„Es gibt Reisen, die man besser unterläßt, kehrt man dahin zurück, beginnt der Abschied.“ Wie ein Meteor schlägt dieser Satz ein in die Erinnerungslandschaft, die Georges-Arthur Goldschmidt in seinem nun erstmals auf Deutsch übersetzten Werk „Der unterbrochene Wald“ entfaltet. Das Büchlein, das gerade einmal 133 Seiten umfasst, erschien 1991 im Original bei Editions du Seuil unter dem Titel „La forêt interrompue“. Seine Übersetzung übernahm niemand anderes als der Nobelpreisträger Peter Handke. Die deutsche Ausgabe des Romans erscheint knapp neun Monate, nachdem der 93-Jährige mit „Der versperrte Weg“ für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.
In dieser Erzählung hatte sich Goldschmidt, dessen Texte autobiografische Züge tragen, der Figur seines Bruders zugewandt: Beschrieben wurde die gemeinsame Flucht vor den Nationalsozialisten, die die Geschwister ohne Begleitung ihrer Eltern zuerst nach Italien, dann nach Frankreich trieb. Goldschmidt schilderte ihren langjährigen Aufenthalt im Internat, ihre durch familiäre Konflikte belastete Beziehung und schließlich den Gesinnungswandel der Hauptfigur Erich Goldschmidt, der zunächst noch an seiner patriotischen Haltung und starken emotionalen Bindung zu seiner deutschen Heimat festhält, sich dann aber der Résistance anschließt.
„Nichts war vergessen“
Nachdem, wie Kritiker immer wieder feststellten, durch die Thematisierung von Goldschmidts Verhältnis zu seinem Bruder eine „Lücke“ in seinem Lebenswerk geschlossen wurde, bietet „Der unterbrochene Wald“ dem deutschsprachigen Publikum jetzt eine weniger konkrete, dafür aber umso poetisch-wuchtige Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Der Landkarte seines Gedächtnisses folgend nimmt der Autor den Leser mit auf eine Reise zu seinen „Kindheitsorten“, die, wie er nüchtern bemerkt, ihn gar nichts mehr anzugehen scheinen.
Unüberbrückbar erscheint die Distanz, die der Krieg zwischen ihm und den Städten, Dörfern und Landstriche, in denen er eine Zeitlang gelebt hatte, schuf. Paris, Reinbek bei Hamburg, Silk in Schleswig-Holstein und die spektakuläre Savoyer Bergregion sind die Zwischenhalte, die Goldschmidt in „Der unterbrochene Wald“ wie die Stationen eines Kreuzwegs abgeht und die er zugleich durch seine Erzählung miteinander verknüpft. Aufgewühlt von den Bildern, die sich ihm durch diese Bewegung neu aufdrängen, schildert er die Zugfahrt in Richtung Hansestadt und den Besuch in seinem deutschen Elternhaus nach dem Krieg: „All diese Jahre hatte er damit verbracht, die Farben, die Formen, die Zäune, die Straßen auszulöschen, welche etwas zum Wiedererkennen gewesen wären: aber: nichts war vergessen.“ Sein Leiden beschreibt er als körperlich-räumliche Erfahrung – so hätte er „den Umriß des Schmerzes mit einem Bleistift sich auf die Haut zeichnen können“ – und die Fahrt nach Norddeutschland als eine Verkehrung bzw. Verfremdung der sich eine lineare Zeitfolge auszeichnenden Wirklichkeit: „Rückwärts gleichsam, begegnete er Landschaften, die sein Vater gemalt hatte, mit langsamen Pinselstrichen.“
Ins Leiden flüchten
Goldschmidt lässt die Zeit, in der er als Geflüchteter bei französischen Bergbauern Unterschlupf suchte, ebenso Revue passieren wie die Jahre, die er im Jungeninternat verbrachte. Präzise beschreibt er das Gefühl fehlender Zugehörigkeit und latenter Bedrohung, das ihn durchweg begleitet und sich in ein alles durchdringendes Schuld- und Schamempfinden übersetzt. Dass er wie auf Stelzen gegangen sei, stellt der Autor an einer Stelle fest und führt damit auf einen Vergleich durch, der so auch in „Der versperrte Weg“ zu finden ist. Immer wieder flüchtet sich der Vertriebene in Vorstellungen, bei denen er als unbelebtes Wesen in seiner Umgebung aufgeht: So malt er sich aus, sich vollständig in den Boden einzugraben und von der Landschaft geschluckt zu werden, sich in ein Holzbrett zu verwandeln oder die Form eines Möbelstücks anzunehmen. So wäre er nicht nur sicher vor den Deutschen, die ihn suchen, sondern müsste auch keine seelischen Qualen mehr erdulden. Er würde erlöst werden von dem Schicksal, „er selbst“ zu sein – ein ewiger Fremder, der in den Augen anderer keine Lebensberechtigung besitzt.
Als Kompensation für das Ausbleiben dieser ultimativen Verschmelzungserfahrung dienen ihm die grausamen Züchtigungen durch den Aufseher und die Schuldirektorin, die ihn trotz der akuten Schmerzen ruhig und gefasst werden lassen. Immer wieder beschreibt Goldschmidt in „Der unterbrochene Wald“, wie er sich unter Ruten- oder Gürtelschlägen windet, schreit und weint, sich aber gleichzeitig seltsam erleichtert fühlt. Eben diese Beschreibungen lassen das Werk zu einem erschütternden Bericht werden, der offenbart, wie unvorstellbar tief seine durch die Verfolgung erlittene Wunde reicht und wie diese den Wunsch nach Selbstauslöschung gebärt. Dabei scheint die räumliche Umgebung, auf die der Autor immer wieder sorgfältig Bezug nimmt, eigentümlich unangetastet. Es ist schließlich der eklatante Kontrast zwischen der gleichgültig scheinenden Natur und dem akuten Leid des Schuljungen, welches das schwer verdauliche Moment dieses Werks ausmacht. Letzten Endes spiegelt die Unberührtheit des Terrains – ob städtisch oder ländlich – die überwiegende Ungerührtheit des sozialen Umfelds, das den Autor wie eine Ansammlung von Statisten umgibt, vor, während und nach dem Holocaust.
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