In der Tat, Nelson Goerner gehört zu jenen großen Pianisten, die man gerne übersieht. Abseits allen Starrummels ist er, genauso wie Bronfman, ein Künstler, der es nicht nötig hat, permanent in den Schlagzeilen zu stehen. So war es dann eigentlich auch keine Überraschung, dass er Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert in einer absolut perfekten Interpretation spielte. Hier stimmte alles. Das schwierige, mit emotionalen Wechseln vollgepackte Werk ist ein Bravourstück mit phänomenalen pianistischen Einlagen und einer nicht zu verachtenden Tiefe. Goerner war sich dessen bewusst und auch der Gefahr, dass eine zu virtuose Interpretation das Konzert als zu plakativ erscheinen lassen konnte. Goerner gelang es denn so, immer wieder sehr poetische, intime und berührende Momente von großem Ausdruck neben ausfahrende, wild-virtuose Ausbrüche zu stellen. Dabei gelang ihm das Kunststück, immer eine natürliche Balance zu halten und trotzdem Rachmaninoffs komplexes 3. Klavierkonzert bis in die Extreme auszuloten.
Fabio Luisi dirigierte das Concertgebouworkest ohne Pathos, dafür aber mit viel Gespür für das Wesentliche. Immer wieder dominierten wunderbare Nebenstimmen und kammermusikalische Feinheiten das Klanggeschehen, aber dort, wo es dann wild und klangprächtig zugehen sollte, da ließ Luisi seine Musiker von der Leine. Trotzdem: Sein an sich sehr kontrolliertes und klares Dirigat lebte von einer besonderen, sehr natürlichen inneren Dramatik und das dynamische Spiel des Concertgebouworkest verlieh dem Werk den letzten Schliff.
Auch bei Peter Tschaikowskys 6. Symphonie vermochte Luisis klare Interpretation zu überzeugen. Den „Pathétique“-Gedanken rückte er zugunsten klarer Linien, einer gewissen Objektivität und vielen Klangfeinheiten in die zweite Reihe. Damit entging er einer schwülstigen, emotional überladenen Interpretation. Gut taten dem Werk auch die relativ zügigen Tempi, die gerade im Kopfsatz und im Adagio lamentoso keine Larmoyanz aufkommen ließen. Stattdessen konnte man als Zuhörer Tschaikowskys Architektur in aller Klarheit bewundern. Gekrönt wurde das Ganze durch das phänomenale Spiel des Concertgebouw, das unter Fabio Luisis Leitung wieder einmal bewies, dass es zu den allerbesten Orchestern der Welt gehört. Die Standing Ovations für Nelson Goerner bereits nach der ersten Hälfte waren ebenso gerechtfertigt, wie die für Luisi und das Orchester am Schluss.
Levits Meisterleistung
Dimitri Schostakowitschs Klavierzyklus ‚24 Präludien und Fugen’ gehört mit seiner Dauer von rund zweieinhalb Stunden zu den großen Klavierwerken der Musikgeschichte. Schostakowitsch beruft sich in seiner 1950/51 entstandenen Komposition natürlich auf Johann Sebastians Bachs ‚Wohltemperiertes Klavier’ und führt diese polyphone Meisterschaft quasi nahtlos ins 20. Jahrhundert über. Aufführungen dieses Monumentalwerkes sind selten, kaum ein Pianist traut es sich, diesen feinsinnigen Koloss im Konzert aufzuführen. Nicht so Igor Levit, der nun mit den 24 Präludien und Fugen auf Tournee geht.
