Es war eine deutliche Botschaft, die der ADR-Spitzenkandidat Fred Keup beim Nationalkongress seiner Partei an die Adresse von Luc Frieden gesendet hat. Sie war als Warnung ausgesprochen: Der Spitzenkandidat der CSV solle den Liberalen, Sozialisten und Grünen nicht trauen. Dagegen strebe die ADR eine „bürgerliche Koalition“ mit den Christsozialen an.
In einem RTL-Interview etwa einen Monat später erteilte Frieden Keups Anbiederungen eine Absage: „Ich habe nicht gerne Ausschlüsse von Parteien, aber ich muss sagen, dass dieser anti-europäische, prorussische Kurs natürlich für mich ein absolutes No-Go ist, genau wie eine Reihe anderer Positionen. Solche Extreme passen nicht zu dem, was die CSV ist, nämlich eine große Volkspartei der Mitte, eine proeuropäische Partei.“
Ähnlich hatte Claude Wiseler vor den Parlamentswahlen 2018 eine rote Linie gezogen, indem er sagte, dass er keine Rechtskoalition eingehen würde. Dabei hatte er von der damaligen ADR gesprochen: Zu jener Zeit saß noch deren Urgestein Gast Gibéryen in der Chamber. Er wurde im Oktober 2020 von Keup abgelöst. Mit diesem, dem Gründer der Plattform „Nee2015.lu“ zur Ablehnung des Ausländerwahlrechts, seit April Parteivorsitzender der ADR, rückte die ehemalige Rentenpartei weiter nach rechts.
„Biedermann und die Brandmauer“
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde im deutschen Sprachraum häufig von Brandmauern gegen rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien gesprochen. Von einer „Brandmauer gegen den Hass“ oder einer „Brandmauer der Demokratie“ war die Rede. Das deutsche Monatsmagazin Cicero schrieb in Anspielung auf Max Frischs Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ von „Biedermann und die Brandmauer“. Die Strategien gegen rechts zum Schutz der liberalen Demokratie sind international ins Zentrum politikwissenschaftlicher Diskussionen gerückt, weil sie die meisten westlichen Länder betreffen. Die beiden US-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt erklärten diese Entwicklung in ihrem 2018 erschienenen Buch „How Democracies Die“ vor allem damit, dass die „Leitplanken der Demokratie“ immer mehr wegfielen und die Demokratie dadurch fragiler würde.
Ob Brandmauern oder Leitplanken: Friedrich Merz, der Vorsitzende der deutschen CDU, hat diese kürzlich gehörig strapaziert, als er anlässlich der Wahl eines Politikers der rechtspopulistischen AfD zum Landrat in Thüringen und eines AfD-Bürgermeisters im ZDF-„Sommerinterview“ sagte, dass man auf kommunaler Ebene mit der AfD zusammenarbeiten müsse: „Das haben wir doch zu akzeptieren. Und natürlich muss in den Kommunalparlamenten dann auch nach Wegen gesucht werden, wie man gemeinsam die Stadt, das Land, den Landkreis gestaltet.“ Dafür wurde Merz selbst in der eigenen Partei heftig kritisiert, ebenso von CSU-Chef Markus Söder. In den Regierungsparteien sprach man von einem Tabubruch. Merz ruderte zurück. Alles sei nicht so gemeint gewesen. Die CDU strebe keine Zusammenarbeit mit der AfD an. Doch der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla jubelte auf Twitter schon, nun seien erste Steine aus der Brandmauer gefallen, und fügte hinzu: „In Ländern und Bund werden wir die Mauer gemeinsam niederreißen.“
Freiheitliche „Kellernazis“
In Österreich scheint es derweil diese Brandmauer bei der konservativen Österreichische Volkspartei (ÖVP) längst nicht mehr zu geben. Die ÖVP hat mit der rechtspopulistischen und in Teilen rechtsextremen FPÖ bereits mehrfach eine Regierung gebildet. Nach der Landtagswahl in Niederösterreich Ende Januar ging sie einmal mehr eine Koalition mit den „Freiheitlichen“ ein, ebenso in Salzburg seit Juni, in Oberösterreich besteht eine schwarz-blaue (später türkis-blaue) Koalition sogar seit 2015. Schon der einstige ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel hatte im Jahr 2000 mit der FPÖ des 2008 verstorbenen Jörg Haider, laut Süddeutscher Zeitung dem „Erfinder des modernen Rechtspopulismus“, eine Koalition geschmiedet, die bis 2006 hielt, und sich von den Rechtspopulisten zum Bundeskanzler wählen lassen, ebenso Sebastian Kurz, der 2017 bis 2019 mit der FPÖ koalierte.
