Zwei Monate sind es her, dass Bettina Steinbrügge die Direktion des Mudam übernommen hat. Die 51-Jährige kann bereits auf eine beachtliche Karriere zurückblicken: Von 2014 bis 2021 war sie Direktorin des Kunstvereins Hamburg, von 2010 bis 2014 Senior-Kuratorin am 21er-Haus der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien, von 2001 bis 2007 Leiterin des Kunstvereins Halle für Kunst in Lüneburg und nicht zuletzt Gastkuratorin an der Kunsthalle Mulhouse. Durch diese Aufgaben hatte sie schon in der Vergangenheit Verbindungen zu Luxemburg. Als neue Bürgerin des Landes bewundert sie den kosmopolitischen Flair des Großherzogtums und kann auf einen idealen Rahmen zurückgreifen, um sich zu konzentrieren. Ein großer Vorteil in Anbetracht der vielen neuen Wege, die es zu beschreiten gibt, um das Mudam noch besser an die Vision eines Ortes des sozialen Austausches und der politischen Diskussion anzupassen.
Tageblatt: Was ist die Rolle einer Direktorin in einem zeitgenössischen Kunstmuseum?
Bettina Steinbrügge: Eine Direktorin muss zuhören können, sollte viel kommunizieren, gut verwalten und sich um die Förderer kümmern. Manchmal kann sie an die Kunst denken, wenn sie die programmatische Linie vorgibt oder gemeinsam mit dem Team eine Vision entwickelt. Sie sollte national wie international vernetzt sein und sowohl intern als auch extern inspirieren können.
Und was für eine Rolle muss ein Museum in der Gesellschaft spielen?
Die grundlegenden Funktionen von Museen für die Gesellschaft ändern sich gerade ein wenig. Sie waren schon immer Orte, an denen über die großen Themen der Gesellschaft diskutiert wurde. Bisher jedoch eher auf indirekte Weise. Mit und nach der Pandemie werden diese Debatten zunehmend zu einer zentralen Aufgabe. Museen werden zu kuratierten Plattformen für gesellschaftliche Projekte und damit zu Orten der politischen Diskussion. In Zukunft wird nicht mehr nur eine Ausstellung die Attraktivität einer Institution ausmachen, sondern die Bildung von Thesen, die Qualität ihrer intellektuellen oder populären Impulse, die aus dem Museum hervorgehen. Museen müssen zu Orten des Diskurses werden, wenn es zum Beispiel um Fragen der Nachhaltigkeit oder des Klimawandels geht. Und daneben sind sie auch Orte der kulturellen Bildung. Wir erforschen unsere eigenen Sammlungen noch intensiver und öffnen sie in immer neuen Ausstellungskonfigurationen für unser Publikum, um Thesen und Standpunkte zur Diskussion zu stellen. Es gibt so viele Museen wie unterschiedliche Geschichten, die man über die Sammlungen und die Bedeutungen der Werke erzählen kann. Museen werden daneben immer mehr zu Orten, an denen man sich aufhalten kann. Damit ist nicht nur das Museumscafé und der angeschlossene Shop gemeint. Die Kommunikationsangebote, die Ausstellungen oder bestimmte Kunstwerke bieten, machen das Museum des 21. Jahrhunderts zu einem Kiosk der Künste, einem Meinungsangebot, das Perspektiven auf die Online- und Offline-Welt eröffnet. Wenn man den Gedanken konsequent weiterdenkt, könnten gerade hier in Zukunft viele wesentliche Diskussionen angestoßen werden. Das Museum wäre dann ein Ort, an dem Politik und Gesellschaft diskutiert werden, es ginge nicht nur um die Dominanz der Meinung, sondern um die Vielfalt der Meinungen. Bisher haben die Gesellschaften sich über die kulturelle Leistung einer Vorgängergeneration definiert. Heute müssen wir diese Leistungen zunehmend erklären, müssen sagen, warum diese Leistungen etwas Positives für unsere Gesellschaft erbracht haben.
