Tageblatt: Ihr Festival „Gezeitenkonzerte“ in Niedersachsen hat bereits im Juni begonnen und endet im November. Sechs Monate Festival, fast 50 Konzerte, da kann man schon nicht mehr von einem kleinen Festival sprechen. Welche Idee steckt dahinter?
Matthias Kirschnereit: Die „Gezeitenkonzerte“ finden in der Regel von Anfang Juni bis Anfang August statt – also etwa acht Wochen großartige Musik mit zahlreichen Weltstars, Nachwuchskünstlern, Orchestern wie Kammerensembles auf der ostfriesischen Halbinsel. Mit etwa 35 bis 40 Veranstaltungen dürften die „Gezeitenkonzerte“ mittlerweile das größte Flächenfestival im Bundesland Niedersachsen sein. Dies ist das „Kernfestival“. Die Trägerin des Festivals, die Ostfriesische Landschaft, veranstaltet jedoch unabhängig davon Konzerte über das gesamte Jahr verteilt. Der sensationelle Erfolg und Zuspruch der „Gezeitenkonzerte“ haben uns schließlich dazu bewogen, diese Konzerte eben als „Prolog“ und „Epilog“ in der Festivalbroschüre der „Gezeitenkonzerte“ mit einzubeziehen.
Was sind die großen Leitlinien Ihres Festivals?
Das Motto könnte lauten: „Die Welt zu Gast in Ostfriesland!“ Tatsächlich sind hier in den vergangenen zehn Jahren seit Beginn der „Gezeitenkonzerte“ Künstler wie Grigory Sokolov, Alfred Brendel, Maria João Pires, Leif Ove Andsnes, Alice Sara Ott, Lars Vogt, Rudolf Buchbinder, Lise de La Salle, Kit Armstrong, Anna Vinnitskaja, Elisabeth Leonskaja, Herbert Schuch und viele mehr aufgetreten. Und ich spreche jetzt nur von den Pianist:innen. Hinzu kommen unsere „Gipfelstürmer“. Da Ostfriesland bekanntlich geografisch eher wenig höhere Berge aufzuweisen hat, nannte ich die Reihe der vielversprechendsten Nachwuchskünstler eben „Gipfelstürmerkonzerte“. Dies alles findet zumeist in den wunderschönen, entlegenen alten Kirchen Ostfrieslands statt, die Künstler sind also allesamt sehr nah dran am Publikum – und auch sehr nahbar!
Es gibt heute große renommierte Festivals in Europa, ich nenne nur die Top drei: Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele und Lucerne Festival. Doch schaut man genauer hin, gibt es überall enorm viele kleinere Festivals. Wo situieren Sie sich in dieser Musiklandschaft?
Künstlerisch möchte ich die „Gezeitenkonzerte“ in der allerersten Kategorie angesiedelt wissen. Da gibt es keine Kompromisse. Doch erlebe ich bei etlichen der „großen“ Festivals gewisse Stereotypen: zum einen ein Copy & Paste der Majorlabel-Künstler sowie auch das nahezu ausschließliche Präsentieren der „Stars“ der mächtigen Konzertagenturen. Für erstklassige Musiker:innen, die – warum auch immer – nicht zu diesem Zirkel gehören, findet sich dort kaum ein Podium. Außerdem ist mir ein Übermaß an Glamour suspekt. Mir scheint, dass über dem 5-Sterne-plus-Hotel, dem 12-Zylinder-Eskortservice und den mitunter gigantischen Gagen der eigentliche Sinn und Zweck unseres Tuns in den Hintergrund zu rücken scheint: nämlich der Musik zu dienen, nach bestem Wissen und Gewissen, und dem Publikum Freude zu bereiten. Das sollte der höchste Anspruch sein.
Mir scheint, dass über dem 5-Sterne-plus-Hotel, dem 12-Zylinder-Eskortservice und den mitunter gigantischen Gagen der eigentliche Sinn und Zweck unseres Tuns in den Hintergrund zu rücken scheint: nämlich der Musik zu dienen, nach bestem Wissen und Gewissen, und dem Publikum Freude zu bereiten. Das sollte der höchste Anspruch sein!
Was bedeutet ein Festival wie die „Gezeitenkonzerte“ für die Musiker und Künstler? Gibt es da Rückmeldungen?
Die „Gezeitenkonzerte“ sind ein „Festival unter Freunden“! Über die vergangenen Jahre ist so eine wunderbare Künstlerfamilie gewachsen, die stetig wächst. Sokolov war bislang dreimal zu Gast, Daniel Hope und Christian Tetzlaff kommen fast jährlich, Nils Mönkemeyer, Maurice Steger oder Sharon Kam entfachen immer wieder Standing Ovations … Ich bekomme regelmäßig dankbare Rückmeldungen von den Musikern, wünsche, dass sie gerne nach Ostfriesland kommen, und nach dem Auftritt beseelt Ostfriesland wieder verlassen – bis zum nächsten Mal. Unser Publikum ist unglaublich konzentriert, kundig und enthusiastisch. Alle sind froh, vor diesem Publikum zu spielen.
Heute wird ja gerne jedes Event, wo es mehrere Konzerte gibt, als Festival bezeichnet. Muss man da nicht etwas vorsichtig sein?
Für mich ist ein Festival eine relativ kompakte Konzertfolge an einem Ort oder einer Region, in einem klar definierten Zeitraum, gegebenenfalls durch ein gemeinsames Motto verbunden. Der Name Festival klingt in meinen Ohren einfach gut, da das Wort Fest darin enthalten ist. Und Feste feiert man bekanntlich. Es ist also etwas, was sich vom Alltäglichen abhebt und das Leben signifikant bereichert.
Der Name Festival klingt in meinen Ohren einfach gut, da das Wort Fest darin enthalten ist. Und Feste feiert man bekanntlich. Es ist also etwas, was sich vom Alltäglichen abhebt und das Leben signifikant bereichert.
Was sind heute eigentlich Ziel und Aufgaben von einem Festival?
Einiges hatte ich bereits erwähnt: große Kunst erleben, Freude bereiten, aufwühlen, zum Nachdenken anregen, Horizonte (das diesjährige Motto) erweitern, unterhalten, Menschen ein gemeinsames, einzigartiges Konzerterlebnis bescheren … die Aufgabe ist also ausgesprochen vielfältig. Wie auch das Programm der „Gezeitenkonzerte“: Vom Orchesterkonzert bis hin zur intimen Kammermusik, vom Barockabend bis hin zum alljährlichen Komponistenporträt, bieten wir eine wirklich breite stilistische Palette. Außerdem veranstalten wir regelmäßig Wort/Musikprogramme mit Künstlern wie Katja Riemann, Martina Gedeck, Dominik Horwitz, Gudrun Landgrebe oder Meret Becker. Und für die Freunde des Jazz, Tango, Crossovers, Comedy präsentieren wir in diesem Jahr unter anderem die NDR Bigband, das Tingvall Trio, Ulrich Tukur & die Rhythmus Boys und Igudesman & Joo. Auch Kinderkonzerte haben wir jährlich im Programm. Wie Sie sehen, wir möchten mit den „Gezeitenkonzerten“ wirklich alle ansprechen, und das in herzlicher, nahbarer Atmosphäre zu erschwinglichen Preisen und ohne Snobismus!
Infos und Programm: www.gezeitenkonzerte.ostfriesischelandschaft.de
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können