Die erste Regierungsbeteiligung der „Freiheitlichen“ liegt weiter zurück: Nachdem Bundeskanzler Bruno Kreisky von der sozialdemokratischen SPÖ 1970 zu Beginn seiner 13 Jahre währenden Kanzlerschaft mit einer von der FPÖ tolerierten Minderheitsregierung regiert hatte, bildete sein Nachfolger und Parteifreund Fred Sinowatz 1983 eine Koalition mit den „Freiheitlichen“, allerdings entstammte sein Vize Norbert Steger dem wirtschaftsliberalen Flügel der FPÖ und hatte sich gegen die „Kellernazis“ durchgesetzt – ein Begriff, der auf den Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Hans-Henning Scharsach zurückgeht. Außerdem koalierte die SPÖ im Burgenland und in Kärnten (als Juniorpartner) mit der FPÖ.
Unter ihrem derzeitigen Bundesparteiobmann Herbert Kickl hat sich die FPÖ weiter radikalisiert. Sie gilt als rechtsextrem, LGBT+-feindlich, genderfeindlich und rassistisch. Der Ex-Innenminister (2017-2019) kooperiert mit Identitären und Neonazis. Die SPÖ lehnt jede Zusammenarbeit mit seiner Partei ab. Dagegen hält ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer eine Koalition mit der FPÖ für „durchaus vorstellbar“, allerdings nicht mit Herbert Kickl. Der Erfolg in den Umfragen gibt diesem jedoch recht. Die FPÖ liegt mit 39 Prozent vorn.
Wahre Finnen und neue Schweden
Die Kooperation mit den Rechtspopulisten hat in vielen Ländern Europas Schule gemacht. Im Juni wurde in Finnland der Konservative Petteri Orpo von der Nationalen Sammlungspartei (KOK) Ministerpräsident und bildete eine Koalition unter anderem mit den rechten „Wahren Finnen“, die sieben Ressorts übernahmen, darunter einige Schlüsselministerien. Im Nachbarland Schweden wurde im Oktober letzten Jahres Ulf Kristersson von der liberal-konservativen Moderaten Sammlungspartei Regierungschef. Er führt eine Koalition mit Liberalen und Christdemokraten. Seine Minderheitsregierung ist auf die Stimmen der aus dem rechtsextremen Milieu hervorgegangenen, inzwischen zweitstärksten Schwedendemokraten angewiesen. Das war bisher neu in dem skandinavischen Land. Ein Tabubruch.
Einen solchen hatte bereits 1994 Silvio Berlusconi vollbracht, als er mit seiner Partei Forza Italia (FI) den neofaschistischen Movimento sociale italiano (MSI), 1995 in Alleanza nazionale (AN) umbenannt, zum Juniorpartner seiner Regierung auserkor. Im Oktober 2022 haben sich die Verhältnisse umgekehrt, als Giorgia Meloni als Ministerpräsidentin vereidigt wurde. Ihre postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) sind nun Seniorpartner der populistischen Lega von Matteo Salvini und der FI des kürzlich verstorbenen Berlusconi. Während die FI seit 1999 Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) ist und die Lega auf europäischer Ebene zur Fraktion Identität und Demokratie Partei zählt, zu der neben der deutschen AfD, die belgische Vlaams Belang, der französische Rassemblement national von Marine Le Pen und die österreichische FPÖ gehören, sind die FI Teil der Partei Europäische Konservative und Reformer (ECR), deren Vorsitzende übrigens Meloni ist und zu der u.a. die ADR, die Schwedendemokraten und die spanische Vox gehören.
Rechte träumen vom „großen Zelt“
Wie weit der Vormarsch der Ultrarechten auf europäischer Ebene geht, wird sich im kommenden Jahr bei den Europawahlen zeigen. Sie schmieden nicht nur in den einzelnen Ländern Regierungskoalitionen mit Konservativen. Auch ihre zwei Fraktionen im EU-Parlament „träumen vom ‚großen Zelt‘, das sie vereint“, so der deutsche Politologe Claus Leggewie in der aktuellen taz am Wochenende. „Die Europäisierung dieser Allianz ventiliert Meloni geschickt mit dem EVP-Vorsitzenden, dem deutschen Christsozialen Manfred Weber.“ Doch die „Internationale der Nationalisten“ werde nicht reibungslos zu bilden sein, so Leggewie. Zwischen den einzelnen Parteien bestehen zahlreiche Unterschiede: Während Meloni und Le Pen „sich nicht mehr auf den Ausstieg aus der EU festlegen“, schwadroniert Thüringens AfD-Frontmann Björn Höcke, die EU müsse sterben, damit Europa leben könne, und bekennt sich der Europa-Spitzenkandidat der AfD, Maximilian Krah, zu dem französischen Antisemiten Éric Zemmour, der übrigens im Juni in Luxemburg unter anderem den ADR-Abgeordneten Fernand Kartheiser traf.
