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Migration (Teil 2)Die Ursachen der Flucht und das Erbe der Kolonialzeit 

Migration (Teil 2) / Die Ursachen der Flucht und das Erbe der Kolonialzeit 
In Niger trifft der Militärputsch auf Unterstützung in der Bevölkerung, hier in der Hauptstadt Niamey am Unabhängigkeitstag, dem 3. August  Foto: AFP

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Die Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union in Bezug auf die afrikanischen Flüchtenden basiert nicht zuletzt auf zahlreichen Fehleinschätzungen und stereotypisierten Afrika-Bildern. Die Staatsstreiche in mehreren Ländern der Sahelzone haben das Verhältnis verkompliziert. 

Sein T-Shirt ist Programm. „I love Paris“, steht auf dem weißen Unterhemd, das Ibrahim trägt. „Ich habe es von einer Freundin geschenkt bekommen“, sagt der großgewachsene Mann Mitte 20 aus Bamako in Mali, den ich Ende Juli in der Fußgängerzone von Bozen getroffen habe. Er erzählt mir, dass er weiter in die französische Hauptstadt reisen möchte. Zuerst habe er sich auf einer Plantage in Süditalien verdingt, dann als Straßenverkäufer in Rom. Jetzt preist er eine Zeitung an. Ob er nach dem Putsch in seinem Heimatland Mali geflohen sei, frage ich Ibrahim. „Ja, aber meine Reise war lange geplant. Ich hatte über Jahre das Geld gespart und von meinen Verwandten noch etwas bekommen. Jetzt bin ich meiner Familie etwas schuldig.“

Ibrahims Worte begleiten mich die ganze Zeit während meiner Suche nach den Gründen für die Migration vieler Afrikaner. Sie sind wie eine Konstante meiner Recherchen. Selbst in Europa weiß man inzwischen, was eine Vielfachkrise ist. In Afrika ist sie ein Normalfall. Erst recht in Westafrika, und besonders in der Sahelzone, wo mehrere Putsche innerhalb von einigen Jahren die Krisendynamik verstärkt haben. Als im August 2020 die Armee in Mali die Macht übernahm, war für Ibrahim der Moment der Abreise gekommen. „Jetzt oder nie“, sagt er, „doch eigentlich war sie schon überfällig.“

Nigrische Soldaten während einer Demonstration in Niamey vor einer französischen Luftwaffenbasis. Die Demonstranten riefen „Nieder mit Frankreich, nieder mit Ecowas“. 
Nigrische Soldaten während einer Demonstration in Niamey vor einer französischen Luftwaffenbasis. Die Demonstranten riefen „Nieder mit Frankreich, nieder mit Ecowas“.  Foto: AFP

Nach Mali folgten im September 2021 der Putsch in Guinea und im Januar 2022 jener in Burkina Faso. Zuletzt war Niger an der Reihe. Auch hier traf die Machtübernahme der Militärs auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung. Wie in Mali hatte sich der dschihadistische Terror verstärkt. Die malische Regierung war hilflos dagegen, sodass sie Frankreich um Unterstützung bat. Bereits im März 2012 kam es zum Militärputsch nach einer Meuterei unzufriedener Soldaten, die dem damaligen Präsidenten Amadou Touré Versagen bei der Bekämpfung des Aufstandes der Tuareg vorwarfen. Die französische Armee startete 2013 ihre Operation „Serval“, gefolgt von der internationalen Operation „Barkhane“, die sich über mehrere Länder der Region erstreckte und die Bekämpfung des islamistischen Terrors zum Ziel hatte. In Mali ebenso wie in den angrenzenden Ländern galten die alten Eliten als korrupt und inkompetent, und die Wirtschaft in den Sahelstaaten, die zu den ärmsten Ländern der Welt gehören, als äußerst schwach. „Die Perspektive war gleich null“, sagt Ibrahim, von Beruf Lehrer. 

„Niemand flieht freiwillig“

„Niemand flieht freiwillig.“ Dieser Slogan des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) klingt banal, bringt es aber auf den Nenner: Die politischen Verantwortlichen der mächtigen Staaten der Welt scheinen ihn immer wieder zu ignorieren. Dabei grenzt der Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bereits ein, dass nur derjenige ein Flüchtling ist, der sein Land aus „Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung“ verlässt.

