Generell war dieses Jahr in dieser Hinsicht so etwas wie ein Ausnahmejahr. Zum Beispiel in Venedig, durfte nämlich dort Anfang September Laura Poitras’ „The Beauty and the Bloodshed“ den Goldenen Löwen entgegennehmen. Aber auch hierzulande war beim Luxembourg City Film Festival eine Entwicklung zu beobachten: Ein „film de fiction“, der schlussendlich mehr Dokument war, gewann den Grand Prix und der Gewinner in Sachen Dokuwettbewerb war von vorne bis hinten ganz bewusst auf allen Ebenen durchinszeniert.
Inmitten von Luftschutzsirenen
Die Filmfestivals in Cannes und Venedig haben ihre Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine so formuliert, dass sie erste Filme aus dem Kriegsgebiet in ihre Programme ausgenommen haben. „Mariupolis 2“ des bei den Dreharbeiten verstorbenen Regisseur Mantas Kvedaravicius ist hier der bekannteste. Das CinEast-Festival hat den Trend weitergeführt. Einer seiner sechs abendfüllenden Dokumentarfilme des Festivals ist „One Day in Ukraine“ von Volodymyr Tykhyy. Er setzt sich aus Bildmaterial aus 24 Stunden kurz nach Kriegsbeginn zusammen. Tykhyy lässt gleich zu Beginn eine einfache Tafel einblenden, die besagt, dass der Krieg eben nicht erst einen knappen Monat zuvor ausgebrochen ist, sondern schon früher. Viel früher. 14. März 2022 – der 2944. Tag des Russland-Ukraine-Krieges. Ein Krieg, der laut Tykhyy in den gewalttätigen Konfrontationen am Maidan im Februar 2014 und damit mit der Annexion der Krim seinen Anfang hatte.
Tykhyy und seine BegleiterInnen – zwölf an der Zahl – befassen sich mit Menschen innerhalb und weit außerhalb der ukrainischen Hauptstadt, die zwischen Luftschutzsirenen und permanentem Donnern ihren Beitrag inmitten der Kriegsanstrengungen leisten. Familien, die in tiefen Metro-Stationen den Ausnahmezustand leben, eine junge Frau, die in einem Restaurant für Soldaten kocht und sich um Hunde kümmert, die Menschen hinterlassen haben, und natürlich die Männer, die die Hauptstadt und das Land vor dem Aggressor verteidigen (eine Sequenz erinnert an eine der stärksten Momente aus Sergei Loznitsas „Donbass“). Es sind weniger die Kriegsbilder als die Perspektivenwechsel, die „One Day in Ukraine“ ausmachen. Der Kriegszustand, den alle Beteiligten durchleben, ist einer, den alle früher oder später kommen sahen. Und trotz allem muss das Leben irgendwie weitergehen. Dass dabei die Grenzen von filmischer Momentaufnahme und Propaganda verwischen können, macht die Diskussion um diese tragischen Filme noch spannender.
Angst vor der Intensivstation
Bis sie vom Kriegsbeginn abgelöst wurde, war die Covid-19-Pandemie während zwei Jahren die weltweit akuteste Krise. Und auch dieser wird mit einem Film im Programm Rechnung getragen. „A Provincial Hospital“ ist die Dokumentararbeit von gleich drei bulgarischen Regisseuren – Ilian Metev, Ivan Chertov und Zlatina Teneva – über zwei Monate in einem Krankenhaus in der südwestlichen Stadt Kyustendil. Die tägliche Routine auf der Covid-Krankenstation, die, wie fast überall, immer hart am Limit ausgelastet war, steht im Mittelpunkt. Begleitet werden der Stationsarzt und sein kleines Team an Krankenschwestern sowie eine ganze Reihe von Patienten, die sich vor einem fürchten: auf die Intensivstation verlegt zu werden. Denn von da gibt es nur noch einen Weg.
Wie im ukrainischen Beitrag sind die Bilder welche, die man seit zwei Jahren in- und auswendig zu kennen scheint, sind die Situation und die Arbeitswelt im Gesundheitswesen so in den Mittelpunkt gestellt wie noch nie zuvor. Trotz seiner fast schon Wiseman’schen Trockenheit in seiner Form fängt das Regie-Team vor allem den Humanismus bei allen Beteiligten auf beiden Seiten des Covid-Wahnsinns ein und ist ein Plädoyer für eine Widerstandsfähigkeit außerhalb von medizinischen Parametern.
