Es ist aber nicht das einzige Konzert, das Kissin seiner Übermutter und einzigen Lehrerin widmet. Seit Monaten spielt er in den großen Konzertsälen zu ihrem Andenken. Frau Kantor und Kissin hatten dann auch ein sehr enges, fast symbiotisches Verhältnis; die Pädagogin lebte darüber hinaus seit 30 Jahren mit Kissin und seiner Mutter zusammen in einer Wohnung, sodass beide immer ein Augenmerk auf den Musiker hatten, den sie, wie böse Zungen behaupten, selbst erschaffen hatten.
Jedes seiner Konzerte wird von den beiden Damen begleitet und viele sprechen bei Kissin demnach von einem typisch russischen Produkt. Seit seinem sechsten Lebensjahr wurde Kissin von Frau Kantor unterrichtet, geführt und zur technischen Perfektion gedrillt.
Mir persönlich tut er immer leid, wenn ich ihn auf der Bühne sehe. Dieses gequälte, aufgesetzte Lächeln sagt alles. Und es sagt nichts. Kissin, das pianistische Genie, ist dem Publikum ebenso weit entfernt, wie der andere große Pianist dieser Welt, der einzigartige Grigori Sokolov. Beide scheinen in ihrer eigenen Welt zu leben. Es scheint nur Musik für sie zu geben. Vielleicht ist diese Isolation der Preis für das Geniale.
Kissin jedenfalls kommt ohne Publicity, Marketing und Skandale aus. Genau wie Sokolov existiert er für das Publikum scheinbar nur am Klavier. Und das, was das Publikum dann in diesem Konzert in der ausverkauften Philharmonie erlebte, war einfach sensationell, genial, perfekt und sehr individuell.
Die Amfortas-Wunde
Kissin begann sein Konzert mit Bachs berühmter Toccata und Fuge BWV 565, allerdings in der Bearbeitung von Carl Tausig. Tausig, der von 1841 bis 1871 lebte, also nur dreißig Jahre alt wurde, war ein polnischer Pianist, Komponist und Pädagoge. Als Musiker war er sehr von Liszt geprägt, dessen Schüler er war. Carl Tausig machte sich vor allem durch seine hochkarätigen und originellen Bearbeitungen einen Namen.
Kissin wusste dann auch die Genies von Bach und Tausig mit seinem eigenen zu verbinden, sodass das Publikum eine hochvirtuose, in jedem Moment packende und außergewöhnliche Interpretation von Bachs BWV 565 erlebte.
Jetzt war das Publikum gefangen und bereit für eine grandiose Interpretation von Mozarts Adagio h-moll. Kissin ist erst spät zu Mozart gekommen, scheint die Frische und Lieblichkeit seiner Musik übersprungen zu haben, um jetzt in ungeahnte Welten vorzudringen.
Mozarts wunderschönes Adagio wurde von Kissin quasi innerlich zerrissen, die melodische Linie zum Teil aufgelöst, ja regelrecht zerhackt und mit atonalem Gestus angereichert. Kissin schlug Mozart hier eine Wunde und vielleicht offenbarte er uns damit seine eigene, die ihm der Tod von Anna Pavlovna Kantor selbst geschlagen hatte. Eine Amforts-Wunde?
Auch zu Beethoven ist Kissin erst spät durchgedrungen, sodass auch seine Interpretation von der Klaviersonate Nr. 31 op. 110 zu einem atemberaubenden Hörerlebnis wurde. Die Zerrissenheit, die das Publikum bereits bei Mozart erlebt hatte, wurde hier weitergeführt und genauso wie bei Mozart erreichte Kissins Vision bei Beethoven eine Tiefe, die ich vorher so noch nie gehört hatte. Alleine der Übergang vom zweiten Satz zur Fuge des dritten war unbeschreiblich; die gesamte Sonate war von einer meisterlichen Rhetorik und einer kontemplativen Aussage geprägt, wie ich sie nur in ganz wenigen Konzerten gehört habe. Kissin brachte mit seinem Spiel beide Komponisten sogar in die Nähe des 20. Jahrhunderts. Danach war dann eine Pause nötig, denn auf diesen musikalischen Schock war wohl niemand vorbereitet gewesen.
Poetisch-musikantischer Chopin
Nach der Pause betraten wir dann eine ganz andere musikalische Welt. Mit einer Auswahl von sieben Mazurken von Frédéric Chopin zeigte Kissin, dass er auch hier ein Wörtchen mitzureden hat. Seine Interpretationen waren meilenweit von den plakativen Showeffekten eines Lang Lang entfernt, im Gegenteil, in jeder Note trafen sie die Essenz der Musik. Und obwohl diese tänzerischen Miniaturen nicht unbedingt „große“ Musik sind, so machte sie doch Kissins Spiel dazu.
Tiefe, Ernsthaftigkeit und ein untrügliches Gefühl für das Wesentliche verbanden sich mit einer interpretatorischen Schlichtheit und einer wunderbar schwungvollen und musikantischen Poesie. Den Abschluss machte dann die berühmte Grande Polonaise brillante précédée d’un andante spianato op. 22, die noch einmal die Genialität und Perfektion von Jewgenij Kissin unter Beweis stellte.
Auch hier keine Augenwischerei, sondern ein wunderschön ausgesungenes Andante, dem eine brillant-virtuose und kunstvoll gespielte Polonaise folgte. Der Jubel des Publikums kannte keine Grenzen, sodass sich der immer noch gequält lächelnde Meisterpianist mit zwei Zugaben, Bachs Choral „Nun kommt der Heiden Heiland“ BWV 659 in der Bearbeitung von Ferruccio Busoni sowie Mozarts Rondo in D-Dur KV 485 verabschiedete. Ob er wohl glücklich gewesen ist?
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