Annalena Baerbock steht auf und geht zu dem Mann am Ende der ersten Sitzreihe. Sie beugt sich vor, legt ihm die Hand auf die Schulter. Erik Marquardt drückt die Hand der Außenministerin. Mehr geht an diesem Tag im hessischen Bad Vilbel beim kleinen Parteitag der Grünen nicht. Doch dieser Moment zwischen zwei Protagonisten im Asylstreit der Grünen ist durchaus bemerkenswert – und zeigt, was die Partei beinah zerrissen hätte.
Es geht um die europäische Einigung beim Asylkompromiss. Die EU-Innenminister hatten am 8. Juni mit deutscher Zustimmung – und damit auch mit Genehmigung von Spitzen-Grünen, allen voran der Außenministerin – Pläne für eine weitreichende Asylreform beschlossen. Vorgesehen sind zahlreiche Verschärfungen, um irreguläre Migration zu begrenzen – insbesondere aus Ländern, die als relativ sicher gelten.
Asylanträge von Migranten, die aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent stammen, sollen bereits an den EU-Außengrenzen innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt werden. Die grüne Basis reagierte mit scharfer Kritik, auch Teile der Spitze in Partei und Fraktion lehnte den Kompromiss ab.
Lasst uns heute streiten, und dann gehen wir zusammen raus, untergehakt, und kämpfen für das Richtige!
Die Delegierten diskutieren am Samstag dann intensiv, aber ohne persönliche Angriffe. Baerbock verteidigt ihre Zustimmung zu der Entscheidung und versucht, ihre Abwägungen zu erklären. „Auch mich hat es zerrissen“, sagt sie. „Meine Waage war 51 zu 49.“ Immerhin habe man nun eine Einigung gefunden, die eine bessere Verteilung von Schutzsuchenden in Europa bedeuten würde. „Wir haben im Vergleich zum Status quo eine kleine Verbesserung“, sagt Baerbock. Am Ende erhebt sich der Saal für stehenden Applaus.
Einheit der Partei erhalten
Baerbock weiß, wie wichtig das ist. Dieser Samstag in der hessischen Provinz hätte auch anders ausgehen können – was für sie als Regierungsmitglied in der Ampel-Regierung eine sehr schwere Zeit bedeutet hätte. Doch die Appelle an die Einheit der Partei wirken. Wie drückt es Grünen-Chef Omid Nouripour zu Beginn der Veranstaltung am Samstag aus: „Lasst uns heute streiten, und dann gehen wir zusammen raus, untergehakt, und kämpfen für das Richtige!“
Die Grünen folgen diesem Appell. Auch Kritiker der EU-Einigung bemühen sich, die Kritik in der Sache von den handelnden Personen zu trennen. Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt betont: „Wir haben alle Vertrauen in unser Führungspersonal.“ Man müsse aber realistisch sein. An den europäischen Außengrenzen würden Menschen systematisch entrechtet.
Auch die schleswig-holsteinische Integrationsministerin Aminata Touré wird bejubelt mit ihrer glasklaren Kritik an der Einigung. Sie ringt sichtbar um Fassung. Es gehe hier um Menschen, „Menschen wie meine Familie vor 30 Jahren“. Tourés Eltern waren nach einem Putsch im westafrikanischen Mali nach Deutschland geflohen
Kritik von der Union
Am Ende stimmt eine deutliche Mehrheit der rund 100 Delegierten für einen Antrag des Bundesvorstandes zur Asylpolitik, in den zuvor zahlreiche Änderungen von Kritikern integriert worden waren. Beispielsweise sollen Familien mit Kindern grundsätzlich nicht in Asyl-Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen kommen. EU-Staaten sollen nicht zur Durchführung solcher Grenzverfahren verpflichtet werden. „Wir wollen ein effektives Menschenrechtsmonitoring an den Außengrenzen und eine verbindliche Verteilung in den Mitgliedstaaten“, heißt es im nun angenommenen Antrag. „Dafür werden wir in enger Abstimmung zwischen Europafraktion, Bundestagsfraktion, Bundespartei und Regierungsmitgliedern kämpfen. Auch das Ergebnis werden wir gemeinsam bewerten.“
Kritik kommt von der Union: Die grüne Basis wolle „weiter mit dem Kopf durch die Wand. Sollte die Ampel auf Druck der Grünen den EU-Asylkompromiss aufweichen, isolieren sie Deutschland weiter. Unsere Partner in der EU haben verstanden, dass uns nur eine Begrenzung der illegalen Migration hilft. Das Taktieren der Grünen zeigt, dass sie im Bund eigentlich nicht regierungsfähig sind“, sagt CDU-Innenpolitiker Alexander Throm.
Nun, denkbar ist, dass das EU-Parlament noch Änderungen durchsetzt. Es hat bei der Reform ein Mitspracherecht. Doch das ist vor allem politische Theorie. Der Grünen-Antrag ist ein klassischer politischer Kompromiss. Am Ende haben alle ihr Gesicht gewahrt, ihre politischen Überzeugungen deutlich gemacht, ohne andere zu brüskieren. Das ist in diesen aufgeregten Juni-Tagen schon eine Menge.
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