Auch Andreas Kossert besteht auf die strikte Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und sonstigen Migranten. Der deutsche Historiker und Autor des Buches „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ (2020) weiß: „Zum Flüchtigen kann jeder werden. Immer schon mussten Menschen ihr Haus, ihre Heimat, ihr ganzes bisheriges Leben ‚fluchtartig‘ verlassen.“ Er betont den „Zwangscharakter von Migration“ – und blendet dabei die Möglichkeiten aktiven Handelns aus. Der Migrant ist bei ihm mehr Vertriebener als Akteur.

Ein Bauer auf einem Reisfeld in der Nähe von Niamey
Ein Bauer auf einem Reisfeld in der Nähe von Niamey Foto: AFP

Mehr als 108 Millionen Menschen waren nach dem jüngsten UNHCR-Bericht im vergangenen Jahr weltweit auf der Flucht, davon mehr als die Hälfte Binnenvertriebene, also Flüchtlinge innerhalb ihres eigenen Landes. Ihre Gründe waren höchst unterschiedlich. Zwar haben oft Krieg und Verfolgung sie dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Der Bericht nennt aber auch etwa 5,9 Millionen Menschen, die nicht in der Statistik auftauchen, weil sie aufgrund von Naturkatastrophen, nicht zuletzt in Folge der Klimakrise, geflohen sind. Letztere hat wiederum gravierende Auswirkungen, wie Armut und Perspektivlosigkeit. Es sind folglich multiple Krisen, die am Ursprung der großen Odyssee stehen.

„Signatur unserer Zeit“

Im globalen Trend hat die Zahl der Menschen auf der Flucht zugenommen. Die Gründe, sich „on the move“ zu begeben, wie es der aus Indien stammende und in Singapur lebende amerikanische Politologe Parag Khanna in seinem Buch „Move. Das Zeitalter der Migration“ (2021) erklärt, sind vielschichtig, häufig treffen mehrere Ursachen zusammen: Zu Armut und kriegerischen Konflikten kommen klimatische Veränderungen hinzu.

Nach Khannas Theorie muss sich die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der sich verändernden Lebensbedingungen auf der Erde neu verteilen, denn einige Regionen drohen unbewohnbar zu werden. Demnach würden sich Milliarden Menschen aus den verödeten oder überschwemmten Gebieten des Südens in die Klimaoasen des Nordens aufmachen, wo die Neuankömmlinge aufgrund der dort bestehenden demografischen Lücke gebraucht werden.

Die Militärs haben das Sagen. Hier Ghanas Vizeadmiral Seth Amoama, Chef der ghanaischen Streitkräfte, während eines Treffens der „Economic Community of West African States“ (Ecowas) in Accra, Ghana, am 17. August. 
Die Militärs haben das Sagen. Hier Ghanas Vizeadmiral Seth Amoama, Chef der ghanaischen Streitkräfte, während eines Treffens der „Economic Community of West African States“ (Ecowas) in Accra, Ghana, am 17. August.  Foto: AFP/Gerard Nartey

Khanna beschreibt dies als ein weltweites Phänomen: als ein Zeitalter der Bewegung, das aus riesigen Migrationsströmen bisher ungekannten Ausmaßes besteht. Die Mobilität, „unsere Antwort auf die Ungewissheit“, ist das Schicksal des Menschen, die „Signatur unserer Zeit“. Der Mensch wird wieder zum Nomaden. Damit einhergehe das Ende von „Nationalismus“ und „Populismus“. „Sich bewegen heißt frei sein“, schreibt Khanna. Schöne neue Welt?

