Während der zweistündigen historischen Tour durchquerten die Teilnehmer unterschiedliche städtische Räume: den Bahnhofsplatz, die Avenue de la Gare, die place de Paris sowie den oberen Teil der Avenue de la Liberté. Der Grundstein für die Entwicklung dieses Viertels stammt aus jener Zeit, als Luxemburg noch eine Festungsstadt war. Militärische Überlegungen hatten den Standort des Bahnhofs 1859 außerhalb der Festung bestimmt. Nach der Auflösung der Festung und dem Abtragen der Festungswerke wurde das gesamte Areal zwischen Petrusstal und Bahnhof zur Bebauung freigegeben.
Auf dem damals noch zur Gemeinde Hollerich gehörenden Gebiet entstand ein neues Stadtviertel. Der obere Teil bis zur rue Jean Origer und dem Pariser Platz sowie die westlichen Teile in Richtung Oberpetruss liegen bis zur Gemeindefusion, im Jahr 1920, auf dem Gebiet der Gemeinde Hollerich. Sichtbar war diese Grenze durch die sogenannten Octroi-Häuschen, wo jeder bei der Ein- und Ausfuhr von Waren eine Steuer entrichten musste.
Perfekte geografische Lage
Die ehemaligen Bauflächen glichen Feldern, die Parzellen waren schmal und tief. Insgesamt waren die Flächen wesentlich größer als jene in der Oberstadt und konnten für andere Funktionen erschlossen werden. Der Bahnhof selbst wurde aufgrund seiner Anbindungen ans internationale Eisenbahnnetz zu einem wichtigen Drehpunkt für Bahnreisende.
Die geografische Lage, großflächige Parzellen sowie der internationale Bahnhof waren somit optimale Voraussetzungen, um Industrien und Handwerksbetriebe anzusiedeln. 1876 beauftragte die Regierung den französischen Landschaftsingenieur Edouard André, rechts und links der inzwischen begradigten Avenue de la Gare zwei neue Viertel anzulegen. Die Bebauung dieses Areals zwischen rue Bender und place de Paris begann kurz nach 1880.
Zu den großen Unternehmen zählten damals die Forges et Laminoirs de Luxembourg, Champagne Mercier, die Fässerei Ruckert, die Eisenbettenfabrik Berl und die Tabakfabrik Heintz van Landewyck. Im Bahnhofsviertel ließen sich die Infrastruktur der Straßenbahn, die Sägereien Saint-Hubert und Glesener-Loewen, die Baumaterialhandlung Funck sowie die Marbrerie Jacquemart nieder. Schülerinnen vom Lande und Dienstmädchen fanden in diesem damaligen Vorstadtviertel die geeigneten Schulen Sainte Famille (heute Fieldgen) sowie die Karmeliterinnen in der Zithastraße.
Geschäftsleute erreichten das neue Viertel mit der Bahn. In drei Wellen eröffneten hier rasch Hotelbetriebe: Zwischen 1881 und 1894 waren es acht Betriebe, zwischen 1895 und 1915 krisenbedingt nur vier. Nach der Weltwirtschaftskrise boomte das Geschäft und 17 weitere Hotels kamen hinzu. Allein 14 davon befanden sich am Bahnhofsplatz. In den 1930er-Jahren hatte der Gastwirteverband sogar eine Begrenzung der Hotelgründungen gefordert, wie Robert Philippart präzisierte. Zeuge eines florierenden Handels um die Jahrhundertwende waren u.a. die Hotels Kons, Staar und das Hotel des Nations, wo Vieh öffentlich versteigert wurde. Benannte Häuser boten 40 bis 60 Ställe pro Haus. In diesem volkstümlichen Viertel entstanden die ersten Ausgehschenken mit großem Festsaal, etwa das Casino de la Gare, Vieux Luxembourg, Hotel de la Poste, Walsheim oder Alfa. Sie bestimmten das Angebot mit Theater und Kurzopern, Boxkämpfen und politischen Versammlungen.
Stetiger Wandel und Weiterentwicklung
Der Bau der Avenue de la Liberté und deren Anschluss an den Bahnhofsplatz führten zu Enteignungen. Die neue Straßenflucht erschwerte den Zugang zu bestehenden Waren- und Gasthäusern. Die Geschäftsleute wehrten sich damals, aus Angst vor gegenseitiger Konkurrenz, gegen eine weitere Geschäftsmeile in der Avenue de la Liberté. Daraufhin verzichtete der Staat auf Touristenmagneten wie Nationalmuseum und Kathedrale und förderte den Bau von Verwaltungen: Eisenbahnsitz, Sparkassensitz, Sitz der Sozialversicherungen oder etwa der Arbed. Diese räumliche Aufteilung bestimmt bis heute das Bild des Viertels.
