Vincenzo Scalise kam als Jugendlicher von Kalabrien nach Luxemburg. Der 58-Jährige ist handwerklich begabt und Maurer aus Leidenschaft. Heute ist er in Rente. Seine Freizeit verbringt er damit, Körbe zu flechten. Er hat zwei Ziegen und zwei Hunde. Kinder liebt er über alles. Vincenzo, seit fast 40 Jahren verheiratet, hat sechs Töchter und Söhne sowie quasi sieben Enkel- kinder – und mindestens genauso viele Träume.
Von Marco Goetz
Ein stattliches Haus irgendwo zwischen Rathaus und Sportzentrum, das sich in der Nähe eines Waldes befindet. Das Tor der Garage steht weit offen. Was nach Chaos aussieht, hat System. Überall hängen geflochtene Körbe, an den Wänden und an der Decke. In allen Größen, Formen und Farben. Am Boden stehen weitere Körbe und Eimer voller Sträucher aus dem Garten und vom Wegesrand. Mittendrin: Vincenzo. Er sitzt auf einem einfachen Holzschemel und scheint regelrecht in seinem Element zu sein. Er trägt einen dichten grauen Bart, hat eine sonore Stimme und neugierige Augen.
Gerade ist er damit beschäftigt, einen neuen Korb zu flechten. Die nötigen Werkzeuge stellt er selbst her oder findet sie: „Gott gibt mir, was ich brauche“, so der gelernte Maurer. Bereits als kleiner Junge entdeckt er seine Passion fürs Flechten – ihm gefiel es auf Anhieb, wie er sagt. Bis vor einigen Jahren hat er die Körbe noch auf dem Differdinger Wochenmarkt verkauft. Heute trifft man ihn eher auf Hobby- und Kunstmärkten. Zwischen Erzählen und Korbflechten fällt sein Blick aus der Garage auf die gegenüberliegenden Bäume und Hecken. Überall sieht er potenzielles Material für seine Körbe. Nachbarn spazieren vorbei und grüßen.
Auf nach Luxemburg
Geboren wird Vincenzo 1961 in Verzino, einer kleinen süditalienischen Gemeinde in Kalabrien. Mit 14 Jahren verlässt er die Heimat. „Ich habe als Kind davon geträumt, in einem anderen Land zu leben.“ Seine Brüder sind da bereits in Luxemburg. So kommt er nach Differdingen. Vor allem das Klima hierzulande gefällt ihm: „Die Hitze in Verzino habe ich nie gemocht“, meint Vincenzo. Allerdings, gesteht er heute, behage die Feuchtigkeit seinen Knochen nicht mehr.
Jahrzehntelang arbeitet er als Maurer, immer gerne an der frischen Luft. Ältere Fotos zeigen ihn als muskulösen jungen Mann. Handwerkliches Geschick soll ihm schon in die Wiege gelegt worden sein, zudem habe sein Vater ihm viel beigebracht, wie zum Beispiel das Errichten von Mauern. „Ich habe viele Häuser und Kamine in Differdingen gebaut“, erzählt der 58-Jährige – und das nicht ohne Stolz. In Differdingen baut er auch sein eigenes Haus. Groß ist es geworden, mit vielen Etagen und einem Turm. Letzterer zählt mitunter auch zu seinen Träumen: „Den Turm wollte ich unbedingt haben.“
Kaffee und ein verspielter Hund in der warmen Stube
Szenenwechsel. In der Stube des Hauses ist es wärmer. Zudem gibt’s dort Kaffee – und einen kleinen verspielten Hund. Vincenzo zeigt aus dem Fenster. Der Blick reicht weit über die Stadt hinaus. Aber die Aussicht sei nicht mehr die, die sie einmal war. Die Neubauten in seinem Blickfeld gefallen ihm nicht – und auch nicht die dazugehörigen Garagen. „Einfach nur hässlich“, meint er hierzu. Er hegt einen gewissen Groll, aber eigentlich will er nicht viel Aufheben machen. Er scheint sich damit abgefunden zu haben. Was ist ihm persönlich wichtig im Leben? „Gesundheit und ein Paar guter Schuhe“, sagt er.
Früher zog es ihn des Öfteren ins Differdinger Zentrum. Heute bevorzugt er es, zu Hause zu bleiben – in seiner Garage oder in seinem Garten, von wo aus er seinen Turm betrachten kann. Im Garten grasen auch seine beiden Ziegen. Der größere seiner Hunde leistet ihnen Gesellschaft. Manchmal sitzt er auch brav in der Garage und schaut Vincenzo dabei zu, wie dieser Körbe flicht. Eigentlich wäre im Haus noch einiges zu erledigen. Fliesen müssten verlegt und Wände gegipst werden. Aber ihm fehle die Motivation, sagt Vincenzo – passend zu einem seiner anderen Träume, nämlich dem von der Mauer, die nie fertig wird. „Mein Sohn erledigt jetzt einige der Arbeiten.“
Eine Schule in Indien
Vincenzo heiratet eine Luxemburgerin. Sechs Kinder zählt die Familie, und sechs Enkelkinder. Eigentlich sind es sieben. In Indien hat das Paar nämlich eine Patentochter, die es dazuzählt. Sie schreiben sich regelmäßig. Vincenzo spricht Italienisch, Französisch und Portugiesisch. Luxemburgisch nur, wenn er Lust dazu hat. Mit seiner Frau unterhält er sich auf Französisch.
In Verzino besitzt er übrigens wieder ein Haus. Aus einem der Zimmer könne er auf den Garten blicken, in dem er als kleiner Junge mit seinem Vater gespielt hat, erinnert er sich. Im Mai wird er für einige Monate dorthin fahren, um Körbe zu flechten und um mit den Kindern des Ortes spazieren zu gehen. „Sie nennen mich Onkel, und ich zeige ihnen, wie man Mauern baut.“ Vincenzo hat einen weiteren Traum: viel Geld im Lotto gewinnen und dann in Indien eine Schule für Kinder bauen. Bis es so weit ist, unterhält er die kleinen Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft in Differdingen mit seinen Geschichten. „Aber man muss leise zu Kindern sprechen“, meint er liebevoll.
Beim Abschied hat er noch eine Bitte: „Darf ich im Zeitungsartikel jemanden grüßen?“ Warum nicht! Also, Vincenzo grüßt alle seine Freunde und Bekannten, besonders seine früheren Arbeitskollegen. Sein Gruß könnte durchaus als „Hallo, ich lebe noch!“ gedacht sein.
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