Familie und Menschlichkeit
Die Menschlichkeit oder der Mangel davon in Familienkonstrukten wird auf unterschiedliche Art in zwei weiteren Dokumentarfilmen thematisiert. „Every Single Minute“ von der tschechischen Regisseurin Erika Hníková begleitet die slowakische Familie Haniuliak. Vater und Mutter erziehen ihren vierjährigen Sohn nach den Regeln Kamevédas, einer nicht unumstrittenen Erziehungsmethode, die die totale Aufopferung der Eltern im Namen ihres Nachwuchses vorhersieht und sich auf eine sehr strikte Sporterziehung konzentriert. Auch hier bleibt die Kamera auf Distanz und kommentiert zu keinem Augenblick die Methoden, wohl wissend, dass es die Zuschauer des Filmes machen würden. Und tatsächlich ist der Film zum Teil nervenaufreibender als die Beiträge über den Ukraine-Krieg, was viel über einen selbst als be- und verurteilendes Paar Augen sagt.
In einer sehr armen Gegend Polens landet man im Film „The Pawnshop“ von Lukasz Kowalski. In dem riesigen titelgebenden Pfandhaus arbeitet eine sehr exzentrische Truppe, die sich mehr schlecht als recht durchs Geschäft boxt. Eigentlich wird alles verkauft. Alles. Aber auch bei den Spottpreisen geben Kunden mehr ab als das, was sie was kaufen würden. Der Betrieb steht ziemlich ständig vor dem finanziellen Ruin, doch das Team lässt sich nicht unterkriegen. So ein Kino kennt man eigentlich sonst von Hirokazu Kore-eda, der in Filmen wie „Shoplifters“ und letztens Broker Familienvorstellungen und -konstellationen neu denkt. Familie wird als fluides Konzept dargestellt. Es reicht, wenn eine Gruppe von Menschen zusammenkommt und bestimmte Facetten des Lebens gemeinsam zu meistern versucht. In der osteuropäischen Tradition schwankt der Film zwischen (bitterschwarzen) komödiantischen Situationen und existenziell traurigen Momenten hin und her.
Kruder Schulaufsatz
Leider weniger inspirierend präsentiert sich letztlich „My Favorite War“. Die autobiografische Arbeit von Ilze Burkovska Jacobsen, ein lettisch-norwegischer Animationsfilm, erzählt aus dem Leben im sowjetischen Lettland. Die Animation ist zum Teil sehr krude und die englischen Off-Stimmen, die das Publikum den Film über begleiten, lassen den ganzen Film zu einem Schulaufsatz verkommen. Wenn Bilder von den Beteiligten im letzten Drittel des Films zu sehen sind, lassen diese kalt. Weit weg ist man von den Höhepunkten dieser Art wie „Persepolis“, „Waltz with Bashir“ oder „Flee“.
Der letzte Film der Dokumentarfilm-Auswahl des CinEast ist einer der spannendsten bisweilen. „The Visitors“ von Veronika Lisková verfolgt eine Anthropologin mit ihrem Mann und drei Kindern fast bis zum Nordpol, nach Svalbard, dem nördlichsten von Menschen besiedelten Gebiet der Erde. Zu Beginn will sie dort wissenschaftliche Recherchearbeit über das gemeinschaftliche Leben dort machen. Dann stellt sie sich die Frage, wie sie sich vor Ort selbst in dieses Leben einfügen kann, statt nur zu beobachten. Doch genau da stößt die tschechische Familie an die Grenzen des gesellschaftlichen Miteinanders und des norwegischen Sozialstaates.
Es ist in erster Linie ein Film über den Klimawandel, aber schlussendlich schmilzt nicht nur der Permafrostboden unter den Füßen der ProtagonistInnen in Svalbard. Der Wandel ist viel umfangreicher. Das Inseldasein und die zum Teil sehr subtilen und schlussendlich weitaus perfideren sozialen Ungerechtigkeiten, mit denen sich Ausländer im norwegischen Svalbard konfrontiert sehen – eigentlich darf alles und jeder dorthin, ohne Visa, solange man einen Arbeitsplatz und einen festen Wohnort vorzeigen kann – sind Luxemburg in dieser Hinsicht alles, nur nicht fremd. Ein auf dem Papier märchenhaftes Fallbeispiel, dessen Parallelen zum Leben alles andere als am Rand der Welt sehr ähnlich ist. Gespenstisch auf sehr vielen Ebenen.
Das CinEast findet noch bis zum 23. Oktober statt.
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