Museen müssen zu Orten des Diskurses werden, wenn es zum Beispiel um Fragen der Nachhaltigkeit oder des Klimawandels geht
Meinen Sie das in Richtung jüngerer Menschen?
Das ist nicht nur eine Generationenfrage. In Luxemburg leben Menschen von ca. 170 verschiedenen Nationalitäten mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. Das bedeutet auch, dass Kultur unterschiedlich gesehen und definiert wird. Wir müssen als Museum also erkennen, dass wir verschiedene Geschichten zu erzählen haben, oder aus verschiedenen Perspektiven erzählen müssen. Wir müssen verstehen, dass wir mit herkömmlichen Mitteln nicht auf diese Vielfalt reagieren können. Wenn wir uns nur auf unser Ursprungspublikum konzentrieren, werden wir viele Menschen nicht erreichen. Aber das ist doch auch ein interessanter Prozess.
Finden Sie, dass die Architektur von Pei gut altert?
Die Architektur von Pei gefällt mir sehr gut. Sie ist lichtdurchflutet und stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Oder vielleicht besser: Es ist keine Architektur, die einschüchtert, sondern sie ist offen und freundlich. Architektonisch gesehen wurde sie in einer Zeit gebaut, in der die Kunst eine andere war und in der auch die Bedürfnisse, z.B. in der Kunstvermittlung, andere waren. Das ist aber im Endeffekt sehr interessant. Man dachte damals nicht viel über Installationen oder Bewegtbilder nach, sondern über Malerei und Skulptur. Heute stellt sich das als eine sehr produktive Herausforderung für Künstler:innen, Kurator:innen und Besucher:innen dar, die oft auch spannende und unkonventionelle Lösungen produziert. Und insbesondere Performances, die eine immer größere Rolle spielen, sind in diesem Haus großartig. Die Architektur hat darüber hinaus ein wunderbares Spiel mit innen und außen, das ich gerne mehr nutzen würde. Die Natur wird an vielen Stellen direkt in das Haus hineingelassen.
Was denken Sie von dem schmalen Eingang, der etwas abschreckend wirken könnte?
So schmal ist er ja nicht. Aber in der Tat war die Eingangssituation in der ersten Architekturfassung anders geplant. Der Eingang sollte im Fort Thüngen sein, wo heute das Festungsmuseum ist. Von dort aus wäre man dann in die große Halle des Neubaus gelangt. Und das, was jetzt der Eingang ist, wäre die Anlieferung gewesen. Und das merkt man bis heute. Jede Architektur hat eine Geschichte. Und wenn man diese Geschichte umarmt und schaut, wie man produktiv mit dieser Geschichte umgehen kann, dann gibt es einen Moment, in dem die neue Situation plötzlich ganz natürlich erscheint. Zudem ist der Bereich vor dem Museum noch ausbaufähig. Es ist ein toller Ort, um etwas zu machen, sich bei gutem Wetter zu treffen, oder sich aufzuhalten. Es gibt schon ein paar sehr gute Ideen, insbesondere für die Zeit, wenn die Passerelle fertiggestellt ist und man direkt zum Eingang des Museums geleitet wird.
Haben Sie Ideen, um das Innere umzugestalten?
Es gibt einige ganze simple Ideen, die meines Erachtens aber eine große Wirkung entfalten könnten. Ich würde den Empfang gerne wieder in den Eingangsbereich verlegen, sodass man direkt nach Eintritt empfangen wird. Dahinter stehen aber auch praktische und finanzielle Erwägungen, die wir gut diskutieren müssen. Ich möchte die Kunstvermittlung räumlich sichtbarer machen und würde mich freuen, wenn wir unsere Bibliothek irgendwann öffentlich zugänglich machen könnten. Zudem haben wir einen neuen Café-/Restaurantbetreiber, der ab September seinen vollen Betrieb aufnehmen wird und bereits jetzt viele interessante Ideen hat. Und eine große Frage für mich ist, wie man die Aktivitäten im Inneren stärker nach außen kommunizieren kann. Das würde dann auch Zugangsbarrieren und das Hermetische des Gebäudes aufbrechen. Museen sollen heute wesentlich stärker als früher eine erweiterte Aufenthaltsqualität bieten. Museen sind viel stärker zu sozialen Orten geworden, und ich glaube, daran müssen wir arbeiten.
