Der 6. Mai 1976 sollte sich unauslöschlich in das Gedächtnis der Bewohner der nordöstlichen Regionen Italiens einbrennen. Denn an diesem Tag, um genau 20:59 Uhr, erbebte die Erde mit solcher Stärke, dass etwa 20 Orte im Friaul größtenteils zerstört wurden. Häuser sackten in sich zusammen, Bäume fielen krachend um, Menschen und Tiere starben. Die Erdstöße waren so heftig, dass eine neue Landschaft durch sie geschaffen wurde: Wege, Flussbetten, Senken und Hügel ordneten sich untereinander neu wie Zahlen und Figuren in einem Kartensatz.
„Ich hatte keine Angst, nur so ein Gefühl, ganz fremd, fremd und groß, als wäre es das Ende aller Tage“, sagt eine Figur in Esther Kinskys neuem Roman „Rombo“. Es sind Sätze wie diese, die nach der Lektüre des Buchs hängenbleiben, weil sie das Unvorstellbare mit Worten umreißen, ohne ihm seinen ins Numinose spielenden Schrecken zu nehmen. Das Erdbeben halten die Opfer im ersten Moment für den All-Untergang, die Apokalypse, dann erscheint sie den Überlebenden wie eine Zäsur, bei der das Davor und das Danach getrennt sind wie zwei auseinanderstrebende Kontinente, die ein Ozean trennt.
Die Natur als Zeuge des Wandels
Wie gestaltet sich Jahrzehnte später das Erinnern an diese Katastrophe? Und was spielt sich vor, während, und nach dem Beben in der Natur ab? Die Gebirgslandschaft steckt voller Leben, so viel ist klar, aber auch ihre radikale Veränderlichkeit und ihr Durchdrungensein vom Tod sind Aspekte, die sie in ihrer faszinierenden Urwüchsigkeit bestimmen. Diese Facetten zu erforschen, mit einer Sprache so vielfältig und strahlend wie eine Farbpalette, ist die große Kunst der im Rheinland geborenen Autorin. Es macht ihren Roman über das Drama im Friaul trotz seiner relativen Knappheit – 260 Seiten umfasst das Werk – zu einer der großen Erzählungen über das Über- und Miteinanderleben von Mensch und Natur im Ausnahmezustand.
Silvia, Toni, Mara, Gigi, Anselmo, Olga und Lina heißen die Figuren, die in „Rombo“ zu Wort kommen. Von einer nicht näher definierten Person nach dem nun weit zurückliegenden Erlebnis befragt, geben sie Auskunft über die Zeit vor und nach dem großen Erdbeben. Abwechselnd gleiten die Ich-Erzähler in die Vergangenheit zurück und rekapitulieren ihren Tagesablauf an diesem schicksalsbeladenen Tag im Mai, an dem eine außergewöhnliche Hitze herrschte, an dem die Tiere sich nicht wie üblich verhielten, an dem eine tote Carbon-Schlange – ein schlechtes Omen – mitten auf der Straße lag.
Wie sich der Monte Canin als fast allgegenwärtiger Orientierungspunkt für die dort lebenden Menschen entpuppt, sind es die von der Autorin motivisch eingesetzten Naturerscheinungen, an denen sich diese persönlichen Berichte entlanghangeln. Sie dienen als Wegmarken der Erinnerung, denn es ist das, was in „Rombo“ an sich reflektiert wird: das Erinnern. Das Terrain, die natürliche Umgebung und auch die von Menschenhand errichteten Stätten dienen dabei als das Gedächtnis des sich auf ihm bzw. in ihnen fortbewegenden Individuums, denn in ihre Materie gravieren sich die Veränderungen langfristig ein. An einer Stelle schreibt Kinsky: „Wie ein Trugbild der Lieblichkeit liegt dann die Alm am Ende dieser ersten Strecke, von schroffen Felsen umringt, wie von bestellten Verwehrern des Horizonts, denen man die Stauchungen und Erschütterungen ansieht, die Versehrungen, die ihnen ihre Form verliehen haben.“ Hier wird deutlich, wie Umbrüche und Übergänge als Teil der sich ständig wandelnden Natur an der Gestalt des Steins ablesbar bleiben.
