* Zum Autor
Arvind Subramanian ist Senior Fellow der Brown University und Distinguished Non-resident Fellow am Center for Global Development. Er ist der Verfasser von „Of Counsel: The Challenges of the Modi-Jaitley Economy“ (India Viking, 2018).
Unser von den sozialen Medien angetriebenes Nachrichten-Ökosystem ertränkt uns praktisch in Expertenmeinungen und überschwemmt uns mit derart viel Blabla, dass kaum Raum bleibt für durchdachte Analysen und fokussierte Debatten – den Sauerstoff eines gesunden öffentlichen Diskurses.
Man betrachte etwa, wie schnell und häufig sich der Expertenkonsens während der Covid-19-Pandemie verschob. China leistete viel bessere Arbeit bei der Eindämmung des Virus als viele freiheitliche Demokratien, bis seine drakonische Null-Covid-Strategie das Versagen der Autokratie deutlich machte. Und trotz steil gestiegener Infektionszahlen in den Wochen seit Chinas abruptem Strategiewechsel ist es weiterhin möglich, dass das Land eine geringere Covid-bedingte Übersterblichkeit aufweisen wird als die USA. Andere haben argumentiert, dass es polarisierten Gesellschaften wie den USA viel schlechter ergehen würde als Ländern mit einem hohen Maß an gesellschaftlichem Vertrauen – bis sich Schweden als abschreckendes Beispiel erwies. Und die Entwicklung in Indien galt als relativ gut, bis die katastrophale Zahl der Todesopfer der Deltavariante das Ausmaß staatlichen Missmanagements aufzeigte – und auch Letzteres nimmt sich nach der erfolgreichen Impfkampagne des Landes im Nachhinein als weniger schwerwiegend aus.
Von „Polycrisis“ zu „Poly-Recovery“
Dann ist da die große Inflationsdebatte in den USA. Zunächst schien es, dass „Team Transitory“ – jene, die prognostizierten, die Preise würden rasch wieder sinken – richtig lag. Doch dann gab die anhaltend hohe Inflation jenen recht, die die Federal Reserve aufgefordert hatten, zur Wiederherstellung der Preisstabilität eine massive Rezession herbeizuführen. Inzwischen ist es wieder umgekehrt, da die Inflation zurückzugehen scheint, ohne dass die Fed den US-Arbeitsmärkten übertriebene Schmerzen hätte zufügen müssen.
Russlands Invasion in der Ukraine, die steil steigende Inflation und die sich verschärfende Rivalität zwischen den USA und China haben uns den Begriff „Polycrisis“ beschert, den die Financial Times zum Wort des Jahres gekürt hat und der das heutige Zusammenspiel der Katastrophen beschreibt. Doch scheint die Weltwirtschaft zumindest für den Moment dem Schlimmsten entgangen zu sein, und der Internationale Währungsfonds erwartet, dass das Wachstum im nächsten Jahr wieder steigt. Die Zeitschrift The Economist spricht nun von einer „Poly-Recovery“ – einer Erholung an vielen Fronten. Auch die düsteren Prognosen vom Frühjahr und Sommer 2020 – dem Höhepunkt der Covid-Krise – haben sich nicht bewahrheitet, und die Weltwirtschaft erwies sich als resilienter als von vielen erwartet.
Und man denke an die Warnungen vor einem „Winter der Unzufriedenheit“ in Europa und vor der Drohung kriegsbedingter Energierationierungen. Stattdessen sind die Gaspreise seit dem Sommer stetig gefallen. Und viele der Analysten, die vor ein paar Monaten einen Zusammenbruch der chinesischen Volkswirtschaft prognostizierten, erklärten nur Wochen später: „China ist zurück.“
Die aktuelle Wetterwendigkeit des Expertenkonsenses wurzelt in einem Medienumfeld, das sofortiges Theorisieren und leichthin geäußerte Generalisierungen belohnt, solange sie mit absoluter Sicherheit vorgetragen werden. Wenn die Realität die Fehler in diesen Hypothesen aufdeckt, zieht die Expertenkarawane ohne Selbstreflexion oder Rechenschaftspflicht einfach zum nächsten Thema weiter und lässt Betrachter und Leser perplex zurück.
Sicherlich sind Expertenmeinungen trotz ihrer zunehmend flüchtigen Beschaffenheit nach wie vor nützlich. Doch bevölkern die Experten denselben Planeten wie alle übrigen und sind daher nicht immun gegen die kognitiven Auswirkungen dieses wilden Tempos. Da Einrichtungen wie der IWF die Aufgabe haben, in einem sich rapide wandelnden Umfeld Echtzeitanalysen und -prognosen abzugeben, sind Fehleinschätzungen oder der Zwang, seine Meinung von heute auf morgen zu ändern, ein Berufsrisiko. Und man kann argumentieren, dass diese Warnungen und Blitzanalysen womöglich für politische Maßnahmen verantwortlich sein könnten, durch die das Schlimmste vermieden wurde. Wenn man wie ein Wolf heult, kann das manchmal den echten Wolf fernhalten.
Zu viele Prognosen
Trotzdem ist unbestreitbar, dass es heutzutage zu viele gar zu sehr von sich überzeugte Experten gibt, die zu schnell zu viele Prognosen zu allzu vielen Themen anstellen. Es ist an dieser Stelle nützlich, sich an ein wirtschaftliches Grundprinzip zu erinnern: Der 24-Stunden-Nachrichtenzyklus hat einen enormen Bedarf an Expertenmeinungen geschaffen und der Markt hat schlicht das Angebot zu dieser wachsenden Nachfrage hervorgebracht.
Doch eine Korrektur ist nötig. Als er 1974 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, schlug Friedrich von Hayek seinen Mitpreisträgern vor, einen hippokratischen Eid für Ökonomen abzulegen: Sie sollten davon absehen, öffentlich Fragen zu kommentieren, die über ihr unmittelbares Fachgebiet hinausgingen. Einen derart prestigeträchtigen Preis zu gewinnen, sagte er, sollte mit einer gewissen Verantwortung einhergehen. Dasselbe ließe sich von allen gegenwärtigen Vertretern der Meinungselite sagen.
Auch wenn es vielen Experten und Intellektuellen unattraktiv erscheinen mag, ihr öffentliches Profil zu reduzieren, ist dies die einzige Möglichkeit, eine Entwertung des öffentlichen Diskurses zu vermeiden. Ohne ein Minimum an Selbstbescheidung könnte der ständige Strom spontaner Wortmeldungen letztlich jene informierte Debatte aushöhlen, die allen offenen Gesellschaften zugrunde liegt. In Anlehnung an Ludwig Wittgenstein lässt sich sagen: Worüber man nach reiflicher Überlegung nichts Substanzielles sagen kann, darüber muss man schweigen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
"Experte" wird in manchen Medien arg strapaziert. Es wäre hilfreich die Fachkompetenz desjenigen zu nennen den man als Experten betitelt, allein schon um dem journalistischen "Ignoranz-Gipfel" ein Schnippchen zu schlagen.