Die Stolpersteineserie
Stolpersteine sind kleine Gedenksteine, die im Straßenpflaster eingelassen sind und an die Opfer des Holocaust erinnern. Die Idee stammt von dem deutschen Künstler Gunter Demnig, der 1992 die ersten Steine in Köln verlegte. Seitdem hat sich das Projekt stetig weiterentwickelt und verbreitet. Bis heute wurden in 31 Ländern Europas 100.000 Steine (Stand 26.5.2023) verlegt, hiervon 30 Steine in Esch/Alzette. Die bewusste Platzierung im Alltagsleben erzeugt eine symbolische „Stolperfalle“, die die Passanten zum Innehalten und Nachdenken über das Schicksal dieser Opfer anregt. Das Tageblatt beleuchtet in seiner Sommerserie das Schicksal der Opfer-Familien. Nach den Familien Adler, Freymann und Nathan geht es heute um das Schicksal von Julien Cerf.
Julien Cerf kam am 24. April 1897 in Esch zur Welt. Er entstammte der ersten jüdischen Familie, die sich im 19. Jahrhundert in Esch niederließ. Julien Cerf war mit Camille Bonem verheiratet. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: die Söhne Georges und Paul. Nach der deutschen Invasion im Mai 1940 und der Evakuierung der Escher Bevölkerung nach Frankreich ließ sich die Familie in Montpellier nieder.
Infolge der Niederlage Frankreichs wurden die Juden auch hier sowohl im sogenannten „freien“ als auch im besetzten Frankreich verfolgt. Einige von ihnen nahmen vorsichtshalber einen neuen Namen an und mieden Städte mit einem hohen Anteil an jüdischen Bewohnern.
So benannte sich Julien Cerf in Julien Cernier um. Ab Ende 1942 arbeitete er als Redakteur in der Präfektur von Montpellier, innerhalb der es ein Netz von Resistenzlern gab, dem Julien angehörte. Als die Resistenzler mit einer Gruppe luxemburgischer Zwangsrekrutierter in Verbindung traten, die desertieren wollten, hatte dies verheerende Folgen. Sie wurden durch einen Landsmann, den Luxemburger Marcel Reuter, verraten. Die neun Zwangsrekrutierten wurden am 7. Februar 1944 zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen. Ebenfalls erschossen wurden zwei Soldaten der Luftwaffe sowie drei Franzosen. Zwei weitere Franzosen wurden deportiert und überlebten nicht, während vier Luxemburger zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden.
Zwangsarbeit in der Buna-Fabrik
Als Jude war Julien Cerfs Schicksal schnell besiegelt: Vom Gefängnis in Montpellier kam er nach Drancy, dem großen Sammellager bei Paris, und anschließend am 17. Dezember 1943 mit dem Transport Nr. 63 nach Auschwitz. Dort wurde er als Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen bei dem Chemiekonzern I.G. Farben eingesetzt. Wie in einer vom Fritz-Bauer-Institut organisierten Ausstellung zu erfahren ist, hatte dieser Konzern „1941 in unmittelbarer Nähe zum Konzentrationslager eine chemische Fabrik zur Produktion von Buna, einem für die Kriegswirtschaft wichtigen synthetischen Kautschuk, errichten lassen. Neben deutschen Fachkräften setzte das Unternehmen auf der riesigen Baustelle Tausende von Häftlingen aus dem KZ Auschwitz, außerdem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus ganz Europa ein“.
In seinem autobiografischen Roman „Ist das ein Mensch?“ berichtete der italienische Autor Primo Levi, der ebenfalls in diesem KZ interniert wurde, eindrucksvoll über die Buna-Fabrik. Im Durchschnitt lebte ein Zwangsarbeiter unter dieser Zweigstelle des Auschwitz-KZ nur etwa drei Monate. Julien Cerf starb an Erschöpfung am 7. April 1944, kurz vor seinem 47. Geburtstag. In der Nachkriegszeit verfasste sein Sohn Paul Cerf ein überaus informatives Buch über die jüdische Präsenz in Esch, „Les juifs d’Esch“, das als Standard-Werk zu diesem Thema gilt.
Lesen Sie auch:
– Stolpersteine in Esch (1) / Erinnerungen an die Familie Adler: von der Brillstraße 38 nach Auschwitz
– Stolpersteine in Esch (2) / Die Familie Freymann, Kaufleute aus Polen
– Stolpersteine in Esch (3) / Die Pferdehändler-Familie Nathan aus der rue de la Libération
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