* Zum Autor
Mark Leonard ist Direktor des European Council on Foreign Relations und der Verfasser von „The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict“ (Bantam Press, 2021)
Nur Tage später verkündete der ungarische Außenminister Péter Szijjártó, dass das chinesische Unternehmen Huayou Cobalt seine erste europäische Fabrik in dem kleinen ungarischen Dorf Ács errichten würde, wo es Kathodenmaterialien für die Batterien von Elektrofahrzeugen produzieren würde.
Es fällt vor dem Hintergrund der US-chinesischen Rivalität leicht, diese beiden Schlagzeilen als trivial zu verwerfen. Doch sind Kanadas und Ungarns Neigungen für diese größere geopolitische Story hochgradig relevant. Während die in Washington und Peking getroffenen Entscheidungen offensichtlich wichtig sind, bieten diese strategischen Wetten kleinerer Länder gleichermaßen bedeutsame Erkenntnisse über die Zukunft der Globalisierung.
Kanada und Ungarn gehören zu den weniger bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten der NATO. Und im Rahmen der grundlegenden Änderung ihrer strategischen Ausrichtung, die beide Länder derzeit durchlaufen, beginnen beide nun etwas unerwartet, ihre Plätze zu tauschen. Vor fünf Jahren war Ungarn das Musterbeispiel des Nationalismus und Kanada ein Vorbild für freihändlerische Globalisierung. Jetzt aber setzen Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und sein politischer Direktor Balázs Orbán (kein Verwandtschaftsverhältnis) auf eine Strategie wirtschaftlicher Vernetzung, während Kanada in die gegenteilige Richtung steuert.
Protektionismus, Entkoppelung und wirtschaftliche Autarkie
Angesichts der Diskussion über Protektionismus, Entkoppelung und Chinas Vorstellung von einer auf wirtschaftliche Autarkie ausgerichteten „Politik der zwei Kreisläufe“ argumentiert Balázs Orbán: „Falls die fragmentierte, blockgestützte Weltordnung der Zeit des Kalten Krieges wiederhergestellt wird, gefährdet das Ungarns internationale Beziehungen und Handelsstatus.“ Für ein Land, dessen Wirtschaftsmodell sich auf den Handel mit Deutschland und China und auf Öl und Gas aus Russland stützt, verheißt eine Entkoppelung nichts Gutes. Daher geht es bei der „Orbán-Doktrin“ darum, sich einen guten Platz zwischen China und den USA zu suchen, statt sich für eine Seite zu entscheiden.
Kanada andererseits war einst ein Bannerträger des Multilateralismus und der liberalen Weltordnung. Inzwischen jedoch scheint es die Vorstellung einer universalistischen Ordnung zugunsten einer Ordnung aufgegeben zu haben, die Staaten ausschließt, die nicht von seinen eigenen Werten motiviert sind. Unzweideutigste Exponentin dieser Strategie ist Freeland, die schillernde ehemalige Journalistin und derzeitige Vize-Premierministerin und Finanzministerin in Premierminister Justin Trudeaus Regierung. Während US-Finanzministerin Janet L. Yellen den Begriff „Friendshoring“ prägte, um die Privilegierung von Handelsbeziehungen mit Ländern zu beschreiben, die ähnliche Werte hochhalten, hat Freeland das Konzept viel weiter geführt und tritt nicht nur für vertiefte wirtschaftliche, sondern auch für engere gesellschaftliche und politische Beziehungen zu gleichgesinnten Ländern ein.
Laut der „Freeland-Doktrin“ sollte der Westen keine Zeit und Energie mehr darauf verwenden, den Zerfall der geopolitischen Ära, die nach dem Kalten Krieg begann, hinauszuzögern. Stattdessen sollte er beginnen, die Beziehungen zu Autokratien zu kappen und sich stärker auf die Bildung kleinerer, gleichgesinnter Gruppierungen wie der G7 konzentrieren.
Das ist nicht bloß leeres Gerede. Sowohl Ungarn als auch Kanada haben bereits begonnen, ihre neuen Agenden umzusetzen. Zusätzlich zu seiner Genehmigung der Huayou-Fabrik hat Ungarn dem Plan des chinesischen Unternehmens CATL zum Bau der nach ihrer Fertigstellung größten Batteriefabrik in Europa grünes Licht erteilt. Damit tätigt es eine große Wette auf die künftigen Wirtschaftsbeziehungen Chinas zur Europäischen Union.
Natürlich haben Kanada und Ungarn sehr wenig Einfluss auf die Gestalt der Weltordnung. Doch was die Reaktion auf die derzeit ablaufenden strukturellen Veränderungen angeht, haben sie anderen kleinen und mittelgroßen Ländern zwei radikal verschiedene Modelle vorgelegt, die diese in Betracht ziehen können. Inwieweit sich eines dieser Modelle als attraktiver erweist als das andere, wird weitreichende Folgen haben.
Das Fragezeichen über der EU
Eines der größten Fragezeichen hängt über der übrigen EU mit ihrer Bevölkerung von fast 500 Millionen Menschen und einem gemeinsamen BIP von 16 Billionen Dollar. Deutschland insbesondere wird strategische Entscheidungen treffen müssen, mit denen es den Rest des Blocks unweigerlich hinter sich herziehen wird.
Die Hoffnungen waren groß, dass Deutschlands in diesem Monat veröffentlichte mit Spannung erwartete China-Strategie Hinweise bieten würde, ob das Land den kanadischen oder den ungarischen Kurs einschlagen würde. Doch der monatelange Entwurfsprozess kulminierte in einem Dokument, das versucht, auf beiden Hochzeiten zu tanzen, indem es Freelands Grammatik und Orbáns Logik übernimmt.
Die deutsche Strategie setzt bei einer klarsichtigen Beobachtung an: „China hat sich verändert“; daher sei „eine Minderung von Risiken (De-Risking) dringend geboten“. Doch geht sie nicht annähernd so weit, sich für eine Entkoppelung auszusprechen, und überlässt es den deutschen Unternehmen – mit ihren tiefgreifenden wirtschaftlichen Interessen in China –, zu entscheiden, wie viel De-Risking angemessen sei. Das ist eine ziemliche Abkehr von einem früheren Entwurf der Strategie, der „Stresstests“ für deutsche Unternehmen mit einer Präsenz in China vorsah und es deutschen Unternehmen auferlegt hätte, ihre „China-bezogenen Entwicklungen zu benennen und zusammenzufassen“. Bedenkt man, dass zwischen 2018 und 2021 34% aller europäischen Investitionen in China auf nur vier deutsche Unternehmen entfielen – Mercedes-Benz, BMW, Volkswagen und BASF – ist das keine Kleinigkeit.
Ungeachtet des neuen Strategiepapiers bleibt sich die deutsche Politik uneins über die beiden unterschiedlichen Überzeugungen. Die Ereignisse in China und den USA werden sich zweifellos auf die Debatte auswirken und beeinflussen, welche Gruppe sich durchsetzt. Es geht dabei um viel, weil – egal welchen Weg Deutschland einschlägt – das übrige Europa oft nachzieht. Während Deutschlands ambivalente Rhetorik uns sehr wenig verrät, werden seine politischen Entscheidungen uns alles verraten. Wir werden bald wissen, für welchen Kurs es sich entschieden hat.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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