In einem touristischen Werbeprospekt für die Schweiz geht vom „Mann mit dem Vogel“ die Rede. Dies sei „wörtlich und metaphorisch“ zu verstehen, da Friedrich Dürrenmatt stets davon sprach, „einen Vogel“ zu haben. Doch in Wahrheit hatte er deren zwei: Shakespeare, ein Nymphensittich, und Kakadu Lulu, zu dem er ein besonderes Verhältnis pflegte. Wer gerne auf Dürrenmatts Spuren wandelt, dem wird in besagtem Prospekt eine aufwendige Tour empfohlen. Diese endet im Centre Dürrenmatt, einem Zentrum, das die Strapazen lohnt, die der Besucher auf sich nehmen muss, um zu diesem Zentrum, bestehend aus dem ehemaligen Wohnhaus des Autors und einem Neubau des Architekten Mario Botta, auf den Anhöhen des Städtchens Neuchâtel im „idyllischen“ Vallon de l’Ermitage gelegen. Ohne Ortskenntnis ist das CDN schwer zu finden, es mangelt an Hinweisschildern und die Wege in der im Hang liegenden Stadt sind recht verschlungen.
Museum im Jahr 2000 eröffnet
Charlotte Kerr, die zweite Ehefrau des Meisters der spitzen Feder, des schwarzen Humors und der feinen Beobachtungsgabe der Schweizer Gesellschaft, wollte nach Dürrenmatts Tod diesem ein Denkmal setzen, ein Museum widmen. Sie stellte Wohnhaus, umfangreiches Areal und Besitz zur Verfügung, verpflichtete für den Bau 1990 Botta, der nach Besichtigung des Geländes zusagte, doch es dauerte fast zehn Jahre, bis das Zentrum eröffnet werden konnte. Es soll, so Bundesrat Villiger, „eine offene Tür zu Dürrenmatts Werk“ sein.
Am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Kanton Bern geboren, verbringt Dürrenmatt seine Jugend in Bern und Zürich, 1946 bricht er sein Studium ab, heiratet, wird unabhängiger Schriftsteller, zieht nach Ligerz am Bielersee und 1952 kommt der Umzug ins eigene Haus nach Neuchâtel. Hier lebt er bis zu seinem Tode. Theaterstücke, Hörspiele, Erzählungen, Kriminalromane und Artikel beschäftigen ihn, doch Zeichnung und Malerei sind für ihn als Ausgleich und Ausdrucksmedium auch wichtig. 1976 zeigt er erstmals öffentlich seine Bilder. Zahlreiche Auszeichnungen und spannende Reisen treiben ihn. Nach dem Tode seiner ersten Frau heiratet er 1984 die Journalistin, Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Vater von zwei Töchtern vermacht er trotzdem 1989 seinen gesamten literarischen Nachlass der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Nach einer Polen-Reise, dem Besuch der von Auschwitz und Birkenau sowie der Publikation von „Turmbau: Stoffe IV-IX“ stirbt er am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel.
Das literarische Schaffen ist so vielseitig, dass es müßig wäre, alle Werke aufzulisten, der Besucher des CDN kann anhand von ausziehbaren Tafeln mannigfaltige Rezensionen seiner Werke und mittels geschickt mit Reiserouten kombinierten gesprochenen Textauszüge viele Aspekte seines Schaffens genießen sowie sich in der Bibliothek und dem Büchershop ausführlich mit Literatur von ihm und Analysen über sein Werk bedienen. Arbeitszimmer und andere Räumlichkeiten der Familie sind zu besichtigen.
Erinnernde Fresken an WC-Wänden
Dürrenmatt scheute die Pflege gesellschaftlicher Verpflichtungen zwar nicht, doch lebte er gerne zurückgezogen, dies in einer Welt voller Bilder, in der er seiner Leidenschaft zur Malerei nachgehen konnte, seiner „stark visuell geprägten Vorstellungskraft Gestalt verleihen konnte“. Er mochte die Kombination von Text und Bild, wie das CDN notiert, sodass er sich gerne beiden Künsten widmete, dem Schreiben und dem Malen.
Was aber hat dies alles mit der Sixtinischen Kapelle zu tun? Da Dürrenmatt sich gerne mit Bildern umgab, bemalte er selber die Wände der Toilette in seinem Haus. Er nannte diesen Ort „nicht ohne Sinn für Humor“ Sixtinische Kapelle. Diese wurde von Mario Botta in das Architekturkonzept des Museums integriert und ist seit der Eröffnung im Jahr 2000 dort zu sehen. 2021 wäre der Autor 100 Jahre alt geworden. Das CDN hat deswegen alle „geschichtsträchtigen Orte, die einen persönlichen Zugang zu seinem Werk ermöglichen“ näher unter die Lupe genommen, so auch die „Sixtinische Kapelle“. An ihren Wänden lassen sich Figuren und Themen aus Dürrenmatts Theaterwelt erkennen, ob aus „Romulus der Große“ oder „Titus Andronicus“ und „Lavinia“, seine teils skurrile Imagination lebt auch gerne in verschiedenen Werken gleichzeitig auf.