Wie wichtig ist die Sammlung? In welche Richtung wollen Sie sie entwickeln?
Der Kern eines Museums ist die Sammlung. Von ihr geht alle Arbeit, insbesondere auch die Ausstellungspraxis aus. Es geht darum, der Sammlung einen unverwechselbaren Charakter zu verleihen. Es gibt mehrere Fragen, die beantwortet werden müssen: Was bedeutet es heute, eine Sammlung aufzubauen? Wie soll das Museum in fünf Jahren aussehen? Wer sind die wichtigsten und einflussreichsten Künstler von heute? In Luxemburg und international? Was ist wichtig in Luxemburg? Was bedeutet global für Luxemburg? Wie könnte das Museum auf die heutige, plötzliche Situation reagieren? Wie kann das Museum an der Veränderung der Gesellschaft mitwirken? Wir sammeln das, was gesellschaftlich wichtig ist und unsere Zeit widerspiegelt. Das Mudam sammelt die wichtigsten luxemburgischen Positionen und arbeitet so an der Kunstgeschichte des Landes. Zudem ist Luxemburg aber auch eine der europäischen Hauptstädte mit vielen internationalen Verflechtungen. Das muss sich auch in der Sammlung widerspiegeln. Wir schreiben mit an der internationalen Kunstgeschichte. Wir wollen wichtige Arbeiten sammeln und so ein wichtiges Referenzmuseum für die Kunst unserer Zeit sein. Dazu zählt derzeit auch die Frage, welche Auswirkungen die Globalisierung auf den westlichen Ansatz von Moderne hat. Die Sammlung hat viele Arbeiten, die sich mit der europäischen und amerikanischen Moderne beschäftigen. Die Diskurse haben sich radikal geändert und es wird für die Sammlung wichtig sein, auch die anderen Stimmen, die die Moderne anders auffassen, neu aufzunehmen. Das spiegelt dann auch gut die gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir leben möchten, wider. Es gibt viele Menschen, die hier leben, die eine ganz andere Perspektive auf die Dinge haben. Wir müssen unsere Erzählung ändern. Wir müssen sehen, dass wir heute in einer anderen Gesellschaft leben. Wir brauchen nicht unbedingt andere Arbeiten, um es anders erzählen. Weil wir erzählen aus einer Perspektive heraus, aus einer westlichen Perspektive, die langsam gewachsen ist. Es gibt aber viele Menschen, die hier leben, die eine ganz andere Perspektive haben.
Sind Sie der Meinung, dass mehr Frauen, mehr Angehörige von (ethnischen oder geschlechtsspezifischen) Minderheiten vertreten sein sollten? Sowohl in der Sammlung als auch in den Ausstellungen?
Wir sind eine öffentliche Kultureinrichtung mit gesellschaftlicher Verantwortung. Wir sollten demnach auch ein Abbild unserer vielfältigen Gesellschaft sein.
Was sind Ihre Ideen zwecks Demokratisierung des Museums?
Das ist die Frage, die sich stellt, seit die zeitgenössische Kunst populärer geworden ist, etwa seit den 1980er Jahren. Wir müssen die unterschiedlichen Bedürfnisse einer vielfältigen und auch individualisierten Gesellschaft viel stärker anerkennen und sie in unsere Arbeit einbeziehen. Wir müssen zuhören und Zugänge ermöglichen. Zugänge auch für Menschen, die z.B. nicht hören oder sehen können, die körperliche Zugangsschwierigkeiten haben. Unser Kunstvermittlungsteam ist in diesem Bereich bereits sehr erfolgreich, aber es gibt noch viel zu tun. Das bedeutet auch, mehr Diversität im Team zuzulassen und unterschiedliche Erfahrungswelten in das Team zu holen. Outreach ist ein wichtiges Thema und dabei, mit unserem Publikum auf Augenhöhe zu sprechen, ohne beliebig zu werden. Wir müssen auf die verschiedenen Bildungshintergründe eingehen, den Menschen zuzuhören, sie aber auch herausfordern. Davon haben wir heute viel zu wenig. Ich freue mich darauf.
