Die Schlafwandler des „frostigen Krieges“

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Der „kalte Krieg“ zwischen Ost und West ist nach dem Zweiten Weltkrieg der zweitblutigste Waffengang der Geschichte. Durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ gelang es den Amerikanern und Russen, einen verheerenden nuklearen Schlagabtausch zwischen den damaligen Großmächten zu verhindern. Dennoch gab es in vielen Teilen der Welt „heiße“ Stellvertreterkriege, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Von Robert Goebbels*

Das Ende des Kalten Krieges brachte keinen Frieden. Neue Konflikte brachen aus. Wie die britische Historikerin Margaret MacMillan in ihrer magistralen Geschichte der Versailler Friedenskonferenz belegte, wurden damals die Zündsätze für praktisch alle Konflikte der letzten 100 Jahre gelegt. Weltkrieg I ist noch immer nicht ausgestanden. Die gleichen Ursachen bewirken weiterhin die gleichen Spannungen. MacMillan: „Comment maîtriser ces deux passions irrationnelles, le nationalisme et la religion?“ Die heutige Welt ist sehr verschieden von der Welt am Vorabend des „großen Krieges“. Praktisch alle Staaten sind zumindest formal unabhängig. Fast überall finden Wahlen statt. Die Menschenrechte und das internationale Recht sollen die zwischenstaatlichen Beziehungen regeln. Selbst wenn Theorie und Praxis selten übereinstimmen. Doch hinter der Fassade brodelt es wie vor 1914.

Schieflage

Die einzige militärische Supermacht bleiben die USA. Sie verkaufen nicht nur Waffen an über 100 Staaten. Sie haben einen höheren Militärhaushalt als die zehn nachfolgenden Mächte zusammengenommen. Die Mehrheit davon überdies „Alliierte“ Washingtons. Was die „Bedrohung des Weltfriedens“ durch Chinesen, Russen u.a. ungemein relativiert.
Dagegen wurde die wirtschaftliche Hackordnung stark erschüttert. Der Anteil der USA am globalen Sozialprodukt sinkt. Ebenso derjenige der Europäer, die nur noch gemeinsam im Welthandel zählen. China, Indien, andere Nationen beanspruchen einen größeren Anteil am internationalen Austausch.

Solange der gemeinsame Kuchen wächst, ist die Ausbalancierung der internationalen Handelsbeziehungen eigentlich vorteilhaft für alle. Immerhin verringert sich seit einem Vierteljahrhundert die Zahl der Ärmsten und der Hungernden. Es gibt zwar immer mehr Reiche auf allen Kontinenten. Doch gehört über die Hälfte der Menschheit nunmehr zum „Mittelstand“.

In Europa bekennen sich viele Menschen zur Entwicklungshilfe für die „Ärmsten der Welt“. Wobei verkannt wird, dass die ehemals „unterentwickelten“ Staaten, welche nunmehr ihren Bürgern bessere Lebensbedingungen bieten, ausnahmslos in die internationalen Handelsströme integriert sind. Und 50 Jahre „Entwicklungshilfe“ wenig brachten.
Die „Globalisierung“, die noch immer zu viele Staaten ausschließt, wird in rechten wie linken Zirkeln als die „Wurzel allen Übels“ angesehen. Wobei geflissentlich übersehen wird, dass z.B. die Millionen Emigranten, die in allen Teilen der Welt die Drecksarbeit für Amerikaner, Europäer, Israelis und Araber verrichten, netto dreimal mehr Geld nach Hause schicken, als die internationale Entwicklungshilfe brutto ausmacht.

Die traditionellen Benefiziaten des Welthandels, Amerikaner wie Europäer, sehnen sich nach Abschottung. Der Protektionismus steigt. In den USA dominiert mit Trump wieder Isolationismus hinter Mauern, gepaart mit Kraftmeierei. Von Immigrationsängsten getrieben, „brexitiert“ die ehemalige Weltmacht Großbritannien in die Bedeutungslosigkeit. Populisten sind auf dem Vormarsch, wobei sie wahlweise den Islam, die Flüchtlinge, die „europäischen Bürokraten“ sowie den „Internationalismus der Eliten“ im Visier haben.

Autoritarismus

Die Abkehr von Multilateralismus, Freihandel, Willkommenskultur spült immer mehr Autokraten an die Macht. Trump, Putin, Erdogan, aber auch die Herrschenden in Budapest, Wien, Rom, in Rio oder Caracas erinnern fatal an den vor Weltkrieg I vorherrschenden Autoritarismus. Die „starke Faust“ wird immer populärer.

Der Harvard-Politologe Yascha Mounk sieht die Demokratie in Gefahr: „Nous sommes peut-être en train de vivre la perte de légitimité des idéaux démocratiques et la montée d’une demande de pouvoir autoritaire.“ Weiter: „Les quatres démocraties les plus peuplées, l’Inde, le Brésil, l’Indonésie et les Etats-Unis, sont gouvernées par des leaders qui proclament être la représentation exclusive du peuple“. Wie der in Europa um sich greifende „Populismus“.

„Populisten sind zwangsläufig antipluralistisch: Wer sich ihnen entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zum wahren Volk.“ (Jan-Werner Müller in „Was ist Populismus?“). Der autoritäre Anspruch „Wir sind das Volk“ der Gelbjacken in Frankreich ist ebenfalls reinster Populismus.