„Damit hat sich alles verändert“
Und wie steht der Mensch zu seiner Erinnerung, was bedeutet sie für ihn? Auf diese Frage versuchen die einzelnen Figuren, eine eigene Antwort zu geben. „Die Erinnerung, das sind wir selbst“, bemerkt Olga. Eine Aussage, die umso größeres Gewicht erhält, je mehr man von der familiären Situation der Protagonisten erfährt. Anselmos Großmutter wird im Verlauf der Handlung immer vergesslicher, Mara pflegt ihre demente Mutter. Es ist ein Schicksal, das viele ältere Frauen im abgeschiedenen wie ärmlichen Bergdorf ereilt: das Abgleiten in die große Vergesslichkeit.
Ihre zu einer Tabula rasa werdenden persönliche Erinnerungslandschaft steht somit in Parallele mit dem großen Wandel, der die Zerstörung durch das Erdbeben für alle dort Lebenden mit sich bringt. Monatelang müssen die Dorfbewohner in Zelten schlafen, während sie mit dem Aufbau beschäftigt sind; nach dem zweiten Erdbeben im Herbst desselben Jahres werden dann viele der nun (wieder) obdachlos Gewordenen endgültig umgesiedelt. Ihnen werden anderswo vom Staat Fertighäuser zur Verfügung gestellt, andere wiederum ziehen ans Meer oder kommen bei Verwandten in einer anderen Gegend oder gar im Ausland unter. „Der Anfang von einem neuen Leben war also nicht die Hochzeit, sondern das Erdbeben. Damit hat sich alles verändert bei uns im Tal“, hält die 50-jährige Lina fest, die auf ihr Leben als junge, frisch verheiratete Frau zurückblickt.
Auszüge aus geologischen Abhandlungen aus dem 19. Jahrhundert, eingeschobene folkloristische Erzählungen, Aufzählungen von alten Hypothesen und Glauben über die Entstehung der Gebirge sowie die nüchterne Beschreibung von als „Fundstücken“ bezeichneten Fotografien verleihen Kinskys Roman einen dokumentarischen Charakter; mit den fiktionalen Augenzeugen-Berichten und den immer wieder auftauchenden, wundervoll wortgewaltigen Naturbeschreibungen erscheint das Werk wie eine umfangreiche, qualitativ äußerst hochwertige Arbeitsmappe, ein reizendes Work in progress, genauso unfertig und teils neu sortierbar wie die Natur, die sie thematisch umkreist. So visiert die Handlung in „Rombo“ auch keinen konkreten Endpunkt an, sondern bleicht nach der Schilderung des zweiten Erdbebens wie eine sich im Schutt verlaufende Fußspur stückweise aus. Mit dem Roman hat Kinsky einen ergreifenden Text geschaffen, an dem man sich dank seiner stilistischen Raffinesse wohl kaum satt lesen wird.
Autorin mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet
Der diesjährige Kleist-Preis ging an die im Jahr 1956 geborene Schriftstellerin Esther Kinsky. Über den Gewinner des mit 20.000 Euro dotierten Preises entscheidet stets eine einzige, von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft ausgewählte Person. Dieses Jahr fiel deren Wahl auf den Autor und Kritiker Paul Ingendaay. „Esther Kinsky hat ein literarisches Werk von beeindruckender stilistischer Brillanz, thematischer Vielfalt und eigensinniger Originalität geschaffen“, schrieb er in seiner Begründung. „Den Erdbewegungen und der Geologie, der Tier- und Pflanzenwelt gilt eine Aufmerksamkeit, die ungewöhnlich ist, sich aber keineswegs im populären Begriff des ,Nature writing‘ erschöpft.“ Kinsky wurde schon mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018.
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