Momentan sieht es eher danach aus, als ob weiter an der „Festung Europa“ gebaut werde. Wie die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten Anfang Juni beschlossen, sollen Asylsuchende an der Außengrenze der Europäischen Union ein Schnellverfahren durchlaufen. Durch die restriktive Grenzpolitik sowie entsprechende Abkommen soll die Zahl der Migranten reduziert, während durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern die Fluchtursachen bekämpft werden. „Fluchtursachenbekämpfung avancierte zu einer Art Mantra des politischen Betriebs“, stellt Olaf Bernau in seinem Buch „Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“ (2022) fest. Folgt man den Diskussionen über die afrikanische Migration nach Europa, klingen häufig alarmistische Töne an, etwa als der amerikanisch-französische Journalist Stephen Smith, einst bei Libération und Le Monde, 2018 in seinem Buch „Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“ die These vertrat, das schnelle Bevölkerungswachstum in Afrika würde eine gigantische Migrationswelle auslösen. Das Buch wurde in den höchsten politischen Kreisen, wie etwa vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, gelobt. Allerdings dienten Smiths Thesen manchen Politikern auch als Rechtfertigung einer restriktiven Asylpolitik. Dabei lag Afrika laut des UN-Migrationsreports 2017 mit 14,1 Prozent Anteil an der weltweiten grenzüberschreitenden Migration nur auf dem vierten Platz.

Einseitige Narrative

Die öffentliche Debatte sei „über weite Strecken von Unkenntnis und Fehleinschätzungen“, von Klischees, Vorurteilen und stereotypisierten Afrika-Bildern geprägt, die größtenteils noch auf den Kolonialismus zurückzuführen seien, kritisiert Olaf Bernau. Die langfristigen Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus, auf denen das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika beruht, lasten bis heute auf den Beziehungen zwischen beiden Kontinenten. Die Migrationsdebatte leide unter dem Umstand, schreibt Bernau, „dass sie primär um die Befindlichkeiten und Egoismen einzelner europäischer Länder kreist“. Derweil sei Afrika in der postkolonialistischen Zeit nach wie vor „ein Objekt externer, insbesondere europäischer Interessen“. Dagegen gelte es, die afrikanischen Länder differenzierter zu betrachten und die historischen Kontexte der Fluchtursachen zu berücksichtigen.

Die ehemalige Kolonialmacht ist unbeliebter denn je: Demonstration unter anderem gegen die französischen Streitkräfte in Niamey
Die ehemalige Kolonialmacht ist unbeliebter denn je: Demonstration unter anderem gegen die französischen Streitkräfte in Niamey Foto: AFP

„Niemand ist jemals nur ein Flüchtling“, erinnerte die aus Nigeria stammende Autorin Chimamanda Ngozi Adichie 2016 in ihrer Rede an die Vereinten Nationen und warnte davor, Geflüchtete nur auf einen Aufenthaltsstatus zu reduzieren. Dies würde sie entmenschlichen und vergessen lassen, dass hinter jedem Flüchtling eine individuelle Geschichte oder die einer Familie steckt. Solche einseitigen Narrative führten zu Vorurteilen, befürchtete Adichie.

Europa stehe in der Pflicht, faire wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Afrika aufzubauen, schreibt Bernau. Der deutsche Soziologe hat 2009 das Netzwerk „Afrique-Europe-Interact“ mitgegründet, ein Zusammenschluss politischer Initiativen und sozialer Basisgruppen in Europa und Westafrika, mit den Schwerpunkten Migration und gerechte Entwicklung. Bernau sieht eine Verbindung zwischen den Fluchtursachen und der Verantwortung der Europäer. Denn die Ursachen liegen meistens in der Kolonialzeit, zum Beispiel die Bevorzugung der Küstengebiete gegenüber den ländlichen Regionen. Doch Europa sei, schreibt Bernau, „allenfalls punktuell bereit, Verantwortung für die desaströse Lage vieler afrikanischer Länder zu übernehmen“.

Ein Straßenhändler wartet in Niamey auf Kunden
Ein Straßenhändler wartet in Niamey auf Kunden Foto: dpa/AP/Sam Mednick

Bernau beschränkt sich bei seiner Suche nach den Fluchtursachen auf Westafrika. Er bezweifelt, dass Europa, das in der Flüchtlingsfrage mit zweierlei Maß misst, indem es die Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen empfängt, jenen aus Afrika aber wenig Empathie entgegenbringt, mit seiner Migrationspolitik Erfolg haben wird. Denn die EU versucht nicht nur, ihre Außengrenzen hermetisch abzuriegeln, sondern schließt Deals mit zweifelhaften Machthabern in den Transit- und Herkunftsländern ab. Eine Migrationspolitik aber, die auf Abschottung und Abschiebungen sowie die Verlagerung des Grenzregimes nach außen beruht, muss scheitern. Migranten lassen sich nicht mithilfe von Zäunen und Überwachungstechnologie stoppen.