Es war ein ebenso inniger, ergreifender wie berauschender Abend, den uns Levit am vergangenen Montag im großen Saal der Philharmonie bescherte. Pianistische Meisterschaft und ein tiefes Empfinden für Schostakowitschs vielleicht persönlichstes Werk waren in jedem Moment zu spüren. Levit suchte die Feinheiten, die Vielstimmigkeit, die Nuancen, aber auch das Emotionale, Narrative und Tänzerische. Er präsentierte uns das Werk als einen Reigen vollendeter musikalischer Stimmungen und Einfälle, farbenreich, spannungsvoll und oft von transzendentaler Schönheit. Da gab es keine Ermüdungserscheinungen, keinen stilistischen Bruch, jedes Präludium-Fugengebilde ergab das andere. Zum Schluss gab es Riesenbeifall und Standing Ovations für Igor Levits Meisterleistung und seinen Mut, sich diesem riesigen Werk ohne Rettungsnetz auf der Konzertbühne zu stellen.
Sabine Devieilhes wundervolle Stimme
Im Oktober vergangenen Jahres hatte die französische Sopranistin Sabine Devieilhe das einheimische Publikum regelrecht vom Hocker gerissen, als sie zusammen mit dem Pianisten Alexandre Tharaud einen Liederabend mit französischen Melodien im Kammermusiksaal der Philharmonie gegeben hatte. Nun kehrte die Sopranistin, die auf dem besten Wege ist, sich nach und nach die Bühnen der Welt zu erobern, zurück und interpretierte Benjamin Brittens Liederzyklus „Les Illuminations“ nach Texten von Rimbaud, dies zusammen mit dem Bayerischen Staatsorchester unter Vladimir Jurowski.
Dabei begeisterte Sabine Devieilhe wieder einmal durch ihre kluge Gestaltung, ihre präzise Textdeklamation und natürlich ihre wunderbare Stimme. Ihr heller Sopran, der so gut für Mozart, das Barockrepertoire und die französischen Lieder geeignet ist, bewährte sich auch hier. Gerade die Reinheit ihres Gesangs und die jugendliche Unbekümmertheit, die immer wieder mitschwangen, waren ein interessantes Pendant zu den mystischen und quasi surrealistischen Texten Rimbauds. Wie schon bei ihrem Liederabend, wusste Sabine Devieilhe auch mit dem komplexen Britten-Werk das Publikum zu begeistern. Als Zugabe sang sie ein ukrainisches Volkslied, begleitet von Vladimir Jurowski am Klavier.
Der russische Dirigent hatte sich für diese Tournee ein sehr interessantes und ungewöhnliches Programm zusammengestellt. Zuerst die vom Bayerischen Staatsorchester phantastisch gespielten „Sea Interludes“ aus Brittens Oper „Peter Grimes“, bei der man wirklich das Wellengetöse hautnah miterleben konnte. Jurowski erwies sich als ein Meister der Klangstaffelung und schuf eine sehr räumlich klingende Interpretation mit enormer Tiefe. Hervorragend auch die Begleitung der Streicher bei Brittens Liederzyklus, wenngleich das voll aufspielende Ensemble die Sängerin manchmal etwas zuzudecken drohte.
Nach der Pause erklang die Orchestersuite aus Debussys Oper „Pelléas und Mélisande“, die der Dirigent Erich Leinsdorf Mitte der vierziger Jahre selbst erstellt hatte. Die halbstündige Suite zeigt sehr gut Debussys Kunst der Instrumentation und einer komplett neuen Form der Musik, die sich stetig verändert, ohne dabei wirklich in Bewegung zu geraten. Bewegung gab es dann zum Schluss, als Maurice Ravels „La Valse“ erklang. Jurowski und das Bayerische Staatsorchester boten eine souveräne und klangprächtige Wiedergabe, die dank des guten Raumgefühls des Dirigenten viele orchestrale Einzelheiten erkennen ließ, ohne dabei allzu plakativ zu wirken. Als Zugabe und als Widmung an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj spielte das Bayerische Staatsorchester unter Vladimir Jurowski zum Abschluss die „Berceuse héroique“, die Claude Debussy 1914 als Ehrenbezeugung vor dem belgischen König Albert I. komponiert hatte, als dieser nach dem Einfall deutscher Truppen trotz hoffnungsloser Unterlegenheit die Neutralität Belgiens verteidigte.
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