Besagte Malereien sind in Publikationen reproduziert, sodass Interessierte diese Fresken eingehend studieren können. Das CDN Heft Nr. 32 ist ganz der Sixtinischen Kapelle gewidmet, einige Motive werden im Detail dargelegt, auch zeigt das Zentrum die Reproduktion von „Das Jüngste Gericht“, Stirnwandfresko hinter dem Altar der authentischen Sixtinischen Kapelle im Vatikanpalast. Soll das eine Hommage an Michelangelo sein? Erklärend dazu wird Dürrenmatt mit den Worten zitiert, es gebe keine Privatkapellen mehr und die Toilette sei der einzige Ort, an den man sich zurückziehen könne. Er kannte Michelangelos Meisterwerk der Renaissance und in seinem Text „Stoffe“ gesteht er, dieser sei ihm in seiner Jugend ein „Vorbild“ gewesen. Außerdem gibt er zu, die Kapelle in Rom habe bei ihm einen „bleibenden Eindruck“ hinterlassen, auch habe des Meisters Werk seinen „Schaffensprozess“ beeinflusst, „bei dem die Botschaft eines Bildes gegenüber dessen Stil Vorrang hat“. Demzufolge wird gemutmaßt, Dürrenmatts Kapelle habe sich von der Freske „Das Jüngste Gericht“ frei inspiriert, auch sein Bild „Die Katastrophe“ aus dem Jahr 1966 sei mit Referenzen auf Michelangelo gespickt.
Schrille Figuren, spitze Zeichnungen
Spannende Heft-Lektüre, die sich bei der Betrachtung der Bilder betreffend Lebenslagen des malenden Autors problemlos fortsetzen lässt, auch finden sich in zahlreichen Bildern von Dürrenmatt Anspielungen auf die Bibelgeschichte, Mythologien, die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft seines Heimatlandes und Überschneidungen mit Figuren und Problemen seiner literarischen Werke. „Engel und Teufel“ sind einige Zeichnungen betitelt, „Titus und Lavinia“ spiegeln Szenen aus dem antiken Rom wider, derweil „die nackte Frau und die Bankiers“ Figuren sind, die öfters in seinen Bildern auftauchen, so auch in der „Sixtinischen Kapelle“. Andere Verbindungen zu Theaterstücken sind erkennbar. In diesem Werk lässt Dürrenmatt seiner Fantasie vollen Lauf, einzig die Abbildung seines Hundes Sheriff hänge direkt mit seinem „persönlichem Leben“ zusammen, heißt es. Schlussendlich wird das Bild mit dem Mann, der Schweizer Flagge und zwei Ungeheuern an der Toilettentür als mögliche Metapher für die im Zweiten Weltkrieg verschonte Schweiz gedeutet. Dürrenmatt hat sich bekanntlich ausführlich damit auseinandergesetzt. Selbstredend wird das Gesamtwerk „Sixtinische Kapelle“ als ein Hauptwerk interpretiert. Dürrenmatt sagt dazu, die „Vorstellungskraft schweiße hier Auseinanderliegendes zusammen“, es sei „seine private Kapelle und ein Hort für neue Ideen“.
Bekannt für seine manchmal recht schrillen Bilder, von denen viele übersichtlich in thematische Serien gruppiert Einblick in seine Welt bieten, hat Dürrenmatt dazu unter anderem ausgeführt: „Meine Zeichnungen sind nicht Nebenarbeiten zu meinen literarischen Werken, sondern die gezeichneten und gemalten Schlachtfelder, auf denen sich meine schriftstellerischen Kämpfe, Abenteuer, Experimente und Niederlagen abspielen.“*
Wer das bildnerische Œuvre und sein literarisches fürs Museum aufbereitet eingehend erfassen möchte, dem sei ein Besuch des CDN empfohlen. Auf die Schnelle, so wie es ein Prospekt suggeriert, lässt sich dies nicht bewältigen. Man sollte sich Zeit nehmen für Mann, Werk und Gebäude, das Dürrenmatts in über 40 Jahren geschaffenes „literarisches und bildnerisches Werk“ so eindrucksvoll vereint und deren Terrasse an eine „offene Weltbühne erinnert“.
* Zitiert in „Mario Botta Centre Dürrenmatt Neuchâtel“, 2000 bei Birkhäuser anlässlich der NCA-Eröffnung erschienen.
Anreise
Anreise zum CDN, ab Bahnhof ca. 20 Minuten. Ansteigender Fußweg. Infos: www.cdn.ch.
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