Einen erneuten Wandel erlebte das Bahnhofsviertel Ende der 1930er-Jahre. Aufgrund der Zunahme des Verkehrs wurde die Avenue de la Gare verbreitert. Dem Gastgewerbe gingen dabei die Terrassen am Straßenrand verloren. Nach und nach schlossen die Gastronomen ihre Türen. Ständig entwickelte sich das Viertel weiter, wie Robert Philippart während der Besichtigung verdeutlichte.
Man denke dabei an gastronomische Franchise-Unternehmen, das erste Wimpy, das 1968 am Pariser Platz öffnete, später Quick und Pizza Hut. Neue Gastgewerbe ließen sich in Bahnhofsnähe nieder, etwa das Hotel Eldorado, das Hotel Nobilis, Kons, Alfa und International vergrößerten sich. Mit der Ankunft des TGV kommen neue Hotels am Boulevard d’Avranches, der rue du Laboratoire hinzu. Alteingesessene Häuser wie Clesse, Staar, Hotel des National, Hotel Graas mit kleinen Kapazitäten schließen mit dem Aufkommen neuer internationaler Hotelketten. Auch fanden Konditoren den Weg ins Bahnhofsviertel, wie etwa Krier, Krau-Kinard, Bouronne, Julien Scheer, Namur und Hoffmann.
Zu den handwerklichen Unternehmen gehörte das Schuhhaus Voosen mit eigenen Produktionshallen vor Ort, die Druckereien Saint-Paul, Bourg-Bourger und Imprimerie Centrale, der Marmorhändler Jacquemart, die Baumaterialien-Gesellschaft Glesener-Loewen sowie Maroldt und Funck.
In Sachen Freizeitgestaltung siedelten sich Ende der 1920-Jahre nicht weniger als sechs Kinos im Bahnhofsviertel an. Die Hauptstadt bot bei 60.000 Einwohnern insgesamt acht kommerzielle Kinosäle. Davon war das Kapitol (1931-1969) das erste Tonfilmkino der Stadt, das Eldorado (1949-1988), das größte. Mit dem Einzug des Fernsehens schwand die Besucherzahl.
Einzelhandel und „prêt-à-porter“ halten Einzug
Im dichtestbesiedelten Stadtteil entstanden auch hier die ersten großen Lebensmittelgeschäfte wie Volkmann vor dem Ersten Weltkrieg und Delhaize zwischen den Weltkriegen. Vor der Eröffnung von Economat oder Alima, A-Z und Cactus hatte Josy Leesch 1950 Luxemburgs ersten Self-Service-Laden an der Ecke rue Bourbon – avenue de la Gare eröffnet. Jean-Pierre Champagne hatte Luxemburg größtes Warenhaus zwischen den avenue de la Gare und Avenue de la Liberté eingerichtet. Die Geschäftspassage des Bazar Champagne mit Kuppel und Monumentaltreppe verband zwischen 1903 und 1923 beide Straßen. Auf 1.500 Quadratmeter Verkaufsfläche wurden 100.000 sehr unterschiedliche Artikel verkauft. Bereits sehr fortgeschrittene Marketingstrategien wurden angewendet.
Einen Zeitwandel erlebte ebenfalls der Stoff- und Konfektionshandel. Wurden früher noch sehr viele Stoffe als Meterware verkauft, so musste auch dieser Handelszweig den Großwarenhäusern mit dem „prêt-à-porter“ weichen. Bekannte Namen waren damals die Monopol-Geschäfte in Luxemburg, Hirschberger, Meyer-Heisbourg und Renommée.
Eine neue Ära wurde dann ab Mitte der 1970-Jahre eingeläutet. Die Straßenbahn war längst verschwunden, der Individualverkehr im Viertel nahm stark zu. Es entstanden die neuen Parkhäuser Neipperg und Martyrs. Die Entstehung von Einkaufszentren am Stadtrand beeinflusste das Geschehen im Bahnhofsviertel. 1980 eröffnete die Passage Nobilis mit 30 Geschäften und unterirdischem Selfservice und eigenem Parkhaus. Weitere Einkaufsmeilen gab es in der Passage 45 gleich nebenan oder etwa in der Passage „am ale Wort“.
Die Ära der 1970er und 1980er, wie viele unserer Leser sie noch kannten, ging zu Ende. Mittlerweile verbindet wieder eine Straßenbahn das Bahnhofsviertel mit der Oberstadt. Trotz Leerständen bestehen auch heute noch attraktive Geschäfte im Bahnhofsviertel. Alles muss daran gesetzt werden, um diese Häuser zu unterstützen und um dem Viertel einen neuen Aufschwung zu ermöglichen, sagt der Stadthistoriker.
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