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Ein Jahr nach dem Berliner Anschlag: Hilflose Wut und neue Kredite

Ein Jahr nach dem Berliner Anschlag: Hilflose Wut und neue Kredite

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Am 19. Dezember 2016 verkaufte Max Müller mit seiner Frau auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche Brezeln, Glühwein und Baguettes – bis der Stand zerstört wurde. «Zusammengekracht wie ein Kartenhaus», sagt der 26-Jährige nüchtern. «Ich stand gerade vor der Bude, als der Laster einen Meter von mir entfernt vorbeirauschte und in die Hütte krachte. Ich habe dann meine Frau herausgezogen.» Der Berliner ist selbstständiger Schausteller in sechster Generation.

Fast ein Jahr ist vergangen, seitdem der islamistische Attentäter Anis Amri mit einem gekaperten Laster in den Weihnachtsmarkt raste und elf Menschen in den Tod riss. Den polnischen Lastwagenfahrer hatte der Tunesier zuvor erschossen. Rund 70 Menschen wurden verletzt, an den Folgen tragen viele ein Leben lang. Die Müllers haben überlebt, äußerlich unversehrt. «Wir hatten einen guten Schutzengel.»

An ihren angestammten Platz auf dem Markt im Berliner Westen kehrt die junge Familie in diesem Jahr nicht zurück. Denn genau dort wird am ersten Jahrestag des bislang schwersten Terroranschlags in Deutschland das Denkmal für die Opfer enthüllt. Ein vergoldeter Riss im Boden soll die Namen der Toten in Erinnerung rufen.

Wer überlebt hat, hat Glück gehabt

Ein Stückchen weiter, gleich neben dem modernen Hochhaus Upper West, öffnet Max Müller nun am 27. November mit seiner Frau Katalina eine neue, große Bude. «Ich weiß noch nicht, welche Gefühle da hochkommen werden, wenn der Trubel losgeht», sagt die 22-Jährige.

«Sei doch froh, dass du überlebt hast, du hast ja Glück gehabt» – oft habe er sich das anhören müssen, sagt Müller. Doch dass der schreckliche Abend auch an ihm nicht spurlos vorüberging, das wolle keiner wissen. Aber seine Familie, die halte zusammen. Seine Mutter habe anfangs viel geweint. Sie habe vor Augen gehabt, was auch ihm hätte passieren können.

Müller wirkt rastlos, guckt immer wieder auf die Uhr, checkt die nächsten Termine, gestikuliert mit lauter Stimme. «Die emotionale Seite habe ich wohl etwas verdrängt, ich gehe es praktisch an», sagt der gelernte Nutzfahrzeug-Techniker.

Termine bei der Seelsorge

Nach dem Anschlag habe er mit seiner Katalina zwei Termine bei der Seelsorge gehabt. Auch ein Yogakurs sei ihnen angeboten worden – um die innere Mitte wiederzufinden. «Das war nichts für mich, meine Frau hat das stärker angenommen», erzählt der junge Unternehmer, der das Jahr über mit seinen Fahrgeschäften Melodie Start und der XXL Krake durch Deutschland tourt.

Als Opfer will sich Müller nicht sehen. «Ich hab wenig Platz im Kopf für sowas. Ich leite diese Firma, ich habe vier feste Mitarbeiter, ich muss nach vorne schauen.» Und doch ist etwas in ihm geblieben von damals, woran er öfter denke. Es ist das Geräusch von dem Laster, als der seine tödliche Bahn zog. «Wie das Abladen eines Müllcontainers, hart und scheppernd.»

Alles andere sei fast unwirklich gewesen – wie sie wegrannten, wie schon bald Gedanken an den Anschlag von Nizza hochkamen, wie er den Vater benachrichtigte, der gerade auf dem Weg zum Breitscheidplatz war. Wie sie Familienmitglieder von anderen Ständen einsammelten, wie Polizei und Rettungskräfte den Platz schnell absperrten.

«Ich wollte das Gesicht nicht mehr sehen»

Müller ist überzeugt, es wäre noch viel verheerender gekommen, hätte der Attentäter an einem Wochenende zugeschlagen. «Da wäre der Markt weit voller gewesen, es hätte noch mehr Menschen erwischt.» Als in den Wochen nach dem Anschlag das Bild des auf der Flucht in Italien erschossenen Attentäters immer wieder in Zeitungen oder im Fernsehen auftauchte, habe er keine Nachrichten mehr zur Kenntnis genommen. «Ich wollte das Gesicht nicht mehr sehen.»

Und je mehr Ermittlungspannen herauskamen, «desto größer wurde meine Wut», bricht es aus Müller heraus. Es sei nicht gelungen, den abgelehnten, straffälligen Asylbewerber in seine Heimat nach Tunesien auszuweisen. Hätte das Attentat nicht verhindert werden können? Bei solchen Überlegungen fühle er sich verlassen, allein gelassen, sagt der große Mann mit dem hilflosen Zorn.

