer Zukunft – und wie wir sie überleben“ (Ariston, 2022).

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