Gefällt Ihnen die Kunst von Wim Delvoye? Hätten Sie seine Kapelle entfernt? Ist ein pädagogischer Bereich in einem Museum notwendig?
Ich schätze und respektiere die Arbeit von Wim Delvoye schon sehr lange. Und auch die Kapelle wird wieder im Mudam zu sehen sein, aber nicht sofort. Ein Museum lebt von Veränderungen und Flexibilität, und manchmal ist es interessant, an eine Arbeit zu denken und sie ein wenig zu vermissen. Dadurch gewinnt sie an Bedeutung. Wir werden mit dem Team besprechen, in welchem Kontext wir sie wieder zeigen werden. Dann werden alle umso glücklicher sein. Und ja, es ist sehr wichtig, Räume für die Kunstvermittlung zu haben. Das sehen wir allein schon daran, dass unsere Programme sehr gut gebucht sind. Museen sind auch Bildungseinrichtungen, und dieser Aspekt wird immer wichtiger, vor allem im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Wir hoffen, weitere Möglichkeiten in Bezug auf die Räumlichkeiten zu erhalten, aber im Moment ist die eingeschränkte Raumsituation für die Vermittlung unser Status quo und wir reagieren darauf mit größtmöglicher Flexibilität.
Ein Museum lebt von Veränderungen und Flexibilität, und manchmal ist es interessant, an eine Arbeit zu denken und sie ein wenig zu vermissen. Dadurch gewinnt sie an Bedeutung.
Wie können Sie vermeiden, dass wieder neue Schwierigkeiten mit dem Team aufkommen?
Als gesamtes Team arbeiten wir derzeit daran, uns besser kennenzulernen, viel zu kommunizieren und eine gemeinsame Vision für das Mudam zu entwickeln, um diese dann in die Tat umzusetzen. Das ist ein großes Vergnügen und fördert das gegenseitige Verständnis füreinander.
Ist es die Rolle eines Museums, mitten im Krieg etwas zu tun, wie es das MNHA nach dem Angriff Russlands getan hat?
Aus Deutschland weiß ich, was es bedeutet, wenn Institutionen in schwierigen Zeiten keine Stellung beziehen. Und was ich daraus für mich ableite, ist, dass wir eine gesellschaftliche Verantwortung haben, dass wir Empathie zeigen müssen und dass wir die Verantwortung haben, dem, was in der Gesellschaft passiert und was auch vielen Menschen Angst macht, zu begegnen. Ich glaube, ein Museum sollte ein Ort sein, an dem man Haltung zeigt, indem man zum Beispiel seinen Kolleg:innen hilft. Das können im heutigen Fall die ukrainischen, aber auch die russischen Kolleg:innen sein. Wir können solidarisch sein und für die Kunstschaffenden einen Ort schaffen, wo ein künstlerischer Ausdruck gelebt werden kann, der in ihren eigenen Ländern nicht mehr möglich ist. Wir haben einen Fundraiser der luxemburgischen Künstler:innen organisiert und arbeiten gerade an weiteren Programmen. Wir brauchen mehr Solidarität in unserer Gesellschaft, ansonsten werden wir auch die Klimakrise nicht meistern können.
Können Sie Künstler:innen nennen, deren Werke wir sicherlich in den nächsten Jahren im Mudam sehen werden?
Michel Majerus. Sein Einfluss auf eine junge nationale und internationale Künstler:innen-Generation kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
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