Doch trotz unserer Schockstarre aufgrund der entsetzlichen und tragischen Bilder aus unter Beschuss stehenden ukrainischen Städten und trotz unseres Engagements, auf individueller und kollektiver Ebene alles zu tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen, wird klar, dass die wirtschaftlichen und humanitären Auswirkungen dieses Krieges weit über Europa hinaus spürbar sein werden. Wir haben eine Verantwortung, diese Folgen auch proaktiv zu mildern.
Schon vor dem Krieg belasteten die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise Haushalte und Staatshaushalte in vielen kleineren und ärmeren Ländern, deren Ökonomien sich auch am langsamsten von der Covid-19-Pandemie erholt hatten. Erneute Preissteigerungen aufgrund des Konflikts in Osteuropa drohen nun zu steigender Armut und Ernährungsunsicherheit zu führen. Unter diesen Umständen spielen die Welthandelsorganisation und der Handel insgesamt eine entscheidende Rolle bei der Vermeidung einer Hungerkrise, insbesondere in Ländern, die zu den Nettoimporteuren von Nahrungsmitteln zählen.
Wichtige Getreidelieferanten
Während der gemeinsame Anteil der Ukraine und Russlands am weltweiten Warenhandel nach Schätzungen der Welthandelsorganisation bescheidene 2,2 Prozent beträgt, wird diese Zahl der Bedeutung dieser Länder auf den Getreide- und Energiemärkten sowie als Lieferanten von Düngemitteln, Mineralien und Vorprodukten für eine Vielzahl nachgelagerter Produktionsaktivitäten nicht gerecht. Im Jahr 2020 beispielsweise lieferten die beiden Länder 24 Prozent des weltweit gehandelten Weizens und 73 Prozent des Sonnenblumenöls.
Die Einfuhr dieser Waren ist für die Ernährungssicherheit vieler Länder unerlässlich, die nicht über die für den Anbau dieser Nahrungsmittel notwendige Wasserversorgung, Bodenqualität und Witterungsbedingungen verfügen. In den letzten 30 Jahren haben sich die Ukraine und Russland als wichtige Getreidelieferanten für Länder wie die Mongolei, Sri Lanka, Libanon, Ägypten, Malawi, Namibia und Tansania etabliert. Das Welternährungsprogramm – also die UN-Organisation, die in über 80 Ländern Nahrungsmittelhilfe für Menschen leistet, die von Konflikten und Katastrophen betroffen sind – bezieht in der Regel mehr als die Hälfte des dafür notwendigen Weizens aus der Ukraine.
Die kriegsbedingten Blockaden der ukrainischen Häfen und die gegen Russland verhängten internationalen Sanktionen haben nun die weltweit verfügbaren Weizenmengen stark reduziert. Befürchtungen, wonach die ukrainischen Landwirte an der diesjährigen Frühjahrsaussaat gehindert werden, verstärken die Bedenken hinsichtlich des Angebots noch weiter, so dass der Preis für Weizentermingeschäfte in der ersten Märzwoche um 40 Prozent gestiegen ist und Rekordhöhen erreicht hat.
Preisexplosion wegen Exportkontrollen
Die Politik hat auf die rasant steigenden Energie- und Lebensmittelpreise in bekannter Manier reagiert. Mehrere Staaten haben die Ausfuhr von Getreide und anderen wichtigen Nahrungsmitteln eingeschränkt, um die Versorgung im eigenen Land aufrechtzuerhalten und den Preisanstieg zu begrenzen. Die steigende Zahl der an die Welthandelsorganisation gerichteten Beschwerden von Exporteuren in mehreren Mitgliedsländern und Zuständigkeitsbereichen unterstreicht das Ausmaß des Problems. Derartige Exportkontrollen können eine Spirale an Preissteigerungen und neuen Beschränkungen auslösen. Die Weltbank schätzt, dass 40 Prozent des weltweiten Preisanstiegs für Weizen während der letzten Nahrungsmittelkrise der Jahre 2010 und 2011 auf die Versuche der Staaten zurückzuführen waren, ihre einheimischen Märkte zu schützen.
Doch diese Risiken können durch weltweite Bemühungen gemildert werden. Die Erfahrung lehrt, dass internationale Zusammenarbeit dazu beitragen kann, die Auswirkungen steigender Lebensmittelpreise zu bewältigen. Seit zehn Jahren ermöglicht es der über das Agrarmarkt-Informationssystem geführte Informationsaustausch zu Nahrungsmittelangebot und Lagerbeständen führenden Exporteuren und Importeuren, Panik zu verhindern und das reibungslose Funktionieren der Märkte zu gewährleisten.
Da man im weltweiten Handel ohnehin bereits mit hohen Transportkosten und überlasteten Häfen zu kämpfen hat, könnte eine engere Koordinierung dazu beitragen, die internationalen Märkte für Lebensmittel, Energie und Rohstoffe zu stabilisieren und zusätzliche Unterbrechungen der Lieferketten zu minimieren. Die Überwachungs- und Transparenzfunktion der Welthandelsorganisation kann dabei helfen, dass nicht direkt von Sanktionen betroffene Lieferketten in den Bereichen Nahrungsmittel und Landwirtschaft offen bleiben und effizient funktionieren.
Es trifft die Ärmsten am härtesten
Eine verbesserte Sichtbarkeit von Marktverwerfungen würde die internationale Gemeinschaft auch in die Lage versetzen, die für arme, von steigenden Lebensmittelpreisen besonders betroffene Länder notwendigen Finanzhilfen und andere Hilfsleistungen festzustellen und zu mobilisieren. Das ist von besonderer Dringlichkeit, da große Teile der Welt schon vor dem Ukraine-Krieg durch eine ungenügende wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie abgehängt wurden. In den ärmsten Ländern blieb das Wachstum am weitesten hinter dem Trend aus der Zeit vor 2020 zurück. Die Gründe dafür bestehen in ihren unzureichend ausgestatteten Haushaltskapazitäten und dem ungleichen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen.
Während sich der Blick der Welt auf die sich in der Ukraine abspielende Tragödie richtet, müssen wir uns alle vorrangig auf die Unterstützung für die Menschen in der Ukraine konzentrieren. Es ist natürlich und auch angemessen, dass sich die Staaten den Verwerfungen in ihren eigenen Ökonomien zuwenden. Doch gilt es auch, aktiv zu werden und zu gewährleisten, dass die ärmsten und am stärksten gefährdeten Menschen auf der Welt – weit abseits des Konflikts und der Schlagzeilen – nicht zu einem Kollateralschaden werden.
*Ngozi Okonjo-Iweala ist Generaldirektorin der Welthandelsorganisation, frühere Finanz- sowie Außenministerin Nigerias und ehemalige geschäftsführende Direktorin der Weltbank.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
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