Der Autor erklärt, dass nicht etwa die armen Menschen auswandern. Die meisten können sich die Reise schlichtweg nicht leisten. Außerdem leben weniger Afrikaner außerhalb ihres Landes als etwa Deutsche oder Schweizer und Luxemburger. Und nur zwei Prozent der Bevölkerung Europas stammen aus dem subsaharischen Afrika. Auch sei die Unterscheidung von Geflüchteten und Migranten keineswegs zwingend: Beispielsweise gilt der Sohn einer Familie, die im Nigerdelta ihr Ackerland wegen einer leckgeschlagenen Ölpipeline verloren hat, in Europa gemeinhin als „Wirtschaftsflüchtling“; ein nigerianischer Journalist hingegen, dem wegen kritischer Berichterstattung über das Schicksal der Familie juristische Schwierigkeiten drohen, hat gute Chancen, als Geflüchteter anerkannt zu werden.

Die Übergänge zwischen beiden Gruppen sind also fließend. Der Schriftsteller Rodrigue Péguy Takou Ndie aus Kamerun betont: „Auch die vielen, die die erdrückende Situation ihres Landes und die extreme Armut nicht mehr länger ertragen wollen, haben ein Recht auf Schutz.“ Schließlich äußere sich die Lebensbedrohung oftmals nicht direkt in Form von Gewaltausübung oder Polizeirepression. Die Ursachen für die Migration sind demnach in einer „Vielfachkrise“ zu finden, die sich seit den 1980er Jahren verschärft hat und unter der die gesamte Region leidet – mit unterschiedlichen Auswirkungen für die ländliche Bevölkerung etwa in einem Dorf in Burkina Faso oder für die urbane zum Beispiel in der nigerianischen Metropole Lagos.

Kinder spielen in Niamey auf der Straße. Die Menschen in Niger bereiten sich mehrere Wochen nach dem Militärputsch auf das Eingreifen von Nachbarstaaten vor.
Kinder spielen in Niamey auf der Straße. Die Menschen in Niger bereiten sich mehrere Wochen nach dem Militärputsch auf das Eingreifen von Nachbarstaaten vor. Foto: dpa/AP/Sam Mednick

Bernau erinnert daran, dass Unterwegssein in Afrika seit Jahrhunderten eine Alltagspraxis und Überlebensstrategie war, lange bevor die Migration nach Europa einsetzte und sogar bevor die Europäer ihre kolonialen Strukturen auf dem Kontinent aufbauten. Hirten, Bauern, Saisonarbeiter, Wanderprediger und Handelsreisende mussten stets in Bewegung bleiben, um zu überleben, und gingen für eine Weile in eine andere Region oder ein Nachbarland, um dort Arbeit zu finden. Dabei ist der Begriff der Mobilität weit gefasst. Er bezieht sich auch auf Hausangestellte, die sich im nächsten Ort verdingten, oder auf Muslime, die nach Mekka pilgerten. Mobilität gehört zur Lebensrealität.

Erwartungsdruck auf Migranten

Die Migration in ferne Länder hingegen kam erst auf, als die Kolonialmächte wie Frankreich oder Großbritannien in den Weltkriegen Soldaten in Afrika rekrutierten. Heute führe der Erwartungsdruck der Familien dazu, dass junge Afrikaner nach Europa zögen. Von Europa aus senden diese, sobald sie es können, hohe Geldsummen nach Hause und sichern somit die Hälfte des Haushaltseinkommens ihrer Familien. Wer mit leeren Händen nach Hause kommt, gilt als Versager. Nach der Studie „Scaling Fence: Voices of Irregular African Migrants to Europe” des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) unterstützen 78 Prozent der Migranten mit ihrem Einkommen ihre Familie, die zu einem Teil der Reisekosten (im Schnitt 2.710 US-Dollar) beitrugen.