In Venezuela stoßen zwei Formen von Populismus aufeinander. Wie Jean Asselborn richtig sagt, ist nicht die Diskussion über die „Legitimität“ eines dubios gewählten Präsidenten Maduro oder des von Maduro nicht anerkannten Parlamentspräsidenten Guaidó vordringlich, sondern eine Lösung für die Leiden der Venezolaner.

Wie repräsentativ ist ein Regime, das drei Millionen Bürger zur Emigration gezwungen und die Wirtschaft des reichen Landes in den völligen Ruin getrieben hat? Das zwar regelmäßig den „Mindestlohn“ (nun 6 Dollar pro Monat) erhöht, wo aber gleichzeitig wegen einer horrenden Inflation keine Lebensmittel oder Medikamente mehr im Angebot sind? Wo nur noch staatliches Fernsehen „informiert“ und es keine geschriebene Presse mehr gibt? Wo die Macht nicht vom Volk ausgeht, sondern von der Armee? Selbst stramme Linke und Ex-Botschafter müssten sich da Fragen stellen.

Aufrüstung

Venezuela ist nur ein kleiner Nebenkriegsschauplatz des neuen ideologischen Krieges quer über den Globus. Es ist nicht mehr „Kapitalismus“ gegen „Kommunismus“ wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Es geht um globale Machtpolitik.

Die Volksrepublik China hat es mit „Staatskapitalismus“ geschafft, dem übergroßen Teil seiner Bevölkerung mehr Reichtum und selbst mehr Freiheiten (etwa Reisefreiheit ins Ausland) zu bieten. In Europa hegt man die „demokratischen Grundrechte“, besonders „freie Wahlen“. Wobei übersehen wird, dass immer weniger Bürger am Wahlgeschehen interessiert sind. Bei den jüngsten Kongress-Wahlen in den USA gab es eine größere Mobilisierung als bei der Trump-Wahl. Dennoch blieben 51% der Wähler den Urnen fern. Am schicksalhaften Brexit-Votum nahmen 30% der Briten nicht teil! Bei den „Votationen“ in der Schweiz beteiligen sich gewöhnlich ein Drittel der Bürger, nie über 50%. Für die kommenden Europawahlen wird sich nur eine Minderheit der theoretisch stimmberechtigten Europäer einschreiben.

Diese Feststellung ist kein Aufruf gegen die parlamentarische Demokratie. Trotz aller Unzulänglichkeiten bleibt es die Regierungsform, welche ein Auswechseln der Herrschenden am ehesten erlaubt. Wobei die Herrschenden in Demokratien und Diktaturen alles tun, um sich an der Macht zu halten.

Zur Zementierung ihrer Herrschaft haben die „Großen“ der Welt einen neuen Rüstungswettlauf gestartet. Der weltweit größte Waffenschmied, die USA, hält seine „NATO-Alliierten“ an, mindestens 2% ihres Nationalproduktes in Aufrüstung zu investieren. Gleichzeitig initiierte Trump mit der Kündigung des INF-Vertrages ein neues atomares Wettrüsten mit den Russen. Der gegenseitige Verzicht auf Aufstellung von Atomraketen mittlerer Reichweite ist Geschichte. In Zukunft kann Europa wieder das Theater für einen atomaren Schlagabtausch abgeben.

Russland enthüllte sofort neue Waffensysteme

Die Russen waren vorbereitet. Sie enthüllten sofort neue Waffensysteme mittlerer Reichweite. Der Iran, der trotz der amerikanischen Aufkündigung des Vertrages über den Verzicht auf iranische Atomwaffen diesen weiterhin einhält, entwickelte vorsorglich eigene Mittelstreckenraketen, die etwa in Jerusalem einschlagen könnten.
Laut Siegmar Gabriel, ehemals deutscher Außenminister, visiert die atomare Aufrüstung der Hauptprotagonisten des „kalten Kriegs“ eigentlich China. Das seine großen Fortschritte in der Raketentechnik durch eine Landung auf dem Mond bewies.

Die Chinesen haben ihre Armee verkleinert. Verbessern jedoch ihre Waffensysteme. Selbst Flugzeugträger kommen zum Einsatz. Das sind typische Offensivwaffen, mit denen man weit entfernt vom eigenen Territorium operieren kann. Auch Indien leistet sich nunmehr den ersten Flugzeugträger. Die Japaner, die Koreaner rüsten auf.

Kurz, der Frieden, den die Europäer seit über 70 Jahren für eine Selbstverständlichkeit halten, wird bedroht durch den neuen „frostigen Krieg“ der Großmächte. Der fatal an das gegenseitige Hochschaukeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert. „Die Schlafwandler“ (Christopher Clarke) führten damals durch Bluff und Aufrüstung die Menschheit in den Ersten Weltkrieg. Der nie wirklich „gewonnen“ wurde. Und erneut droht!

* Der Autor ist ehemaliges Regierungsmitglied und früherer EU-Abgeordneter

Jacques Zeyen
9. Februar 2019 - 15.02

Solange die Verantwortlichen,die "Führer", um ihr eigenes Leben fürchten müssen,ist das atomare Arsenal eine Garantie für Frieden. Wehe aber wenn die "Führer" Fundamentalisten sind die ihr Heil im Jenseits sehen. Dann wird der nächste Krieg der letzte sein.Zeit,dass wir uns alle als Weltbürger sehen und die Religionen in die Wüste schicken. Unser dringendstes Problem ist der Zustand unseres Raumschiffes "Erde". Wenn uns die Luft ausgeht wird es uns egal sein welcher Ethnie oder Religion wir angehören.