Die Bündnisse und Grenzverwischungen zwischen Konservativen und Rechtspopulisten und -extremisten „vollziehen sich vor dem Hintergrund eines langwährenden inhaltlichen Auszehrungsprozesses“ von Konservativen und „des damit verbundenen Profilverlustes der Christdemokratie“, stellt der deutsche Politologe Thomas Biebricher fest. Er nennt dabei die italienische Demokratie „eine Art Labor“, in dem sich die Entwicklungsdynamiken der rechten Mitte gewissermaßen unter experimentellen Bedingungen studieren lassen. Für die deutsche CDU dürfte es im kommenden Jahr düster aussehen, wenn in Brandenburg, Sachsen und Thüringen neue Landtage, die AfD stärkste politische Kraft werden könnte und in den ostdeutschen Bundesländern auch Bürgermeister und Landräte gewählt werden. Taugt dann noch das Bild der Brandmauer, das zunehmend ein Ausdruck von Hilflosigkeit ist? Wie stark ist die Resilienz gegen rechts? Bis heute fehlt nicht nur der CDU jedenfalls ein Konzept im Umgang mit der AfD. Die Suche nach einem Rezept gegen rechts, nach einem Gegengift, einer geeigneten Strategie gegen rechts verlief – angesichts der löchrigen Brandmauern – bislang wenig erfolgreich. Wie lässt sich der Rechtsruck stoppen?
Vox kommt bei Jungen gut an
Dass es sich bei der Brandmauer vielmehr um einen – oft beschworenen – Mythos handelt, zeigt auch das jüngste Beispiel: In Spanien, lange Zeit als Bollwerk gegen ultrarechte Parteien bezeichnet, hatte der konservative Partido Popular (PP) vor den Wahlen am 23. Juli angekündigt, dass er eine Koalition mit der rechtsextremen Vox eingehen würde, was bereits in den Regionen Extremadura, Valencia und Castilla y León Realität ist. Erschreckend ist, dass die Vox die meisten Unterstützer vor allem unter den jungen Wählern hat.
Anders als erwartet, verfehlten die Rechten und Rechtsextremen zusammen die Regierungsmehrheit, die regierenden Sozialisten brachen nicht ein, die Mitte hielt. Eine Brandmauer hatten nicht nur die meisten Parteien, sondern auch die spanischen Wähler aufgestellt.
Belgischer „cordon sanitaire“
In vielen Ländern ist der Schutzwall gegen rechts längst abgetragen oder zerborsten. Während man in Deutschland von einer Brandmauer spricht, ist es in Belgien ein „cordon sanitaire“: Schon vor etwa 35 Jahren reagierten in Belgien die Parteien sowohl im flämisch- als auch im französischsprachigen Teil auf den Vormarsch des rassistischen Vlaams Blok. Sie vereinbarten, nicht mit den Ultrarechten zusammenzuarbeiten und keine Bündnisse mit ihnen einzugehen, selbst als diese sich 2004 als Vlaams Belang neu gründeten, um einem Parteiverbot zu entgehen. Der Sperrgürtel hielt, konnte aber nicht verhindern, dass sie heute laut Umfragen die stärkste politische Kraft in Belgien sind. Anders verlief es in den Niederlanden. Dort ließ der liberal-konservative Ministerpräsident Mark Rutte 2010 seine Minderheitsregierung von Geert Wilders‘ Partij voor de Vrijheid (PVV) tolerieren, bevor er 2012 eine große Koalition mit der sozialdemokratischen PvdA einging.
Auch anderswo gelang der „Seuchenschutz“ gegen die extreme Rechte nur bedingt: In Frankreich sicherte die strikte Abgrenzung gegen den Front national (FN) während der Ära von Präsident Jacques Chirac (1995-2007) die Vormacht des bürgerlichen Lagers. Doch schon dessen Nachfolger Nicolas Sarkozy wilderte im Themenkanon von FN-Anführerin Marine Le Pen, in dem er sich deren Themen wie das Schüren von Angst vor Überfremdung durch Immigration und Ausländerkriminalität aneignete. Dadurch wertete er Le Pen auf. Der in der Stichwahl gegen Emmanuel Macron zweimal unterlegenen Präsidentschaftskandidatin ist es – spätestens mit der Umbenennung des FN in Rassemblement national (RN) im Jahr 2008 – gelungen, ihre Partei salonfähig zu machen. Zwei Politiker – Sébastien Chenu und Hélène Laporte – wurden sogar mit den Stimmen von Macrons Partei zu Vizepräsidenten der Nationalversammlung gewählt.
Mittlerweile kann von einem „europäischen Trend zum rechten Tabubruch“ gesprochen werden, wie es der Historiker Thorsten Holzhauser von der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart ausdrückt. Das Prinzip des „cordon sanitaire“ und damit auch der Brandmauer sei dabei, zu bröckeln, „nicht zuletzt aus machtpolitischen Gründen“.
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