 

In einem Vorort von Niamey in Niger, 14. August
In einem Vorort von Niamey in Niger, 14. August Foto: AFP

Zwar waren afrikanische Gesellschaften schon vor der Kolonialzeit von Herrschafts- und Klassenverhältnissen durchzogen, jedoch sind „im Zuge kolonialer Herrschaft ökonomische und politische Tiefenstrukturen entstanden“, die sich nach der Unabhängigkeit „als schwere Bürde für die Entwicklungsmöglichkeiten afrikanischer Länder entpuppten“, stellt Bernau fest. Die koloniale Herrschaft habe das ökonomische, politische und kulturelle Gefüge ausgehöhlt. Die Unabhängigkeitsregierungen kopierten oftmals „das korrupte Gebaren der gerade abgezogenen Kolonialmächte und ihrer afrikanischen Hilfskräfte“.

Moralische Verpflichtung

Der aus Guyana stammende Historiker und Panafrikanist Walter Rodney (1942-1980), der an der Universität von Daressalam in Tansania lehrte, wo während der Amtszeit (1964-1985) des charismatischen Präsidenten Julius Nyerere sich zahlreiche kritische Intellektuelle aus aller Welt trafen, schreibt in seinem wichtigsten Werk „Afrika: Die Geschichte einer Unterentwicklung“ (1972), dass Europa zwar die „Hauptverantwortung für die wirtschaftliche Rückständigkeit Afrikas“ trage, die „letzte Verantwortung“ aber bei den Afrikanern selbst liege, die damit die „moralische Verpflichtung“ hätten, nach neuen Wegen zu suchen.

Während die Europäer die wirtschaftliche Entwicklung, etwa die Herausbildung von Industrie und verarbeitendem Gewerbe auf dem afrikanischen Kontinent unterminierten, wirkte sich für viele afrikanische Länder nach ihrer Unabhängigkeit nicht zuletzt deren Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu deren Nachteil aus. Von den Einnahmen profitierten, außer den internationalen Konzernen, nur wenige. Auch sind viele Programme zur Bekämpfung von Fluchtursachen heute oft fragwürdige Unterfangen. Was paradox anmutet: Sie bremsen nicht etwa die Migration, sondern stimulieren sie. Mit der ökonomischen und politischen Überlegenheit geht eine Dominanz westlicher Wertvorstellungen einher. Im Gegenzug sprechen sich zunehmend viele afrikanische Intellektuelle für eine eigenständige Entwicklung ihrer Länder aus. Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr, Autor des Buches „Afrotopia“ (2016), fordert etwa, dass sich Afrika auf seine Wurzeln besinnen möge, um „die gewaltigen Möglichkeitsträume innerhalb der afrikanischen Wirklichkeit aufzustöbern und sie fruchtbar werden zu lassen“.

Landwirtschaft in einem der ärmsten Länder der Welt: Reisfeld in Niger
Landwirtschaft in einem der ärmsten Länder der Welt: Reisfeld in Niger Foto: AFP

Die Ursprünge der aktuellen Gewalteskalation in der Sahelzone liegen in den 80er Jahren, als die Sahelzone zum zweiten Mal (nach 1968 bis 1974) von einer schweren Dürre betroffen war. Damals verschärfte zudem die globale Verschuldungskrise den Gegensatz zwischen Staat und Bevölkerung. Unter anderem Mali, Guinea und Burkina Faso unterlagen gut 20 Jahre lang einer vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten gewaltigen Rosskur, bestehend aus Privatisierungen, Marktöffnungen und Steuererleichterungen für transnationale Bergbaukonzerne sowie massiven Einschnitten im Staatsbudget. Die seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1960 (Guinea 1958) erzielten wirtschaftlichen Fortschritte wurden zunichtegemacht, die Armut nahm deutlich zu. Der senegalesische Entwicklungsökonom Ndongo Samba Sylla spricht von einem „Abstieg in die Hölle“. 

