Die Tageblatt-Klangwelten: Eine Jahrhundertveröffentlichung und eine überraschende Scheibe

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Eine Jahrhundertveröffentlichung

Berliner Philharmoniker & Wilhelm Furtwängler – The Radio Recordings 1939-1945

Eins vorweg: Die 22 SACD starke Box Berliner Philharmoniker / Wilhelm Furtwängler – The Radio Recordings 1939-1945 ist eine Jahrhundertveröffentlichung und somit ein musikhistorisch enorm wichtiges Tondokument.

Obwohl die meisten dieser aus Russland stammenden Bänder vor Jahren schon von der Deutschen Grammophon und anderen kleineren Firmen wie Tahra, RCD, Music & Arts und anderen veröffentlicht wurden, stellt diese Sammlung von Wilhelm Furtwänglers Berliner Kriegskonzerten 1939-45 in Sachen Kompaktheit und Information die anderen, meistens vereinzelt veröffentlichen CDs (die zwei Boxen von Deutsche Grammophon bilden da die Ausnahme) natürlich in den Schatten.

Mehr Furtwängler gibt es nicht aus diesen Jahren. Natürlich sind viele Mitschnitte verschwunden oder Werke nur satzweise vorhanden, aber über die Odyssee dieser Bänder findet der Interessierte genug Informationen in dem beiliegenden Buch. Im direkten Vergleich mit den älteren Produktionen gibt es keinen nennenswerten Qualitätsgewinn in Sachen Klang. Oft hat man sogar den Eindruck, dass dieses neue SACD-Mastering etwas an Dynamik und Lebendigkeit eingebüßt hat und zum Teil recht trocken klingt. Trotzdem, diese Aufnahmen, die unter dem Label der Berliner Philharmoniker herausgekommen sind, bleiben ein Ereignis.

Hören Sie sich nur Beethovens Coriolan-Ouvertüre an, die niemand mehr so intensiv dirigiert hat wie Furtwängler, oder den letzten Satz von Beethovens Neunter Symphonie, wie die Schlussakkorde bei „Götterfunken“ wie ein Trommelfeuer über den Zuhörer hereinbrechen. Diese wohl dramatischste, depressivste aller Neunten scheint zu zeigen, wie sehr Furtwängler in der Musik seine Betroffenheit über das Grauen der damaligen Zeit zum Ausdruck bringen wollte.

In all den hier dargebotenen Symphonien resp. Konzerten von Beethoven, Brahms, Schubert, Bruckner, Schumann findet man diese tiefe Trauer und das Entsetzen über und dieses Aufbegehren gegen ein Regime, was nur Tod und Zerstörung brachte.

Lässt man sich auf Furtwänglers Interpretationen ein, dann erlebt man die Musik mit einer Tiefe und Tragik, wie sie nur ganz selten in Konzerten oder Aufnahmen zu
erleben ist. Ohne Zweifel, diese herausragende Box zeigt Wilhelm Furtwängler auf der Höhe seines Könnens. Weitere Höhepunkte dürften das Violinkonzert von Sibelius (mit Georg Kulenkampff), die Tondichtungen Symphonia domestica, Don Juan, Till Eulenspiegel und ausgewählte Lieder (mit dem wunderbaren Peter Anders) von Richard Strauss, Händels Concerto Grosso Op. 6 Nr. 5 & 10 und Furtwänglers eigenes Symphonic Concerto sein.

Erstaunlicherweise hat Furtwängler in diesen Jahren nur wenige Werke eines anderen seiner Lieblingskomponisten, nämlich Richard Wagner, aufgeführt. Es gibt da nur eine Meistersinger-Ouvertüre und Vorspiel & Liebestod aus Tristan und Isolde. Interessant auch die Begegnung mit längst vergessenen Komponisten wie Ernst Pepping und Heinz Schubert.

Die Berliner Philharmoniker spielen immer sehr inspiriert und selbst Interpreten der zweiten Garde wie die Pianisten Conrad Hansen und Adrian Aeschbacher, der Cellist Tibor de Machula und der damalige Konzertmeister der Berliner, Erich Röhn, wachsen in jedem Werk über sich hinaus. Es erübrigt sich, zu sagen, dass wirklich interessierte Musikliebhaber an dieser Box, die leider zum stolzen Preis von rund 220 Euro angeboten wird, wohl nicht vorbeikommen werden.

WERTUNG: 10/10

ANSPIELTIPPS: CD 4 Tr. 4 Beethoven: 9. Symphonie, CD 12 Tr. 1 Beethoven: Coriolan, CD 19 Tr. 5 Händel: Concerto Grosso Op. 6 Nr. 10

Alain Steffen

 

Unerwartete CD

OPL & Gustavo Gimeno
Rossini: petite messe solennelle

Richtigstellung: Gioacchino Rossinis Petite messe solennelle ist erst einmal kein kleines Werk, sondern mit einer Dauer von 81 Minuten so lang und komplex wie das Requiem von Giuseppe Verdi oder die Missa solemnis von Ludwig van Beethoven.

Zudem ist es ein Spätwerk des Komponisten und an sich eine wirkliche Herausforderung, war Rossini doch in erster Linie als virtuoser Komponist komödiantischer Opern bekannt. Die Herausforderung an die Interpreten liegt demnach darin, eine stimmige religiöse Atmosphäre zu schaffen, ohne dabei den virtuosen Komponisten Rossini ganz zu vergessen. Gustavo Gimeno gelingt das Kunststück, eine ideale Balance für das Werk zu finden, indem er bewusst strukturbetont und objektiv an die Musik herangeht. Da gibt es keinen religiösen Pathos und auch keine überzogenen plakativen Orchestereffekte. Gimeno strafft die Partitur, glättet und akzentuiert die Musik abwechselnd und zeigt sie dabei klar und übersichtlich.

Manch einem mag die große Geste vielleicht fehlen und, ja, manchmal hätte ich mir etwas mehr Power gewünscht, aber Gimenos Konzept einer sehr strukturierten, fast schwebenden und doch musikantischen Interpretation geht auf. Etwas Schwierigkeiten bereitet mir das Sängerquartett mit Eleonora Buratto, Sara Mingardo, Kenneth Tarver und Luca Pisaroni, da die vier Stimmen nicht immer miteinander harmonieren und die Interpreten, ausgenommen der großartige Luca Pisaroni, gesangstechnisch und auch vom Timbre her bei mir keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dagegen exzellent die Wiener Singakademie und das unaffektiert und klangschön spielende „Orchestre philharmonique du Luxembourg“.

WERTUNG: 8/10

ANSPIELTIPPS: Kyrie, Cum Sancto Spiritu, Agnus Dei

Alain Steffen