Mit dem großen Flüchtlingsstrom seien auch kriminelle Ausländer nach Deutschland gekommen. «Und es laufen weiter gewaltbereite Typen herum», macht sich Müller Luft. «Kann mir das mal einer erklären? Ich erwarte, dass mich der Rechtsstaat beschützt.» Die Regeln hier müssten für alle gelten. Wer sich nicht an das friedliche Zusammenleben halte, habe hier nichts zu suchen. Müller, der mit 18 in die CDU eintrat, findet, Deutschland brauche dringend ein Einwanderungsgesetz. «Wer sich integriert, ist willkommen.»

Händler wollen sich nicht verdrängen lassen

Gleich nach dem Anschlag seien die meisten der mehr als 100 Händler und Standbetreiber vom Breitscheidplatz einig gewesen: «Wir lassen uns nicht von Terroristen verdrängen, wir geben denen keinen Raum. Wir wollen wieder öffnen.» Für die meisten habe auch die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel gestanden. «Die Weihnachtszeit ist das Hauptgeschäft», sagt Müller.

Der Chef des Berliner Schaustellerverbandes, Michael Roden, sagt der Deutschen Presse-Agentur, beim diesjährigen Weihnachtsmarkt seien fast alle wieder dabei. Ein einziger Händler habe nicht mehr gewollt. «Das Leben geht weiter, wir haben Familie, Verpflichtungen, wir sind Unternehmer, die Uhr muss am Laufen gehalten werden», fasst der Schausteller die Lage zusammen.

Trotzdem sei der Anschlag irgendwie immer präsent. Die Schausteller hätten mehr als eine Viertelmillion Euro für die Opfer gespendet, Sicherheitskonzepte für den Markt seien entwickelt, die Auflagen dafür erhöht worden. «Dafür müssen wir aber selbst aufkommen», berichtet Roden. 20 Prozent mehr Platzgebühren verlange die Stadt in diesem Jahr. Ob dann die Bratwurst und der Glühwein mehr kosten? Roden zuckt die Schulter: «Das muss jeder Betreiber selbst entscheiden.»

Stand für 30.000 Euro

Max Müller hatte seine Bude nach eigenen Worten gerade abbezahlt, als der Attentäter zuschlug. «Tja, es sollte losgehen mit dem Geldverdienen. Daraus wurde nichts.» Für den neuen Stand habe er nun wieder einen Kredit – 30.000 Euro – aufnehmen müssen. 23.000 Euro habe die Verkehrsopfer-Hilfe ausgezahlt, aus dem Härtefallfonds seien für ihn und seine Frau noch je 5000 Euro gekommen – doch das habe bei weitem nicht die Verluste ausgeglichen.

«Aber als Griechenland pleite war, sind Milliarden zur Rettung geflossen», regt sich Müller auf. Kurt Beck, Opfer-Beauftragter der Bundesregierung, habe ihm in einem Gespräch wenig Hoffnung gemacht, dass da noch staatliche Hilfe komme. Über eine Klage habe er noch nicht richtig nachgedacht, so der junge Unternehmer.

Müller gehört zu den Betroffenen, die sich nicht gleich nach dem Anschlag meldeten, sondern erst später ihre psychische Belastung bemerkten, wie der ehrenamtliche Opferbeauftragte des Landes Berlin, Roland Weber, sagt. «Diese Gruppe hatten die Behörden zunächst gar nicht auf dem Schirm.» Der Anwalt hatte auch zu fast allen Hinterbliebenen-Familien und Verletzten Kontakte herstellen können.

Empörung über kaltherzige Bürokratie

Anfangs gab es große Empörung über eine kaltherzige Bürokratie und geringe Empathie für die Opfer. Kritik an Behörden-Wirrwarr wurde laut und schnelle Hilfe vermisst. «Menschen, die Opfer werden, sind Menschen in einer Ausnahmesituation. Wer hat da den Nerv, seitenlange Anträge auszufüllen? Das schaffen die Leute nicht», sagt Weber.

Sein Ansatz: «Wir müssen auf die Betroffenen zugehen.» Das sei dann mit riesigem Aufwand organisiert worden. Bei ihm hätten die Telefone nicht mehr still gestanden, erinnert sich der Anwalt mit dem Ehrenamt.

Der rot-rot-grüne Berliner Senat hat inzwischen eine zentrale Stelle für Opfer von Terrorakten oder anderen schweren Unglücken beschlossen. Sie solle «umgehend für die Betroffenen» da sein, sagt Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). «Es bleibt zu hoffen, dass die Anlaufstelle wenig zu tun haben wird.»