Ungefähr zeitgleich kam es im Norden Nigerias zu ersten Konfrontationen unter Beteiligung radikaler Islamisten. Dies führte 2003 zur Gründung der Terrorgruppe Boko Haram. Die aktuelle Krise nahm ihren Anfang 2012 mit einem Aufstand der Tuareg-Miliz MNLA in Mali. Etliche Mitglieder der MNLA stammten aus jener Generation, die in den 80ern aufgrund einer Dürre das Land verlassen hatte, unter anderem um als Söldner in der libyschen Armee anzuheuern. Nach dem Sturz von Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi kehrten sie zurück und schlossen sich mit den Dschihadisten zusammen.

Eine Region im Umbruch oder am Abgrund: Straßenszene in Niamey
Eine Region im Umbruch oder am Abgrund: Straßenszene in Niamey Foto: AFP

Das führte 2013 zur Militärintervention Frankreichs. Mit der Präsenz ausländischer Truppen endete die Herrschaft der Islamisten in den sehr dünn besiedelten ländlichen Regionen Nord-Malis. Diese spalteten sich in zahlreiche Gruppen auf, erweiterten ihren Aktionsradius auf das Zentrum des Landes. Zum einen führten sie einen Guerillakampf, andererseits traten sie oft selbst als Ordnungsmacht auf. Ähnliches geschah in den Goldbaugebieten Burkina Fasos. Auch dort wurden dschihadistische Gruppen zum Machtfaktor. Derweil geht der Einfluss des Westens zurück. Besonders die ehemalige Kolonialmacht Frankreich ist unbeliebt. Mehr und mehr positioniert sich Russland, das zum Beispiel etwa 1.500 Söldner der Wagner-Truppe in Mali stationiert hat, als Unterstützer der neuen Machthaber. Der Flächenbrand im Sahel – seit 2020 gab es sechs Staatsstreiche – ist demnach das Zusammentreffen mehrerer Krisen, einer ökonomischen und politischen ebenso wie einer sozialen. Und ist, wie es Der Spiegel kürzlich nannte, zu einem Schauplatz geopolitischer Machtkämpfe geworden. Gerade weil Niger, wo sich mehrere Flüchtlingslager befinden, ein Knotenpunkt der Migration ist, wird sich hier auch entscheiden, wie die Fluchtwege der Zukunft aussehen. Die Ursachen bleiben dieselben.

Auf verlorenem Posten? Ein französischer Soldat in Burkina Faso.
Auf verlorenem Posten? Ein französischer Soldat in Burkina Faso. Foto: AFPMichele Cattani


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Teil 1: Die Odyssee der afrikanischen Flüchtenden nach Europa

JJ
20. August 2023 - 17.04

Kobaltminen werden unter schlimmsten Bedingungen heuer von chinesischen Firmen ausgebeutet.Wir kaufen chinesische Batterien und fühlen uns gut dabei etwas für die Umwelt getan zu haben.Und das ist nur ein Beispiel. So geht das nicht. Zuviel ist nicht genug.

Amira
20. August 2023 - 11.31

Die Briten haben 175 von 193 existierenden Ländern besetzt, kolonisiert, bekriegt und andere aus bestehenden Stammesgebieten erst kreiert, (Pakistan, Indien, Iran, Irak, Palästina etc) und heute wundern die sich, dass alle diese Englischsprechenden Flüchtlinge ins Mutterland wollen und nicht nach Belgien oder Frankreich.

Leopold II
20. August 2023 - 10.58

Überbevölkerung,Bildungsmangel,Korruption und Ausbeutung durch Kolonialisten. DAS war und ist das Problem.Jetzt setzen sich die Massen der Armen in Bewegung und wir schauen dumm aus der Wäsche.

Nomi
20. August 2023 - 10.34

Seit Enn vun der Kolonialzeit (seit 50 Johr) hun dei' Laenner, so'u guer mat internationalen Hellefen, et net faerdeg bruecht ze schaffen an hir Laenner ze entweckelen an hirt Liewen ze verbesseren. An mat all den natierlechen Resourcen dei' all dei' Laenner hun.

Um Armut vun denen Laenner sinn sie selwer schold !

jung.luc.lux
19. August 2023 - 20.11

Das Erbe der Kolonialzeit hat Luxemburg nicht zu interessieren. Luxemburg hatte nie Kolonien.